Si­sy­phos auf dem Pla­teau ‑4/8-

Ein­blicke in die Aben­teu­er ei­nes be­frei­ten Le­sers

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No birth no death! (Arashiyama) © Leopold Federmair

No birth no de­ath! (Aras­hi­ya­ma) © Leo­pold Fe­der­mair

Ich weiß nicht, ob ich mich freu­en soll über die neue Lang­sam­keit, zu der ich im wirk­li­chen Le­ben seit ei­ni­gen Mo­na­ten ge­zwun­gen bin, oder ob ich wü­tend sein soll über mei­nen Kör­per, der bei dem manch­mal doch ge­wünsch­ten Tem­po nicht mit­macht. Be­son­ders bei Stei­gun­gen, und noch mehr, wenn Trep­pen zu über­win­den sind. Im­mer­hin, ich ha­be es bis hier­her ge­schafft, ein klei­ner Auf­stieg zu den An­hö­hen über dem Tal von Aras­hi­ya­ma, wo tief un­ten der grü­ne Fluß fließt und sich sel­ten ein Tou­rist blicken läßt. Den be­rühm­ten Bam­bus­hain auf der an­de­ren Sei­te ha­be ich ge­mie­den – sol­len sie sich dort drän­gen. Die­ser Hain mit sei­nen ho­hen und schlan­ken, zum Spitz­bo­gen zu­sam­men­lau­fen­den Bäu­men ist schön, aber viel zu klein für sol­che Men­schen­mas­sen: die mil­lio­nen­fach ver­brei­te­ten Fo­tos ver­ra­ten das Miß­ver­hält­nis nicht. Hier oben bin ich vor ei­nem Jahr ge­we­sen, am 2. Jän­ner, es war ge­nau­so warm wie heu­te, gu­tes Schreib­wet­ter, und ha­be Faul­k­ner ge­le­sen, ich sag­te es schon. Da­mals bin ich noch ein gu­tes Stück wei­ter berg­auf­wärts ge­lau­fen, aber nach­dem ich mehr­mals Wild­schwei­ne in mei­ner Nä­he grun­zen hör­te, mach­te ich kehrt. Die Ge­gend hier spielt in Ju­ni­chi­ro Ta­ni­zakis Ro­man Sa­sa­mey­u­ki ei­ne Rol­le, Die Schwe­stern Ma­ki­o­ka (die deut­sche Über­set­zung ist nicht gut und schon lan­ge ver­grif­fen); der schön klin­gen­de ja­pa­ni­sche Ti­tel be­deu­tet »leich­ter Schnee­fall« (den es im Win­ter in Kyo­to manch­mal gibt). Die Fa­mi­lie Ma­ki­o­ka, vier Schwe­stern, glau­be ich mich zu er­in­nern, ver­bringt ei­nen Sonn­tag bei der Kirsch­blü­ten­schau, mit Fla­nie­ren und Spei­sen und Trin­ken und Sich-der-Welt-und-des-Le­bens-Er­freu­en. Un­ten bei der lan­gen Brücke, wo der Fluß ziem­lich in die Brei­te geht und viel wei­ßes Ge­röll in sei­nem Bett zu se­hen ist. Ta­ni­zaki ha­be ich – ne­ben Mishi­ma – bei mei­ner Auf­zäh­lung der Au­toren, die den Wunsch in mir weck­ten, al­les von ih­nen zu le­sen, ver­ges­sen. Un­er­füll­ba­rer Wunsch; zwar ha­be ich die zwei­bän­di­ge fran­zö­si­sche Aus­ga­be sei­ner Wer­ke in mei­nem Re­gal ste­hen, die viel mehr ent­hält als das, was auf deutsch von Ta­ni­zaki vor­liegt, aber im­mer noch viel we­ni­ger als das, was er in ei­nem lan­gen Schrei­ber­le­ben ge­schaf­fen hat. Um die Wahr­heit zu sa­gen, ich ha­be nicht ein­mal die Plé­ia­de-Aus­ga­be zur Gän­ze ge­schafft; man kann nicht al­les be­wäl­ti­gen, ist mehr und mehr zum Aus­wäh­len ge­zwun­gen. Der Blick auf Ta­ni­zakis Werk ist im deut­schen Sprach­raum durch den Er­folg sei­nes schma­len Es­says Lob des Schat­tens ver­stellt, der im­mer wie­der zi­tiert wird von Leu­ten, die zei­gen wol­len, daß sie die »Es­senz der ty­pisch ja­pa­ni­schen Äs­the­tik« (oder so) ver­stan­den ha­ben.

Lob der Lang­sam­keit im di­gi­ta­len Zeit­al­ter, wi­der die all­sei­ti­ge Be­schleu­ni­gung, das Da­von- und Her­bei­stie­ben von Bil­dern, Wor­ten, Ge­dan­ken (nicht zu­letzt durch die klei­ne All­zweck­ma­schi­ne, die je­der mit sich führt wie ein Im­plan­tat): es ist eben­falls fast (fast?) zu ei­nem nichts­sa­gen­den Ste­reo­typ ver­kom­men, nach­dem sich er­wie­sen hat, daß sich die gu­ten Vor­sät­ze der Wi­der­ständ­ler nicht um­set­zen las­sen. Als ich ein­mal vor Pu­bli­kum aus mei­nem Stif­ter-Buch las, be­merk­te ei­ne Zu­hö­re­rin, Stif­ters Er­zäh­lun­gen könn­ten ein An­ti­do­tum ge­gen den Ge­schwin­dig­keits­wahn sein. Die sim­pli­fi­zie­ren­de Dar­stel­lung ir­ri­tier­te mich, und doch konn­te (und kann) ich nicht um­hin, ihr recht­zu­ge­ben. Viel­leicht liegt hier ei­ner der Grün­de mei­nes Un­be­ha­gens hin­sicht­lich li­te­ra­tur­kri­ti­scher Tä­tig­keit: Will ein Kri­ti­ker sich er­stens ei­nen Über­blick über die halb­jähr­li­chen Neu­erschei­nun­gen ver­schaf­fen, zwei­tens die Ein­flü­ste­run­gen und An­stür­me der gan­zen PR-Ma­schi­ne­rie der Ver­la­ge ab­weh­ren und ei­ge­ne Kri­te­ri­en gel­tend ma­chen und sich drit­tens auf ei­ne An­zahl von Wer­ken, die er aus­ge­wählt hat, ein­las­sen, sie al­so lang­sam und voll­stän­dig le­sen, so braucht er, um ei­ner sol­chen Tä­tig­keit be­ruf­lich nach­ge­hen zu kön­nen, meh­re­re Le­ben. Ich fürch­te, in Wahr­heit le­sen Li­te­ra­tur­kri­ti­ker flüch­tig, ober­fläch­lich, sie sind Blät­te­rer oder Ra­sen­de, work­aho­lics, Be­sof­fe­ne, aber nicht im Sinn von Pi­gli­as Faul­k­ner (oder doch?). Oder ein­fach nur Blen­der. Will man Ol­gas Rat fol­gen und lang­sam le­sen, sich ein­las­sen oder auch ab­sto­ßen las­sen (oh­ne gleich zu de­ser­tie­ren), dann braucht es Zeit. Wenn es aber Zeit braucht, kann man we­ni­ger als je zu­vor ALLES le­sen, ALLES se­hen, ALLES hö­ren. Viel­leicht soll­te ich al­so nicht die Li­te­ra­tur­kri­tik ver­ab­schie­den, wenn ich mich von der Li­te­ra­tur­kri­tik ver­ab­schie­de, son­dern ei­nen neu­en Ty­pus des Kri­ti­kers, des Be­gleit­schrei­bers be­grü­ßen (oder her­bei­seh­nen, oder for­dern), der sei­ne ra­di­ka­le Sub­jek­ti­vi­tät ein­ge­steht und aus­übt, oh­ne ge­schmäck­le­risch zu wer­den, al­so trotz al­lem und im Be­wußt­sein die­ses Trotz­dems Wert­ur­tei­le wagt, die er zu be­grün­den und zu ver­mit­teln ver­sucht: jen­seits von all den schein­ob­jek­ti­ven Ran­kings die­ser Welt. Sub­jek­ti­vi­tät, das heißt un­ter an­de­rem, daß Zu­fäl­le bei Ent­schei­dun­gen mit­spie­len, daß man nicht al­les kon­trol­lie­ren kann und will, daß man die ste­te Be­ein­flus­sung von ver­schie­de­nen Sei­ten wahr­nimmt und ge­ge­be­nen­falls zu­läßt, in an­de­ren Fäl­len aber ent­schie­den ab­weist.

Ich bin zu Mo­dia­no und Do­ra Bru­der zu­rück­ge­kehrt, nicht nur we­gen des Ver­gnü­gens und der Leich­tig­keit, son­dern auch, weil ich, wie es ei­nem bei Lek­tü­ren, nicht nur bei »span­nen­den«, oft er­geht, das Buch zu En­de brin­gen will. (Wür­de so nicht der Ver­fas­ser spre­chen, »das Buch zu En­de brin­gen«?) Ich will wis­sen, wie die Ge­schich­te aus­geht. Die Ge­schich­te, das heißt hier: die Er­mitt­lung über das Wie und War­um, denn das En­de der Ge­schich­te ei­nes fünf­zehn­jäh­ri­gen jü­di­schen Mäd­chens im von den Deut­schen be­setz­ten Pa­ris um 1941/42 ist ab­seh­bar.

Heu­te vor­mit­tag, im Zug nach Na­ra, das ich aus ei­nem mir nicht ganz kla­ren Grund be­su­chen woll­te, wahr­schein­lich des­halb, weil ich vor ziem­lich ge­nau fünf­zehn Jah­ren mit mei­nem da­mals 79-jäh­ri­gen, in­zwi­schen ver­stor­be­nen Va­ter hier war und ihm nach all der Zeit zu mei­ner ei­ge­nen Über­ra­schung – ich hat­te nie ein son­der­lich gu­tes Ver­hält­nis zu ihm, aber auch kein so schlech­tes wie Mo­dia­no zu sei­nem (in Do­ra Bru­der er­zählt er die ei­ne oder an­de­re Epi­so­de) – manch­mal ver­mis­se und über ihn nach­den­ke, wo­bei sich mein Bild von ihm merk­lich än­dert; im Zug nach Na­ra al­so ha­be ich das Buch nun zu En­de ge­bracht. Der letz­te Satz lau­tet (hier in die­sem Ca­fé im Un­ter­grund­bahn­hof der Kin­tetsu-Li­nie oh­ne Wör­ter­buch und Smart­phone bin ich mir der Kor­rekt­heit mei­ner Ver­si­on nicht ganz si­cher): »Das ist ihr Ge­heim­nis. Ein ar­mes und kost­ba­res Ge­heim­nis, das ihr die Hen­ker, die Be­am­ten, die Au­to­ri­tä­ten der so­ge­nann­ten Be­sat­zung, das Ge­fäng­nis, die Ka­ser­nen, die La­ger, die Ge­schich­te, die Zeit – all das, was ei­nen be­schmutzt und zer­stört – nicht ha­ben rau­ben kön­nen.«

Das gan­ze Buch ist ein ein­zi­ger Ver­such in vie­len An­läu­fen, die Iden­ti­tät die­ses Mäd­chens auf­grund we­ni­ger An­halts­punk­te zu um­rei­ßen und sich dem Ge­heim­nis je­ner Wo­chen im Win­ter 1941/42 zu nä­hern, als Do­ra aus­ge­ris­sen war und sich ir­gend­wo her­um­ge­trie­ben oder ver­steckt, viel­leicht so­gar das biß­chen Frei­heit ge­nos­sen hat – wir wis­sen es nicht. In sei­nem Ro­man zi­tiert und be­schreibt Mo­dia­no Schrift- und Bild­do­ku­men­te, die ein we­nig – nicht viel – Auf­klä­rung über Do­ras Schick­sal ge­ben kön­nen, aber er ima­gi­niert auch, d. h. er ver­sucht, sich ih­re Exi­stenz vor­zu­stel­len, oh­ne sich fal­sche Ge­wiß­heit an­zu­ma­ßen. Kürz­lich ha­be ich ei­nen klei­nen Text über Pe­ter Hand­ke ver­öf­fent­licht (der zwei Bü­cher von Mo­dia­no über­setzt hat), in dem ich sei­ne Be­mer­kun­gen in ei­ner in Kla­gen­furt 2002 ge­hal­te­nen Re­de auf­neh­me und »Phan­ta­sie und Zeug­nis« als dop­pel­te Auf­ga­be von Li­te­ra­tur kon­ju­gie­re. Es ist ge­nau die­ses dop­pel­te Ver­spre­chen, das Do­ra Bru­der mit sel­te­ner Sou­ve­rä­ni­tät, mit Ge­las­sen­heit und Nach­druck ein­löst.

Prä­sent, wie mir das Buch ist, könn­te ich vie­ler­lei dar­über schrei­ben; ich muß mich be­schrän­ken, weil mein Vor­ha­ben ein an­de­res ist, weit­läu­fi­ger, Lek­tü­ren im Plu­ral. Ich könn­te sa­gen, und das tue ich nun doch, daß ich es be­mer­kens­wert und kühn fin­de, be­mer­kens­wert kühn, wie Mo­dia­no ei­ne Ab­we­sen­heit um­schreibt und der von ihm er­wähl­ten Per­son, über die er fast nichts weiß, ei­ne vor­sich­ti­ge, zar­te und wahr­schein­lich auch blei­ben­de An­we­sen­heit schenkt; nicht nur daß, son­dern wie er es tut, mit der Zu­rück­hal­tung, dem War­ten­kön­nen (al­so dem War­ten), dem Ver­trau­en in die stil­le Kraft der Li­te­ra­tur, das not­wen­dig ist, um sich dem Nichts und der Ver­nich­tung ent­ge­gen­zu­stel­len: ver­geb­lich, letz­ten En­des, da­her die Me­lan­cho­lie, die nicht nur die schwa­che Exi­stenz Do­ra Bru­ders in uns wach­ruft, son­dern un­se­re ei­ge­ne, je­de. Nie­mand ist für im­mer ge­gen die Kräf­te der Ver­nich­tung ge­schützt. Ich mer­ke es, spü­re es am ei­ge­nen Leib und er­in­ne­re mich jetzt dar­an, wie ich mei­nen fast er­blin­de­ten Va­ter auf den Hiei-Berg führ­te, drü­ben in Kyo­to, dann mit der Seil­bahn in leich­tem Schnee­trei­ben zu zweit, sonst kei­ne Fahr­gä­ste in der Ka­bi­ne (und auch sonst), hin­un­ter zum Bi­wa-See; und wie ich ihn ein an­de­res Mal am Rand des Stroms von Men­schen, die ih­ren Neu­jahrs­be­such am Ka­su­ga-Schrein ab­stat­te­ten, zwi­schen ei­nem Yak­iso­ba- und ei­nem Ta­ko­ya­ki-Stand auf ei­nem Baum­strunk sit­zend füt­ter­te. Ich be­schrän­ke mich auf den Aspekt des Do­ku­men­ta­ri­schen, des Nicht-Fik­tio­na­len, das mich an sol­chen Wer­ken in­ter­es­siert. Ge­nau­er, die Tat­sa­che, daß ein be­stimm­ter Um­gang mit Ele­men­ten der Wirk­lich­keit (»Stoff«) er­zäh­le­ri­sche Dy­na­mi­ken aus­lö­sen und ge­stal­ten kann, an­ders als Fik­tio­nen, an­ders auch als Re­por­ta­gen, weil sol­che Er­zäh­ler nicht je­ne küh­le Di­stanz ein­hal­ten, die man im all­ge­mei­nen an Re­por­ta­gen schätzt. Do­ra Bru­der ist kei­ne Re­por­ta­ge (wie zum Bei­spiel Ab­schied von Si­do­nie von Erich Hackl, ob­wohl auch hier die Er­mitt­lung selbst ei­ne ge­wis­se Rol­le spielt), Mo­dia­nos Ro­man ist we­ni­ger als ei­ne Re­por­ta­ge, zu­rück­hal­ten­der und mit­füh­len­der – bei­des. Die Re­por­ta­gen von Da­vid Fo­ster Wal­lace wie­der­um, über ei­ne Kreuz­fahrt auf den Welt­mee­ren oder das Mi­lieu der Por­no­gra­phie-In­du­strie oder ei­nen Ra­dio­sen­der, sind mehr als Re­por­ta­gen, sie stei­gern die Fül­le der Da­ten zu ei­nem den Ge­gen­stand eben­so wie den Le­ser über­wäl­ti­gen­den Knäu­el, des­sen Fä­den sie dann wie­der auf­zu­tren­nen vor­ge­ben.

Die­se drei, Pa­trick Mo­dia­no, Ari­el Ma­gnus und Da­vid Fo­ster Wal­lace, ge­hö­ren zu den Au­toren, die ich im letz­ten Halb­jahr ge­le­sen ha­be, Fo­ster Wal­lace im Kran­ken­haus, die­ser Spaß ver­spre­chen­de Zie­gel, dach­te ich, wä­re gut für lan­ge reg­lo­se Stun­den ge­eig­net. Fo­ster Wal­lace weiß noch den un­schein­bar­sten, stau­big­sten, lä­cher­lich­sten Din­gen und Men­schen ei­gen­tüm­li­che, oft über­ra­schen­den, per­sön­lich ge­färb­te Aspek­te ab­zu­ge­win­nen, wo­bei oft nicht ent­scheid­bar ist, ob das Ei­gen­tüm­li­che vom Blick oder Ge­gen­stand aus­geht oder, an­ders ge­sagt, wer wen an­steckt. Der per­sön­li­che Ein­satz – In­ter­es­se und Ein­füh­lung – er­zeugt den Stil, der bei ihm al­les an­de­re als stil­los ist (das Ide­al so vie­ler Au­toren!). Al­les und je­des, Kreuz­fahrt und Por­no­dar­stel­ler, die Er­fah­run­gen als be­gab­ter Ten­nis­spie­ler im ame­ri­ka­ni­schen Mit­tel­we­sten, das Flach­land dort, der Wind und die Stür­me, der Ten­nis­zau­ber Ro­ger Fe­de­rers. Auf Ari­el Ma­gnus, Ar­gen­ti­ni­er mit deutsch-jü­di­schen Vor­fah­ren, 1975 ge­bo­ren und al­so viel jün­ger als ich, bin ich auf­grund meh­re­rer Zu­fäl­le und Be­dürf­tig­kei­ten ge­kom­men. Er­stens bin ich auf je­den ar­gen­ti­ni­schen Schrift­stel­ler neu­gie­rig, der leib­haf­tig oder durch sei­ne Bü­cher mei­nen Weg kreuzt; da geht es mir ähn­lich wie mit den ar­gen­ti­ni­schen Fuß­ball­spie­lern: Eu­ro­päi­sche Mann­schaf­ten in­ter­es­sie­ren mich nur, wenn ein Dy­ba­la, ein Lanzini, ein Ja­vier Pa­sto­re mit­spielt. Ei­ne Art He­te­ro­na­tio­na­lis­mus – kei­ne Ah­nung, was er mir gibt.

Oma? Großmutter? Abuela! © Leopold Federmair

Oma? Groß­mutter? Ab­ue­la! © Leo­pold Fe­der­mair

Ari­el Ma­gnus war zu ei­ner Le­sung in der Al­ten Schmie­de in Wien ein­ge­la­den, und ich war zu­fäl­lig in der Stadt; ich ließ mir die Ge­le­gen­heit nicht ent­ge­hen. Zwei­tens, ich dach­te an ihn, als ich mir Sor­gen we­gen der Ur­he­ber­rech­te an be­stimm­ten Wer­ken von Ri­car­do Pi­glia mach­te, aus de­nen ich in mei­nem Groß­essay, der ihn, wenn man so will, zum »Ge­gen­stand« hat, den ich aber auch mit ihm, Ri­car­do Pi­glia, zu schrei­ben ge­willt war und bin – wie man eben ei­ne Über­set­zung nicht über und nicht ge­gen, son­dern mit dem Ver­fas­ser des Ori­gi­nals schreibt (und meist da­für be­zahlt, daß man das über­haupt darf, bzw. der Ver­le­ger be­zahlt für ei­nen) –, be­wußt sehr aus­gie­big zi­tie­re, d. h. zi­tie­rend über­set­ze. Der­zeit bin ich da­bei, das Zi­tier­te ge­wis­ser­ma­ßen ein­zu­damp­fen; ob aber die Hü­ter des Co­py­rights, in die­sem Fall mit den be­sten, kei­nes­wegs nur fi­nan­zi­el­len Ab­sich­ten, das ak­zep­tie­ren wür­den? So lau­te­te ei­ne der Fra­gen, die ich Ari­el, der na­he­zu per­fekt Deutsch spricht und liest und viel ins Spa­ni­sche über­setzt, stel­len woll­te. Und drit­tens, ich woll­te, aus die­sem Grund oder ein­fach nur so, grund­los, et­was mehr von sei­ner Li­te­ra­tur er­fah­ren, die ich bis da­hin nur vom Hö­ren­sa­gen ge­kannt hat­te.

La ab­ue­la, die­sen wohl­klin­gen­den spa­ni­schen Buch­ti­tel kann man nicht oh­ne wei­te­res für die deut­sche Über­set­zung bei­be­hal­ten, kann ihn nicht, wie man so schön sagt, eins zu eins über­set­zen. Die Groß­mutter? Da denkt der po­ten­ti­el­le Käu­fer in der Buch­hand­lung un­wei­ger­lich an das Mär­chen mit dem bö­sen Wolf. Ich weiß nicht, wie der deut­sche Ti­tel zu­stan­de­ge­kom­men ist, Lek­to­ren und Buch­han­dels­ver­tre­ter pfle­gen da ein Wort mit­zu­re­den: Zwei lan­ge Un­ter­ho­sen der Mar­ke He­ring. Das paßt viel­leicht zur Pop­li­te­ra­tur­schie­ne von Kie­pen­heu­er Witsch, aber zu die­sem Ro­man? Nur weil ein­mal, in ei­nem ein­zi­gen Satz, da­von die Re­de ist, daß die Oma sol­che Un­ter­ho­sen als Ge­schenk mit­bringt (wie der West-On­kel mit den Tri­umph-Strümp­fen in Bru­ssigs Son­nen­al­lee, aber so ein durch­ge­hen­der Ulk ist La ab­ue­la nun auch wie­der nicht). Um mei­ne Neu­gier zu be­frie­di­gen, hät­te ich auch ein an­de­res Buch von Ari­el aus­wäh­len kön­nen, aber ver­schie­de­ne Grün­de lie­ßen mich die­ses bei Ama­zon, dem Gott­sei­bei­uns al­ler wah­ren Li­te­ra­tur­freun­de, be­stel­len. Amazon.co.jp, ge­nau­er ge­sagt. Die Lie­fer­zeit war kurz (ich woll­te es so­fort le­sen, wäh­rend ei­ner lan­gen Rei­se), der Preis gün­stig, kein Ver­gleich zu die­sen alt­ja­pa­ni­schen Buch­hand­lun­gen (wie die schon er­wähn­te Ki­no­ku­ni­ya), und schließ­lich: Ge­nau die­ser ein we­nig blöd­sin­ni­ge Ti­tel, be­wußt ge­wählt, neh­me ich an, von Ver­lags­leu­ten, die mit ge­ho­be­ner Blöd­sin­nig­keit ihr Ge­schäft ma­chen, zog mich an (auch mit mir kann man Ge­schäf­te ma­chen), und zwar nur des­halb, weil ich in mei­ner ar­gen­ti­ni­schen Zeit selbst manch­mal ei­ne Un­ter­ho­se der bra­si­lia­ni­schen Mar­ke mit deut­schem Na­men ge­schenkt be­kom­men hat­te. Ari­els Oma, dach­te ich, ist al­so auch nicht an­ders als mei­ne da­ma­li­gen Ver­wand­ten im Co­no Sur.

Im Buch, so er­fuhr ich, ist es die in Süd­bra­si­li­en le­ben­de Groß­mutter des Au­tors, die den Ver­wand­ten in Bue­nos Ai­res bei ih­ren Be­su­chen sol­che Un­ter­ho­sen mit­bringt. Das hat im Gan­zen der Er­zäh­lung kei­ne gro­ße Be­deu­tung, es ist nur ei­ner der vie­len klei­nen wit­zi­gen Ef­fek­te, die die­se Fi­gur im Kon­trast zu ih­rer leid­vol­len Le­bens­ge­schich­te so schil­lernd ma­chen. Ari­els Oma war – viel­leicht lebt sie ja noch, ich wer­de ihn fra­gen – sechs Jah­re vor Do­ra Bru­der ge­bo­ren, sie wird heu­er al­so hun­dert Jah­re alt. Do­ra hat Ausch­witz nicht über­lebt; Em­ma ist ei­ne der we­ni­gen, die das Ver­nich­tungs­la­ger nach der Be­frei­ung le­bend ver­las­sen konn­ten. Bei­de sind Jü­din­nen – ich blei­be beim Prä­sens –, Do­ra in Pa­ris ge­bo­ren (ihr Va­ter in Wien), Em­ma in West­deutsch­land, Wup­per­tal oder dort in der Nä­he, ich kann im Mo­ment nicht nach­schla­gen.

Das Buch ha­be ich auf deutsch ge­le­sen. Ari­el hat mich da­für ge­rügt, aber nach der Lek­tü­re glau­be ich, daß mich der Zu­fall gut ge­lenkt hat. Die ei­ne der bei­den Quel­len des Ro­mans ist ein lan­ges, buch­stäb­lich er­schöp­fen­des In­ter­view, das Ari­el mit sei­ner Oma in Bra­si­li­en ge­führt hat­te, oh­ne ein Buch­pro­jekt im Sinn zu ha­ben. Den zwei­ten Strang, mit dem die­ser »bra­si­lia­ni­sche« al­ter­niert, wird von ei­ner Art Rei­se­be­richt ge­bil­det, mit Be­su­chen von Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern, wel­che die Groß­mutter einst am ei­ge­nen Leib er­fah­ren hat­te (sie war auch in The­re­si­en­stadt in­ter­niert ge­we­sen, nach­dem sie frei­wil­lig hin­ge­fah­ren war, um ih­rer er­blin­de­ten Mut­ter bei­zu­ste­hen), aber auch von an­de­ren Or­ten, Goe­thes Wohn­haus in Wei­mar z. B., dem Jü­di­schen Mu­se­ums in Ber­lin, dem Ka­De­We, ei­nem von Omas Lieb­lings­or­ten. Auch La ab­ue­la ent­hält kei­ne Fik­ti­on, der Au­tor spielt nicht ein­mal mit Ima­gi­na­ti­on und Phan­ta­sie, wie es Mo­dia­no tut, er ver­sucht le­dig­lich, die Oma so rück­sichts­voll und doch nach­drück­lich zu be­fra­gen und es zu re­spek­tie­ren, wenn sie et­was kei­nes­falls preis­ge­ben will. Er kann sie je­der­zeit an­ru­fen, in sei­ner Fa­mi­lie wa­ren Fern­ge­sprä­che schon vor der Null­ta­rif­kom­mu­ni­ka­ti­on per Sky­pe etc. üb­lich. Trotz die­ser Cha­rak­te­ri­sti­ka ist das Buch ein Ro­man; ein – ich wür­de nicht sa­gen »leich­ter Ro­man«, son­dern eher: ein un­ter­halt­sa­mer, E- und U‑Literatur, bei­des. Pro­des­se et delec­ta­re… Der Au­tor ret­tet mit die­sem Werk ei­ne See­le, die sich als leib­li­che Iden­ti­tät selbst ret­ten konn­te oder ein­fach nur Glück hat­te oder kräf­tig ge­nug war, ei­ne win­zi­ge Per­son (150 cm), im Un­ter­schied zu Do­ra Bru­der. Trotz­dem, da ist die­ser Ge­stus, et­was Be­wah­rens­wer­tes fest­zu­hal­ten und zu über­lie­fern, et­was Ent­schwin­den­des und Ver­schwin­den­des, sich Ent­zie­hen­des. In der tief­sten Schicht des Er­zäh­lens eig­net die­sem Ge­stus stets et­was Me­lan­cho­li­sches, und der ent­spre­chen­de Ton gibt sich mehr oder min­der lei­se zu hö­ren; dar­über lie­gen bei Ari­el Ma­gnus und bei sei­ner Groß­mutter, der Zeu­gin und münd­li­chen Er­zäh­le­rin, di­ver­se Schich­ten des Hu­mors, den man viel­leicht als »jü­disch« be­zeich­nen kann – aber das ist nur ei­ne Ver­mu­tung mei­ner­seits, in der jü­di­schen Er­zähl­li­te­ra­tur, z. B. der nord­ame­ri­ka­ni­schen – Ost­kü­ste, New York – bin ich nicht so be­wan­dert, neh­me mir jetzt aber flugs vor, et­was von Phil­ip Roth zu le­sen (Emp­feh­lun­gen er­be­ten!). Ein dickes Buch des jü­di­schen, tür­kisch schrei­ben­den Schrift­stel­lers Ma­rio Le­vi ha­be ich vor fünf­zehn oder zwan­zig Jah­ren ge­le­sen, ei­ne Viel­zahl von Ge­schich­ten, die in der Sum­me ei­ne Art Ro­man er­ge­ben, da glaub­te ich die­sen jü­disch in­spi­rier­ten (?) Hu­mor des All­täg­li­chen zu spü­ren.

Ari­els Groß­mutter hat­te ein lan­ges Le­ben, sie lehn­te es ent­schie­den ab, nach Mit­leid zu hei­schen, nahm aber auch ih­re Zeu­gen­schaft wich­tig, gab Aus­kunft (manch­mal wi­der­wil­lig): Die Welt soll­te wis­sen, was die Na­zis und ih­re Hel­fer Leu­ten wie ihr an­ge­tan hat­ten. Trotz­dem bleibt da, nach­dem man ihr Buch – Ari­els Buch – ge­le­sen hat, ein Ge­heim­nis; ei­ne Zo­ne der Er­fah­rung, in die sie mit Wor­ten nicht vor­drin­gen kann; Fra­gen, die sie von sich fern­zu­hal­ten sucht und de­nen sie dann doch wie­der auf den Grund ge­hen will. Pa­ra­do­xe Struk­tur, pa­ra­do­xe Dy­na­mik: Der Au­tor nä­hert sich ei­nem Ge­heim­nis, in ge­wis­ser Wei­se geht er ge­gen die­ses Ge­heim­nis vor, ver­sucht es ab­zu­tra­gen – und weiß gleich­zei­tig, daß er es re­spek­tie­ren und wah­ren muß, um über­haupt spre­chen, Fra­gen stel­len, schrei­ben zu kön­nen.

Ich ha­be ein we­nig – flüch­tig, wie es die­sem Me­di­um ent­spricht – im In­ter­net »re­cher­chiert«, beim ewi­gen Per­len­tau­cher, der so­gleich das Rich­ti­ge, Wich­ti­ge, Glän­zen­de für dich aus den Un­tie­fen holt, ha­be aber kei­ne Spu­ren ei­ner Wir­kung die­ses Buchs im deut­schen Sprach­raum ge­fun­den. Da­bei geht es ge­ra­de die Deut­schen und Öster­rei­cher an. Und es zeigt – wie Do­ra Bru­der, wenn­gleich un­ter an­de­ren Vor­aus­set­zun­gen –, daß das The­ma nicht ob­so­let ist und lan­ge nicht ob­so­let sein wird, weil sich die Per­spek­ti­ven im­mer wie­der än­dern, und da­mit die Er­zähl­wei­sen, die Mo­men­te der Er­kennt­nis. Ich weiß nicht, ob Zwei lan­ge Un­ter­ho­sen der Mar­ke He­ring das­sel­be »Ni­veau« wie Do­ra Bru­der hat, und es ist mir auch egal. Seit lan­gem den­ke ich, daß es un­ter­schied­li­che Stu­fen li­te­ra­ri­scher In­ten­si­tät gibt, auch bei ein und dem­sel­ben Au­tor, manch­mal im sel­ben Buch, daß man aber kei­ne Hier­ar­chie er­rich­ten muß, so als sei das In­ten­siv­ste (oder Dich­te­ste oder Kom­ple­xe­ste) im­mer das Be­ste. Al­les hat sei­ne Be­rech­ti­gung. Bei­de Wer­ke sind Li­te­ra­tur des 21. Jahr­hun­derts, des »drit­ten Jahr­tau­sends«, um das bom­ba­sti­sche Wort Cal­vi­nos zu ge­brau­chen; sie zei­gen neue Mög­lich­kei­ten in die­ser post­mo­dern und un­zeit­ge­mäß ge­glaub­ten Kunst­spar­te. Bei­den Bü­chern ge­gen­über – als Kri­ti­ker dürf­te ich die­sen Schluß jetzt nicht äu­ßern – emp­fin­de ich Dank­bar­keit.

© Leo­pold Fe­der­mair

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