Joseph Torrence, Ex-Inspektor der Pariser Kriminalpolizei und ehemaliger Mitarbeiter von Kommissar Maigret, Mitte 40, »ein unbekümmerter Riese…sehr gepflegt und gut genährt« ist jetzt der Chef einer der »berühmtesten Privatdetekteien der Welt«, der »Agence O«. Ihm zur Seite steht der junge, sommersprossige Rotschopf Émile, der als Fotograf fungiert, der Bürodiener und ehemalige Taschendieb Barbet sowie die Sekretärin Mademoiselle Berthe. Das Büro liegt fast ein bisschen konspirativ gegenüber von einem Musical-Theater, über dem Friseursalon »Chez Adolphe« in der Cité Bergère in Paris.
Georges Simenon hat binnen sehr kurzer Zeit vierzehn Erzählungen über die »Agence O« verfasst, die 1943 bei Gallimard veröffentlicht wurden. 1968 wurden für das französische Fernsehen zwölf Episoden der »Agence O« verfilmt (Regie führte Simenons Sohn Marc), die 1971 in der ARD unter dem Namen »Agentur Null« ausgestrahlt wurden.
Sechs Erzählungen sind jetzt unter dem Titel »Aus den Akten der Agence O« im Kampa-Verlag aufgelegt worden, wobei nur »Der Mann hinter dem Spiegel« von Sabine Schmidt übersetzt in einer inzwischen vergriffenen Anthologie bereits erschienen war. Die anderen fünf Erzählungen, von Susanne Röckel übertragen, gibt es zum ersten Mal in deutscher Sprache. Die weiteren acht Erzählungen mit Abenteuern der »Agence O« sollen zu einem späteren Zeitpunkt erscheinen.
Jede Erzählung umfasst jeweils rd. 50 bis 60 Seiten und hat oft moritatenhafte Kapitelüberschriften. Daniel Kampa weist in seinem Nachwort zu Recht darauf hin, dass sie im Gegensatz zu den psychologisch ausgefeilten Roman dur aber auch den Maigret-Krimis mit für Simenon unüblichem Humor, ja manchmal sogar Heiterkeit geschrieben sind. Der besondere Running Gag besteht darin, dass Torrence, der ehemalige Kollege von Maigret, nach außen der »große« Detektiv und Inhaber der »berühmten« Agentur ist, in Wirklichkeit jedoch Émile das Gehirn der Detektei ist. Um den Schein zu wahren, spricht Émile Torrence immer mit »Chef« an (nur wenn sie unter sich sind, ändert sich das bisweilen) und lässt Torrence allen Ruhm der gelösten Fälle zukommen.
Die Methoden der Agentur sind häufig unorthodox. Als Barbet einem Verdächtigen mit dem Auto folgen soll und bemerkt, dass er sein Wagen kein Benzin mehr hat, weist er seinen Taxifahrer an, den Wagen des zu Observierenden zu rammen, damit sein Beobachtungssubjekt nicht entkommen kann. Wenn nötig, stiehlt man auch schon einmal ein Beweisstück, dringt in verschlossene Räume ein oder gibt sich am Telefon als Polizei aus. Torrence kann den funkelnden Gedankenblitzen Émiles oft nicht folgen (wie bisweilen auch der Leser). Kampa negiert Parallelen zu Sherlock Holmes und Watson, obwohl einem diese in den Sinn kommen. Torrence, wie Maigret Pfeifenraucher, ist ähnlich zu Dr. Watson manchmal etwas begriffsstutzig. Émile, dessen Markenzeichen die nicht angezündete Zigarette im Mund ist (die er im Verlauf des Geschehens auch schon einmal aufisst), erinnert zeitweise trotzdem an Holmes. Er antizipiert Entwicklungen, kommt zu deduktiven Schlüssen und handelt dabei, falls notwendig, sofort und intuitiv. Torrence geht das dann zu schnell: »All das hat mit den guten alten Methoden, die er gewohnt ist, so wenig zu tun!« Denn als »würdiger Schüler Maigrets liebt er Ermittlungen, in denen man mit Starrköpfigkeit und gelegentlicher Härte weiter kommt als mit Scharfsinn.«
Aber die Agentur ist erfolg- und auch ertragreich. Émile klärt einen Juwelendiebstahl, überführt einen Mörder anhand von Schnürstiefeln, versteckt einen Safeschlüssel, der ein Verbrechen aufklären wird in einem Benzinkanister, damit er nicht in die falschen Hände kommt, hilft einem eigentlich rettungslos verlorenen Mordverdächtigen, klärt einen Doppelmord in einem Dorf auf und schlichtet diplomatische Verwicklungen. Manchmal erweisen sich die Auftraggeber als zwielichtig, manchmal gibt es keine Aufträge, sondern Émile ermittelt einfach aus Interesse (etwa wenn er Morsezeichen in einem Café von Stöckelschuhen einer Frau hört). Konflikte mit der Polizei sind natürlich vorprogrammiert; und wie gehabt steht deren Apparat oft genug als zweiter Sieger dar.
Die intellektuelle Brillanz von Holmes hat Émile nicht, aber dafür geht es gegen Ende oft genug turbulent zu; manchmal nahezu chaotisch. Die Lösungen von zwei Erzählungen überzeugen nicht ganz. »Der Mann hinter dem Spiegel«, »Die Verhaftung des Musikers« und die letzte Geschichte, »Der Mann mit dem Drehbleistift«, fesseln bis zum Schluss – insbesondere die Szene in den letztgenannten Erzählung, in der Émile in einer stark besuchten Hotellobby drei Personen gleichzeitig in Schach halten muss. »Wegen solcher Minuten hat er auf die Marine und auf alle vorstellbaren beruflichen Laufbahnen verzichtet, um zur treibenden Kraft der Agence O zu werden.« Und wegen solcher Erzählungen verzichtet man gerne auf zeitgenössische 08/15-Krimis. Und macht es sich mit Torrence und Émile gemütlich.