Einblicke in die Abenteuer eines befreiten Lesers
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Schluß. Meine abgebrochenen Lektüren wollte ich doch unter den Teppich kehren. Besser, du machst mal halt und blickst zurück (auf diesen Rückblick hier). Die Rede ist da nur von Erzählliteratur, fast alles Romane. Dabei habe ich doch auch Essays gelesen, nicht nur von Foster Wallace, auch von Olga Martynova und Thomas Stangl. Montaigne, den lese ich sowieso immer, meine Bibel, die essais. Auch sogenannte Sachliteratur, Grundfragen der Maschinenethik zum Beispiel, die Namen von Sachbuchautoren vergesse ich mittlerweile fast ausnahmslos. Und Gedichte? Ich gehöre zu denen, die die Lyrik für den Kern des Planeten Literatur halten: ein heißer, glühender Kern, der in der Epik manchmal Eruptionen zeitigt; emblematisch in Bolaños Wilden Detektiven. Ricardo Piglia hat so gut wie gar keine Gedichte geschrieben – nur eines, im Traum:
Soy
el equilibrista que
en el aire camina
descalzo
sobre un alambre
de púas
Ich bin
der Seiltänzer der
in der Luft geht
ohne Schuhe
auf dem
Stacheldraht
– aber 2008 zur Eröffnung der Buchmesse in Buenos Aires sagte er in seiner (wie üblich improvisierten) Rede, in den eiligen Zeiten, in denen wir heute lebten, sei die Dichtung einer der wenigen Räume, in denen man eine eigene Zeitlichkeit entfalten könne. Und er widersprach Adornos Verdikt, nach Auschwitz sei das Schreiben von Gedichten barbarisch (die Überlieferung transportiert das Adverb »unmöglich«, doch Adorno hatte »barbarisch« geschrieben, fast so, als machte sich ein Dichter allein durch sein Dasein mit der Nazi-Barbarei gemein): Die argentinische Erfahrung nach »unserem kleinen Auschwitz« zeige, daß dies sehr wohl möglich sei, sagte Piglia und verwies auf Juan Gelman1 und Leónidas Lamborghini. »Wir, die Erzähler«, fuhr Piglia fort, »bringen den Dichtern Hochachtung entgegen, weil sie mit Sprache in Reinkultur arbeiten.«
Inzwischen bin ich beim Abschreiben dieses Textes am Computer – ciao Osaka, ciao Cafés in den Wolken und unter der Erde! – und kann der Google-Versuchung wieder einmal nicht widerstehen; natürlich habe ich zwölf Jahre nach Piglias Rede keine genaue Erinnerung an sie (an das Seiltänzer-Gedicht schon, ich habe es x‑mal gelesen und mehrmals übersetzt). Was ich sagen wollte: Im Hinblick auf die Lyrik habe ich das seltsame Gefühl, alles schon zu kennen. Das stimmt natürlich nicht, Neuerscheinungen nehme ich selten wahr, so daß ich mir jetzt auch gleich vornehme, mehr davon zu lesen, fürs erste Gedichte von Marcel Beyer, mir empfohlen und zugesandt von Jürgen Theobaldy, von dem ich unlängst ein Gedichtbuch zugesandt bekommen und gelesen habe: im Krankenhaus, neben den Essays von Foster Wallace, der dicke Ziegel neben dem, wie es sich für Gedichte gehört, federleichten Band mit den schlanken Versen. Ich glaube, die neben- und nacheinander gelesenen Bücher gehen jeweils in das andere ein, der Dichter schaut in die Werkstatt des Essayisten, der Prosaschreiber kommt beim Dichter vorbei und nimmt sich ein Sätzchen mit. Das alles geschieht in meinem Kopf, ich konnektiere als Leser die Texte, verändere sie dadurch: gelebte Transversalität. Die prosanahe Sachlichkeit der 60er/70er-Jahre-Lyrik – bei Beyer habe ich das Gefühl, sie findet eine Fortsetzung in einem neuen, komplexeren, ironisch grundierten Gewand: praller Stoff in täuschend alten Säcken. Unbedingt mehrdimensional, mit gekonnten Klimmzügen zwischen den Plateaus, fließende Übergänge zwischen den Dimensionen, in beide Richtungen, premier, second, énième degré. Komplexer ist nicht immer besser, und auch einfacher nicht. Im selben Heft der Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalte lese ich Theobaldys Tanka, »fünfzeilige Gedichtform aus Japan«, gereinigte, aufs Wesentliche oder auf ein, zwei Details – vielleicht sind die das Wesentliche – reduzierte Wahrnehmung/Sprache.
Was ich sagen wollte: Gedichte verlangen in der Regel keine extensive, sondern eine intensive, vielfache, langsam erschließende Lektüre, und wenn man auf solche Art liest, kommt man früher oder später zum eigenständigen Wiederholen, also zum Interpretieren und Übersetzen.2 Letzteres dann, wenn die Gedichte in einer Fremdsprache geschrieben sind und der Leser sie in dieser Sprache liest; je intensiver er liest, desto eher wird er zum Übersetzer, zum Wiederholer, in einem gewissen Sinn auch zum Retter. Die Flaschenpost – ich denke an einen Essay Olga Martynovas, in dessen Titel das Wort zweimal vorkommt – aus der Flasche retten, aus ihrem Eingeschlossensein, ihrer Hermetik. Der Finder befreit, liest und steckt die Post in eine neue Flasche. Richtig, ich stelle mir vor, daß die Sprache, die der Dichter fabriziert hat, der Behälter ist, die Flasche nur eine Metapher, ebenso das Meer, das Gewässer (»nur«). Ich selbst schreibe wenig Gedichte (obwohl Schönheit und Schmerz etwas von einem Gedichtzyklus hat), aber ich übersetze gern welche, und gar nicht so selten, fast darf ich sagen: immer. Eines Tages, im Meer der Texte, bin ich auf Juan Ramón Jiménez gestoßen, den Literaturnobelpreisträger des Jahres 1956, habe zunächst Platero und ich gelesen, einen hochpoetischen, zugleich kindlichen Prosazyklus, und schließlich einen seiner Gedichtbände übersetzt, der auf deutsch nicht vorlag, einen Zyklus von seiner Hochzeitsreise im Jahr 1916, die ihn nach New York und Boston führte. Das Buch, meine Übersetzung, ist in einem kleinen Berliner Verlag erschienen, fast ganz (und erwartungsgemäß) ohne Echo in den Massenmedien, die angeblich bestimmen, was wirklich sei und was nicht. Gleichzeitig habe ich während der vergangenen Jahre für ein Großprojekt übersetzt, spanischsprachige Lyrik von den Anfängen bis zur Gegenwart, vier zweisprachige Bände. Auf diese Weise entsteht Vertrautheit mit Dichtern, die in fernen Gegenden und Epochen hausten, mit ihrer Stimme, ihren Wortgebräuchen. Siglo de oro, Wollust und Freiheit im Korsett (meist als Sonett), Garcilaso de la Vega, Francisco Quevedo, andere Dichter mit weniger klingendem Namen, dann über die – in Spanien schwächelnde – Romantik hinein ins zwanzigste Jahrhundert, Rubén Darío, Salvador Novo, José Emilio Pacheco (meine lateinamerikanische Schlagseite).
Pacheco wird bleiben, in mir, der durchsichtigste, diaphane, klar wie Wasser, und dann, je öfter man liest, dennoch rätselhaft. José Emilio wird bleiben durch unseren gemeinsamen Besuch in Mozarts Geburtshaus, das ich an seiner Seite zum ersten Mal betrat, obwohl ich zehn Jahre in der Stadt gelebt hatte; bleiben durch die Auswahl seiner Gedichte, die ich, lang ist’s her, zusammengestellt und übersetzt habe. Bleiben als Wählen, immer erneutes Wählen des einmal Erkannten. Sogleich aber will ich das Gesagte zurücknehmen, denn was heißt schon, einen Dichter zu (er)kennen. Dichtungen wie die von Trakl, Hölderlin, Rilke, Gryphius, Celan kennt man nie wirklich, nie ganz, auch dann nicht, wenn man sie übersetzt. Sie kennen sich selbst nicht. Die Flaschenpost, also die Botschaft, entzieht sich in Sehnsucht nach dem Meer der namenlosen Sprache.
Dann lese ich Hälfte des Lebens, ich weiß nicht zum wievielten Mal, und es ist wieder alles ganz anders. Sogar bei Dinggedichten und Tiergedichten, Der römische Brunnen oder Der Panther, ist alles anders, wie wenn jemand am Kaleidoskop gerüttelt hat, der Sinn hat sich geändert, ist unkenntlich geworden (natürlich bin ich es, der sich geändert hat, unkenntlich geworden ist). Bei Marcel Beyer lese ich eine Parodie der Todesfuge, deren verzerrtes Echo eines dieser Gedichte durchtönt und grundiert wie eine weiße oder schwarze, schwarz-weiße – Milch der Frühe – Leinwand, auf der ein Wortpinsel Punkte gesetzt und Striche und Flächen gezogen und Farben verteilt hat – gelb, schwefelgelb das Gedicht: Ginster. Der Tod ist ein Arschloch aus Strehlen, ja? Dann wär alles nicht so schlimm, oder? Man käme, unversehrt im Großen und Ganzen, täglich an diesem Schwächling vorbei ins, sagen wir, Büro, wie ich selbst ins Büro gehe jeden Tag, manchmal bedroht, Gott weiß. Halt! Vom KZ ins Büro? Kann sein, daß Beyer diesen Weg beschreiben wollte. Beschreibt. Aber wer ist dieser abgehalfterte Typ in Strehlen, Ostdeutschland oder wo, oder war es Strahlen, oder Straelen, westlichstes Westdeutschland, Sitz des Übersetzerkollegiums, wo fleißige Schreiber aus aller Welt sich mit Beyers Gedichten auseinandersetzen? Oder Stralsund gar?
Man pardoniere den unwissenden Südländer, der nicht anders kann, er googelt wieder. Wikipedia, was sonst, Stadtteil von Dresden, vielleicht wohnt dort ja der Dichter, geb. in 1965, wohnhaft in Dresden, nicht? 10.000 Einwohner, da sind sicher ein paar Arschlöcher dabei, Angeber, Möchtegerntodbringer. Und dann lese ich, die gebrochene Zeile springt mir ins Auge: »Der Tod ist kein Mann, // auch kein Junge…« Was dann? Ein weibliches Arschloch? Arschlöchin? Zwitter? Queer? Undefinierbar?
Ich beende den Spaß. Weil ich sehe, daß ich dieses Gedicht nicht ernstnehmen kann, nur eine Parodie der Parodie ist mir möglich. Mußt ja nicht kommentieren auf Teufel komm raus (sag ich mir). Mußt keine Literaturkritik treiben. Lies weiter, anderswo. Laß dich treiben, surfe, transversal. Es kommt darauf an – oder? – die Wellen zu kreuzen. Und daß man auch haltmachen kann in diesem Meer, perchè naufragare è dolce in questo mare, Inseln bilden statt Wurzeln schlagen, nicht gleich untergehen. Warten am Strand. Die ewige, sich wandelnde, nie erfüllbare Liste im Heft, oder besser: im Hinterkopf. Karl-Markus Gauß, der mich auf die abenteuerliche Reise in seinem Zimmer aufmerksam macht: Ein Mann, der wohl ruhig in seinem Zimmer bleiben kann und trotzdem immer noch reist in der physischen Welt. Ruhig im Zimmer sitzen und lesen, Abenteuer im Kopf.3 Also der Stapel: Peter Stephan Jungk, Rundgang, damit hab ich schon begonnen; weiß nicht, ob ich weiterlesen will. Wenn einem ein Autor eine freundliche Widmung ins Exemplar schreibt – ich habe nie viel auf Widmungen gegeben; offen gestanden habe ich eine nicht geringe Zahl davon, mit bemüht geschwungenen oder natürlich-eleganten Schriftzügen und geistreichen Bemerkungen oder Anspielungen auf dem Titelblatt, im Zuge meiner Bilbiotheksauflösung vor zwanzig Jahren verscherbelt –, muß man das Buch früher oder später doch lesen, ein Gebot der Höflichkeit, oder nicht? Rundgang ist 1981 erschienen, »ein Buch aus der Vergangenheit«, hat Peter unter den Titel geschrieben. Aber es ist auch meine Vergangenheit, in diesem Jahr, 1981, habe ich zum ersten Mal eine Erzählung geschrieben, von der ich dachte, sie müsse jemanden erreichen, einen unbekannten Adressaten. Also ich wollte sie veröffentlichen. Heute bin ich froh, daß das nicht geschehen ist, und finde einen Ton in dem Buch mit der freundlichen Widmung wieder (einem Buch, das ich seinerzeit – unsererzeit – nicht gelesen hatte, nur Stechpalmenwald stand in meiner längst in die alle Winde verstreuten Bibliothek), der mich an jene Erzählung erinnert, Strawinskys Grab war der Titel, der wahrscheinlich das Beste daran ist (googeln Sie, wenn Sie wissen wollen, wo es liegt). Diese Art Sprache klingt unterschwellig prätentiös, vielleicht ist es der Ton jener – ohne daß wir uns kannten – gemeinsamen Vergangenheit, eine kollektive Musik, die sich aus vielen Stimmen zusammensetzt, ein Epochenstil, der in Wirklichkeit eine Vielzahl von Stilen von Individuen ist. Ein betont exquisiter und dann wieder nonchalanter Stil, ein hehrer Gestus – dieses seltsame Epitheton fällt mir immer wieder ein –, der sich selbst mißtraut und unterläuft und torpediert, ohne jene Dauerironie, die Deutschland und Umgebung im Verlauf der achtziger Jahre überschwemmen sollte – die Verwüstungen sind bis heute zu sehen, zu spüren, zu lesen. Also diese Vergangenheitsmusik, für den Augenblick halte ich sie auf Abstand, sie bleibt als Möglichkeit auf meiner Liste.
Bücher, die ich noch nicht gelesen habe. Schiere Unendlichkeit. Ich habe nicht vor, jetzt am Ende noch über die schwindende Lebenszeit zu lamentieren, wie es gewisse Rezensenten in »angesehenen« Feuilletons neuerdings tun, wenn sie über gar zu umfangreiche Bücher schreiben müssen, die Armen – es hat sie doch niemand gezwungen, oder? –, etwa über die fünf Bände im Schuber von Philip Weiss, die ich »rezensiert« habe, wortbrüchig, wie ich zu meiner Schande gestehe. Madame Bovary steht auf der Liste, Mitte der achtziger Jahre, nach Frankreich übersiedelt4, erstmals gelesen: durch Flaubert bin ich mit der Sprache vertraut geworden, indem ich sein Buch verstand, dessen Inhalt verstand, ohne ihn zu verstehen (und langsam doch verstand). Flaubert hat mich geformt, Salambô mehr als Mme. Bovary, das kann ich wohl sagen. Jetzt formt mich kaum noch etwas, bin nicht mehr formbar, j’ai perdu toute malléabilité, also kann ich ruhig wiederlesen, auch wenn die Unendlichkeit dräut, und mich an unsinnigen Projekten wie dem auf David Bowie fixierten eines gewissen Egbert Baqué (allein der merkwürdige Name hatte mich angezogen), die niemals Wirklichkeit werden, beteiligen.
Die Liste, die sich hier einschleicht, meine Liste, ich breche sie ab. Genug davon; eh schon zu viel. Dabei spüre ich immer noch dieselbe Begeisterung für die verlorene Sache. Als ich in einem Deutschkurs für Studenten der Technik-Fakultät fragte, ob jemand Bücher lese – die altbewährte Frage nach dem Hobby, das jeder mit sich führt wie einen staatsbürgerlichen Ausweis –, erntete ich erstaunte Blicke: Wie kam ich bloß auf diese Idee? Ich bohrte nach: Und für die Vorlesungen und Seminare lest ihr auch keine Bücher? Sachbücher vielleicht? Nicht nötig, so die Antwort, die Dozenten stellen Material zusammen, im übrigen gibt es das Internet. »Du sagst, wir haben Internet. / Ich sage, was ist das Internet?« Zitat Bilderbuch.
Neu entdecktes Vergnügen, das Abbrechen. Auch mein eigenes Thema, die Rede vom Ausharren, vom Widerstand einer Minderheit innerhalb einer Minderheit, breche ich ab: Es wurde genügend breitgetreten. Müßig, darauf zu beharren. Spar dir die Leidenschaft für deine ureigene Sache!
© Leopold Federmair
Diese Mitteilung verbanne ich in die Fußnote, weil die Fülle des Getanen, Gelesenen, Geschriebenen langsam ein bißchen angeberisch wirkt; andererseits gehört das halt alles zum Bericht, dessen Teile sich wechselseitig erhellen sollen: Kürzlich habe ich zwei Gedichte von Gelman für eine zweisprachige Anthologie spanischer und lateinamerikanischer Dichtung übersetzt, und vor einigen Jahren auch einen ganzen Gedichtband, der bisher – auf deutsch – nicht veröffentlicht ist. Von Gedichten bin ich umgeben, mehr als von Romanen, Erzählungen oder Essays. Mit den Gedichten lebe ich. Freilich, sie lassen mir auch keine Ruhe, treten nicht so zurück in ihre Schlafkammer wie, zum Beispiel, die ersten beiden Bände der Suche nach der verlorenen Zeit. Man liest öfter und genauer, es kommt zu Verschiebungen und Überlagerungen des Sinns. So daß wir beim Übersetzen manchmal zu zweifeln beginnen: Was steht hier: amo oder amor, zwei grundverschiedene Wörter, grundverschiedene Bedeutungen. Herr oder Liebe? Mit Susanne Lange, einer großartigen Übersetzerin, der wir u. a. den neuen deutschen Don Quijote verdanken, tausche ich mich jetzt gerade darüber aus. Übersetzen ist ein genaueres, eindringliches, schöpferisches Lesen. ↩
Siehe oben, Anmerkung zu Gelman. ↩
Ich weiß nicht, woher dieser wahre Satz ursprünglich stammt (Hinweise erbeten). Ich habe ihn in den siebziger oder achtziger Jahren in Österreich oft im Radio gehört und auch gelesen, ein Werbespruch unter zahllosen anderen, und gleichzeitig ein Satz, der etwas sagt, das heißt erhellt, auf einen Horizont hindeutet. ↩
Eine Anekdote: Kurz nachdem ich mich entschlossen hatte, nach Frankreich zu gehen, erhielt ich eine positive Nachricht auf meine Anfrage an die Literaturabteilung des Österreichischen Rundfunks, Argentinierstraße 30a (mythische Adresse!), ob ich nicht Rezensionen für die Sendung "Ex Libris" schreiben dürfe. Volkmar Parschalk, dessen Stimme mir aus dem Radio vertraut war, hatte den Antwortbrief unterschrieben. Soeben mit meinem Studium fertig, hatte ich mir keine Hoffnungen gemacht. Einen Moment lang bedauerte ich meine Entscheidung für Frankreich, dann machte ich mich auf den Weg. Zur damaligen Zeit war es undenkbar, eine solche kulturjournalistische Tätigkeit für einen österreichischen Sender im Ausland auszuüben. Heute, mit dem Internet, kein Problem. Als ich einige Jahre später dann doch noch meine (gar nicht so kurze) literaturkritische Karriere begann, war einer der Gründe, das nebenher zu tun, daß ich an Bücher kam, für deren Anschaffung ich sonst kaum genug Geld gehabt hätte – und klauen, wie die wilden Detektive Bolaños, dazu war ich nicht imstande. Ich erarbeitete mir im buchstäblichen Sinn meine Bibliothek (die mir damals am Herzen lag – oder schon aufs Herz drückte?), etwa so, wie wenn man sich eine körperliche Arbeit durch Lebensmittel vergelten läßt. Bücher, meine Lebensmittel! Viele davon ohne Ablaufdatum. Besser nicht horten! ↩
zu Anm. 3: Abenteuer im Kopf
70er und 80er Jahre im Radio: Andre Heller: Die wahren Abenteuer sind im Kopf ...
https://www.youtube.com/watch?v=Kda8vPmUEDk
Herzliche Grüße
Und ich hatte mich schon gewundert, dass bisher keine Lyrik vorkam. Und ein guter Schluss, gilt auch für mich, weshalb ich mich kurz fassen will, trotz der vielen Anregungen, die Ihr Text entfacht hat.
Und ich stelle wieder fest, dass es an mir (nur mir?) an Sprache mangelt, wenn ich die Bedeutung von Lyrik für mich benennen sollte; ich schwanke da auch. Hat mich die Lyrik für das Lesen dicker Romane verdorben? Ich habe tatsächlich Schwierigkeiten, dicke Romane über – sagen wir 500 Seiten – durchzuhalten. Bolanos »Wilde Detektive« ist da eine Ausnahme; das war ein Hammer.
Bei »Flaschenpost« – so heisst auch mein Getränkelieferant – denke ich an Celans Rede zum Bremer Literaturpreis, die für mich sehr wichtig war, zusammen mit der »Meridian«-Rede; noch immer wichtig ist, weil ich darin wiederfinde, was lyrisches Sprechen für mich ausmacht. Sozusagen: existentielle Artistik. Das drückt sich ja auch in Piglias Gedicht geradezu examplarisch aus; bei Celan und seiner Vorstellung vom Gedicht, das zu einem Anderen, einem (abwesenden, unbekannten) Du unterwegs sei, von der Flaschenpost, die an Herzland gespült werde, kommt dann noch etwas Dialogisches, Intimes hinzu.
Für mich sind dann auch Gedicht und Gebet eng benachbart. Oder anders: Lyrisches und mystisches Sprechen. Gut ausgedrückt in dem Gedicht von Les Murray »Poetry and Religion«. Vor ein paar Jahren begab ich mich, angeregt durch die Lektüre Tomas Tranströmers, auf eine Spurensuche in diesem Grenzgebiet, die mir sehr ergiebig zu werden schien. Was ich damit ungefähr meine: So wie Mystiker (Rumi, Johannes vom Kreuz) zum Gedicht geraten, geraten Lyriker – auch unter dem Vorzeichen einer säkularen Moderne – in eine mystische Dimension, wie bewusst oder unbewusst auch immer. Das könnte ich noch weiterspinnen, aber die Gedanken, die mir im Kopf rumschwirren, sind noch unausgegoren, und ich wollte mich ja kurz fassen.
Bei mir haben zuletzt die Gedichte von Christian Saalberg großen Eindruck hinterlassen. »In der dritten Sekunde der Morgenröte« – ganz klar: der Lyrikband des Jahres 2020 (um mal so zu tun, als würde ich die laufende Produktion verfolgen). Und Gregor Keuschnig hat mich jetzt neugierig auf die Gedichte Fabjan Hafners gemacht.
@ Klaus Amann/ thx for the lnx
Beim Schreiben dieser Passage hatte ich das Lied von André Heller im Kopf, aber ich glaube, die Formel ist älter, möglicherweise hat Heller, bei dem sie ja etwas anders klingt, darauf zurückgegriffen. Im Internet findet man diese Postkarte, oder was es ist: https://www.pinterest.ie/pin/573364596289416010/
Angeblich handelt es sich dabei um eine Postkarte von um 1924 laut dieser Seite.
Ach nein, dem ist doch nicht so. Der Spruch wurde nachträglich eingefügt, wie ich vorhin überlesen habe.
Ja, aber die Frau dort, eine »Gebrauchtbuchhändlerin«, sagt, sie habe den Spruch nachträglich eingefügt. Wenn dem so ist, woher hat sie ihn? Von André Heller? Selbst erfunden?
Ich bin die genannte »Gebrauchtbuchhändlerin« und muß gestehen, dass ich nicht mehr genau weiß, voher dieser Spruch spannt. Vielleicht von einem alten Lesezeichen? Er ist jedenfalls nicht auf »meinem Mist gewachsen«. Ich finde ihn einfach nur gut und zutreffend! LG Martina Berg
@ Christian Backes / Danke für den Hinweis auf Saalberg!