Ich gestehe, dass ich Adania Shiblis prämiertes Buch Eine Nebensache nicht gelesen habe. Die Konfrontation war mir auch lange Zeit entgangen, bis ich über Facebook von Carsten Otte darauf aufmerksam geworden wurde. Grob gesagt wirft man der Autorin vor, anhand einer wahren Begebenheit aus dem Jahr 1949 über ein vergewaltigtes Beduinenmädchen durch eine israelische Armee- oder Polizeieinheit antisemitische Klischees erfüllt zu haben. Das Buch wurde von der Litprom mit dem »LiBeraturpreis« ausgezeichnet. Wenig Echo fand damals, dass ein Juror aus Protest gegen die Entscheidung der Jury diese verlassen hatte. Die Autorin sollte nun auf der Frankfurter Buchmesse den Preis erhalten. Mit dem furchtbaren Terrorakt der palästinensischen Hamas am 7. Oktober bekam die Diskussion eine neue, aktualisierte Wendung, die durch einzelne Interventionen aus dem Betrieb aufgenommen wurden.
Litprom hatte nicht zuletzt aufgrund von Sicherheitsbedenken die Preisvergabe, die auf der Buchmesse stattfinden sollte, wie auch eine Diskussion mit dem Übersetzer Günther Orth verschoben bzw. das Gespräch abgesagt. Dafür veranstaltete der unter anderem von Deniz Yücel vor einigen Jahren gegründete neue Deutsche PEN auf der Buchmesse eine Lesung aus dem Buch und setzte sich vehement dafür ein. Mehrere Kritiker, darunter Andreas Platthaus und Iris Radisch, verteidigten ebenfalls den literarischen Wert der Erzählung (irgendwo gab es auch die inflationäre »Meisterwerk«-Floskel).
Für manche verstörend ist, dass die Autorin sich der Kritik nicht stellt. Man erfährt, dass ein zugesagtes Interview mit der ZEIT nicht publiziert wurde; politische Fragen zur Hamas und ihrer Positionierung im Konflikt habe Shibli, wie es heißt, abgelehnt und, auch das ist interessant, selbst diese Weigerung sollte nicht veröffentlicht werden. Aber das muss man – ob es einem passt oder nicht – als legitim akzeptieren. Geht es nicht vordergründig um das Buch?
Den Gerüchten um eine Unterstützung der Autorin der BDS-Bewegung ging (ebenfalls in der taz) Julia Hubernagel nach. Die Sache bleibt eher diffus. Immerhin fand Hubernagel eine Stellungnahme Shiblis zur Teilnahme Israels auf dem Toronto Film Festival von 2009 in einer »hisbollah-nahen libanesischen Zeitung«. Shibli wünsche sich, so die taz-Autorin »jemand möge etwas tun, ‘um die israelische Teilnahme dort nicht friedlich über die Bühne gehen zu lassen’ «. Auch der Titel von Shiblis Abschlußarbeit an der Hebrew-University in Jerusalem sorgt für Erstaunen: Discourse, power, and media coverage of the killing of Palestinian children by the Israeli Army (vielleicht sollte man den Text einmal lesen).
So weit, so konfrontativ. Während der PEN Berlin einer Trennung von Werk und Autorin das Wort redet, fischen andere in essayistisch-journalistischen Textgewässern Shiblis. Besonders interessant finde ich aber eine andere Facette. Es gibt nämlich einen Offenen Brief, der auf dem Portal Lit Hub veröffentlicht wurde (Verlinkungen in gängigen deutschen Medien findet man allerdings nicht). Insgesamt sollen mehr als 600 Menschen diesen Brief gezeichnet haben, darunter Buchhändler, Autoren (auch Eva Menasse, die an der PEN-Veranstaltung auf der Buchmesse mitgemacht hatte), Lektoren und Journalisten. Als besondere Zugabe finden sich auch die Unterschriften von gleich drei Literaturnobelpreisträgern: Olga Tokarczuk, Abdulrazak Gurnah und Annie Ernaux (letztere hatte mehrfach in der Vergangenheit BDS-Aufrufe unterstützt).
Liest man den als Protest verfassten Brief genau, kommt man aus dem Staunen nicht mehr heraus. Die Unterzeichner kritisieren, dass Preis und Diskussion nicht auf der Buchmesse stattgefunden haben und konstruieren hieraus eine Art von »Cancel-Culture«. Sicher ist es nicht die feine Art, diese Verlegungen ohne Rücksprache mit der Autorin getroffen zu haben, aber man kann sich sicherlich schlimmere Dinge vorstellen. Der Text ist an Absurdität kaum zu überbieten. So, als hätten die Unterzeichner ein Recht, über sicherheitsrelevante Erwägungen im Rahmen einer Messe-Veranstaltung mitsprechen zu können. Der Preis wurde/wird ihr nicht aberkannt. Von einer Unterdrückung einer palästinensischen Stimme kann indes keine Rede sein. Der Verlag war präsent, es gab die PEN-Veranstaltung und die Feuilletons diskutieren. Man kann diesen Offenen Brief nur als eine böswillige Engführung der Debatte sehen.
Leider (oder eher glücklicherweise) habe ich nach all dem weiterhin keine Lust, dieses Buch zu lesen.