Einblicke in die Abenteuer eines befreiten Lesers
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An einem der schönen Tage, an denen ich mit diesem Heft im Rucksack abwechselnd herumflanierte und herumsaß, zog es mich wieder einmal nach Arashiyama, aber diesmal ging ich nicht das rechte, sondern das linke Flußufer entlang, das die meiste Zeit des Tages im Schatten liegt. Nach einer Weile begegnete ich einem Mann, der dort auf einer Bank saß, eine Haube auf dem Kopf und mit einem Lächeln begabt, das sein Gesicht wohl dauerhaft zeigt, und mich ohne Umschweife ansprach: Where are you from?
Oh my god, dachte ich zuerst (im Deutsch meiner Tochter), gab dann aber doch eine brauchbare Antwort. Es stellte sich heraus, daß er fließend englisch sprach, dieser heitere, immer noch neugierige, lebensbegierige Mann von siebzig Jahren, der ebenso unerschütterlich wie geschmeidig eine Denkweise pflegt, die sich in der Zeit, als er jung war, einer Zeit des Aufbruchs, der Öffnungen, des Alles-ist-möglich ausgebildet haben muß. (Und ich, Starrkopf, hier am tristen Computer, rede von Abbrüchen!) In jungen Jahren war er als Mathematiklehrer an einer Oberschule tätig gewesen, die Arbeit hatte ihn zu langweilen begonnen, so versuchte er sich als Blumenhändler, gründete bald einen eigenen Betrieb, zog sich nach vielen Jahren auch von diesem zurück; jetzt ist er Manager in einem Transportunternehmen. Er wohnt nicht weit von meiner Schwiegermutter entfernt, also in meiner Nähe, wenn ich in Osaka bin, Nord-Osaka, um genau zu sein, Ibaraki-shi, und kommt oft nach Arashiyama, wegen der Schönheit und Ruhe des Orts, hier weiter oben im Tal, sitzt auf der Bank, liest in einem Buch, plaudert mit Passanten – schon nach wenigen Minuten kam ein Bekannter von ihm vorüber.
Und mit diesem Bekannten, einem jungen, eher schweigsamen Mann von der unauffälligen und dennoch unangepaßten Sorte, die es immer noch, sogar in Japan, gibt, stieg ich dann zu dem Tempelchen hinauf, das mir vom Höhenkamm auf der anderen Seite herüberblickend schon oft aufgefallen war. Es war ein steiler Anstieg, den ich mit Mühe schaffte, während der junge Mann mir in kargen Worten erzählte, daß er ein halbes Jahr lang eine Schiffbauschule in Hiroshima besucht habe, es sei nicht das Richtige für ihn gewesen, derzeit arbeite er als Nachtportier in einem Hotel in Namba, Süd-Osaka, sei aber auf der Suche nach etwas anderem. Im Senkoji, jenem Tempelchen, wo er nach unserer Ankunft sogleich zwischen grauen Holzhütten, Geräteschuppen, verschwand (kaum ein Wort des Abschieds kam über seine Lippen), war er als »freiwilliger« Gehilfe tätig. Dieser Ort, hatte er gesagt, komme seinem Wesen entgegen. ‘Und meinem’, hatte ich, angesteckt von seiner Art, stillschweigend hinzugefügt. Aber stimmte das denn, entsprach diese kleine, zugleich einsiedlerische und auf ein alternatives Zielpublikum schielende Institution (denn eine solche schien es zu sein), meinem Wesen? Ich saß da auf der Holzbank über dem Abgrund, schaute hinunter zum leuchtend grünen Fluß, great view!, das Versprechen in englischer Sprache war mir auf dem Weg ins Auge gesprungen, und jetzt drängte sich mir ein anderer dicker Schriftzug zwischen zahllosen chinesischen und japanischen Zeichen auf: NO BIRTH NO DEATH. Was sollte das heißen? Die Botschaft – keine Flaschenpost, eher ein Werbeslogan, Propaganda eines nebulosen Zentralkomitees – war an mich gerichtet, sie ging mich an. NO LIFE NO DEATH hatte ich zuerst gelesen, mein Vernunftsinn hatte so gelesen und die Wortfolge umgekehrt: NO DEATH NO LIFE. Akzeptiere den Tod, dann kannst du leben. Ich weiß, daß mir in meinem Leben nur noch bleibt, meine persönliche ars moriendi auszugestalten. Je schöner, komplexer, tiefsinniger sie gerät, desto länger werde ich daran arbeiten dürfen.
Aber halt, da stand ja: NO BIRTH. Und auf einem anderen Blatt daneben eine Erläuterung mit Antoine Lavoisier, dem Vater der modernen Chemie, die ja, anstelle der alten Alchemie, den Schlüssel des Lebens kennt. Biochemie. Rien ne se crée, rien ne se perd, tout se transforme. Der Energieerhaltungssatz, oder? Ich selbst und wir alle sind da inbegriffen, meine Libido, wie auch die der Gesellschaft, bleibt stets gleich, verschiebt und wandelt sich aber. Nichts entsteht – im Sinn eines Ursprungs – und nichts vergeht, es entwickelt sich bloß, was immer schon da war, und transformiert sich. Wir sind unsterblich, sind ungeboren, unser kleines Ich mag verlorengehen – nicht ganz verloren, nein, etwas tritt an seine Stelle. Der Buddhismus, hatte ich gedacht, wird von der Idee der Wiedergeburt durchzogen, durchtränkt, durchlüftet. Vielleicht läuft das auf dasselbe hinaus, Wiedergeburt ist Transformation, Gestaltung ist Umgestaltung, Goethe wußte das, und Schopenhauer und noch ein paar andere. Auf die Bücherwelt übertragen: Was wir »Werk« nennen, die Schöpfung eines einzelnen (oder eines Kollektivs), ist nur eine andere Ausgestaltung der literarischen Substanz, die niemandem zugeschrieben werden kann, auch keinem Kollektiv, schon gar keinem Volk.
Der Senkoji ist ein Zen-Tempelchen. Die lockere Art, in der er »verwaltet« und nicht verwaltet – durch Nichtverwaltung verwaltet – wird, zieht mich an, macht mich aber auch skeptisch. Ich vermute, es ist die amerikanisierte Variante des Zen-Buddhismus, die hier angeboten wird, wider den Kommerz und doch ein wenig geschäftstüchtig, immerhin zahlt man Eintritt, gratis ist das nicht, irgendwoher muß das Geld kommen, um das Dach nach Sturmschäden (am Sturmberg, arashiyama) reparieren zu können. Ich habe ein altes Foto gesehen, aus den sechziger oder frühen siebziger Jahren, da war von dem Tempelchen nur noch das Skelett übrig, nicht einmal ein Einsiedler wird noch hier gehaust haben. Und dann wurde es restauriert, in der Zeit der Öffnungen und Aufbrüche, als in den USA und auch in Europa ein kleines Massenpublikum zu meditieren und Yoga zu treiben begann und Bücher wie Zen und die Kunst, ein Motorrad zu reparieren las, aber auch die etwas gelehrteren Aufsätze von Daisetsu Suzuki.
Der Senkoji aber hat eine viel weiter zurückreichende Geschichte, seine Anfänge liegen im frühen 16. Jahrhundert, in der Momoyama-Zeit, als ein gewisser Ryoi Suminokura nach einem erfolgreichen Kaufmannsleben ihn errichten ließ. Der wortkarge Nachtportier aus Takatsuki hatte mir gesagt, daß Matsuo Basho hier gewesen sei und bei der Gelegenheit ein Haiku verfaßt habe. Ich glaube, das ist nicht bezeugt, aber daß er Arashiyama besuchte, geht aus seinem Reisetagebuch von 1691 hervor, und das Tempelchen kam seinen Vorlieben gewiß entgegen.
Es gibt ein Gedicht, in dem der Name, Arashiyama, vorkommt:
dichter Bambushain
am Berg der kräftigen Winde
die stets ihn durchwehen
Arashiyama, Sturmberg. Wahrscheinlich bezieht sich das Gedicht auf den Hain auf der anderen Seite, Richtung Kyoto, wo sich heute die (großteils) chinesischen Touristen drängen – die gab es damals noch nicht. Viel besser ist freilich das Gedicht, das Matsuo unmittelbar vorher am selben Ort geschrieben hatte; ich gebe es hier in etwas freierer Übersetzung wieder:
schmerzlicher Knoten
Bambussprosse zu werden
Menschen schreiten voran
Ja, das ist die leise Tragik: Menschen schreiten voran. Hito no hate. Fliegen auf wie Vögel, wie Meteore, wie Bambussprößlinge. »Ich wollte immer auffliegen wie ein Vogel aus der Schlucht; jetzt lebe ich außen am Kristall.« Dieser Satz von Gottfried Benn hat sich dem Halbwüchsigen, der ich war, eingeprägt und sein Bild-Wort-Gedächtnis nie mehr verlassen. Überallhin begleitet es mich, auf den Sturmberg, zu Matsuo Basho, nach Arashiyama.
Und jetzt ich hier, back in Hiroshima, mit meiner Liste, den ewigen Stapeln. Was kommt zuerst dran? Was kommt weg, was hinzu? Hertha Pauli (weil die spanische Übersetzerin mich um ein Vorwort gebeten hat) oder Henry James mit dem Venedig-Buch oder Joseph Brodsky, auch Venedig, weil ich demnächst wieder hinfahre und solche Reisen ohne literarische Begleitung / literarischen Ertrag gar nicht denkbar sind. Ob ich die Friedhofsinsel diesmal besuchen werde? Ich war nie dort, habe nur davon geschrieben.
Vielleicht sollte ich eine Weile gar nichts lesen. Die Buchstaben ziehen ohnehin nur noch an mir vorbei, routinemäßig, die Karawane der Sätze. Besser schreiben, das kann ich noch. Besser schreiben. Einen Stein den ohnehin schon himmelhohen Berg hinaufrollen, sofern mir die Eleganz des Rollens gegeben ist und ich mir das Schleppen ersparen darf. Noch einen Stein. Sisyphos auf dem Plateau von Babel.
Seit ich keinen Wert mehr auf eine eigene Bibliothek lege und nur noch ein paar Handbücher besitze, die ich auf einem Bauchladen – tragbare Bibliothek, ich höre euch sagen: Leg dir einen Kindle zu – durch die Welt führen kann, gebe ich Bücher, nachdem ich sie gelesen habe, gern weg. Vor mir das Erinnerungsbild einer nicht mehr gebrauchten öffentlichen Telephonzelle in einem österreichischen Dorf, zur freien Minibibliothek umfunktioniert, Spenden ebenso willkommen wie Ausleihen und Diebstähle. Sie sterben sonst aus, die Telephonzellen, und auch die Leserschaft ist eine rare Spezies geworden. Kürzlich in Osaka, verwandtes Bild, im gesichtslosen Meer der Großstadt, ein kleines, gut gefülltes Regal im Monorail-Bahnhof, diesseits der Absperrung, daneben ein Getränkeautomat, davor zwei Tische und ein paar Stühle.
Aber in Japan, wo ich die meiste Zeit lebe, welchen Sinn macht es (macht es) hier, deutsche oder französische oder spanische Bücher zurückzulassen? Wo nicht einmal Spezialisten, akademisch bestallte Erforscher des Fremden, in der Fremdsprache lesen? In einer österreichischen Kleinstadt habe ich vor etwa einem Jahrzehnt in einem Café den Action-Roman Brennender Zaster von Ricardo Piglia, der eine im griechischen Sinn tragische Geschichte – so die Selbsteinschätzung des Autors – erzählt, auf ein Regalbrett unter dem Fenster gestellt. Das Buch ist immer noch da, hin und wieder statte ich ihm einen Besuch ab; ob es gelesen wurde, auch nur ein einziges Mal, ich habe meine Zweifel. Flaschenpost, treib weiter, auf der Stelle. Au café de la jeunesse perdue, eines der zauberhaften Bücher von Patrick Modiano, habe ich letzten Sommer in einer Künstlerwohnung in Österreich zurückgelassen, die mir freundlicherweise für eine Woche zur Verfügung gestellt worden war (viele der zeitweiligen Bewohner dort kommen aus anderen Ländern, sprechen andere Sprachen). So gewinnt jedes von mir gelesene Buch eine zusätzliche Geschichte, an der ich manchmal sogar ein wenig teilhaben kann. Die Bücher leben weiter, es gibt keinen Tod, jede neue Lektüre, sei es auch erst in zehn oder hundert Jahren, transformiert es, je später desto mehr. Auch geboren werden die Bücher nicht, die Autoren nehmen nur einen Strom auf, nehmen an ihm teil, schwimmen mit dem und gegen den Strom, der durch die Zeiten fließt. Goethe am Faust-Strom, Kierkegaard am Don Juan-Fluß, Brecht am Bettler-Kanal – um nur berühmte, mit Namen benannte Beispiele zu geben. Wer schreibt, schöpft nicht nur aus dem Leben, aus individuellen oder kollektiven Erfahrungen, sondern aus den diversen Flüssen, Flußarmen, Tümpeln, Meeren der Literatur. Nicht zuletzt deshalb sind die ganzen Urheberrechtsdiskussionen so absurd. Fuck you, Kulturindustrie!
NO BIRTH NO DEATH! Aber was mache ich jetzt mit Dora Bruder? Ich hatte das Buch in eine Gesprächsrunde von Französischstudenten und –dozenten mitgenommen, habe es dann aber nicht gewagt, es jemandem zu schenken. Zumindest die Möglichkeit, daß es gelesen wird, sollte bestehen, aber die Studenten lesen ja nicht, jedenfalls nicht sowas, und ihre Lehrer auch nicht. Bei diesen für mich lehrreichen Gesprächen, in denen die Teilnehmer oft nur radebrechen, habe ich bemerkt, daß die jungen Leute (nur in Japan?) alle ihr kodawari haben, irgendeine kleine, nette Obsession, ein Hobby, ihr Fahrrad oder eine bestimmte Manga-Serie, oft seit ihrer frühen Jugend. Dabei bleiben sie dann, oft ihr Leben lang, wie ich von den älteren Gesprächsrundenteilnehmern erfahre. Eine Handvoll Filme sehen sie –zig und hunderte Male im DVD-Format, ein Buch, ein einziges, lesen sie einmal pro Jahr, in den Sommerferien, und die »Literaturwissenschaftler« halten es nicht anders, sie wissen zum Beispiel ALLES über den Ulysses von Joyce (der sich für ein solches Fachidiotentum besonders gut eignet, Finnegans Wake freilich noch besser).
Eine Studentin hatte als Kind das Elisabeth-Musical in Takarazuka gesehen, im berühmten Musical-Theater, wo ausschließlich Frauen auftreten, naturgemäß auch in Männerrollen. Seitdem interessiert sie sich für nichts anderes, ich mußte mit ihr die unsäglichen Gedichte unserer ehemaligen Kaiserin durchbesprechen, die sie dann ins Japanische übersetzte. Wenn ich mit mir vergleiche – man soll nicht mit sich vergleichen? Aber kann man denn anders? –: Ich wollte mir in diesem Alter alles aneignen, und noch jetzt will ich das, bin nie damit fertig geworden, schrittweise ALLES, die Neugier für das Unbekannte hört nie auf. Ist eine solche Haltung jetzt obsolet? Veraltet? Vielleicht ja, jedenfalls habe ich mit der Zeit gemerkt, daß ALLES nicht zu haben ist. Auch deshalb die Idee der Transversalität: Keine Territorien erschließen oder gar besetzen, sondern Linien ziehen, Querverbindungen, in Bewegung bleiben. Wie die Bücher und ihre einsamen, hoffnungslos einsamen Botschaften (Hoffnungslosigkeit, die von Zeit zu Zeit eines Besseren belehrt wird). Dora Bruder liegt ausgelesen auf einem Stapel in meinem Büro; ich werde zusehen müssen, daß das Buch nicht ganz nach unten wandert, sondern auffliegt, eines Tages, früher oder später.
Und meine Zukunftsliste? Unendlicher Spaß ist dazugekommen, Infinite Quest, Amazon hat mir, ohne die Postgebühr zu verrechnen (thx!), den zweiten Foster Wallace-Ziegel geschickt. Die Venedig-Schriften von Henry James – überhaupt nehme ich mir seit längerem vor, mehr von diesem Autor zu lesen. Ich habe schon mit der Lektüre begonnen, bald werde ich die Reise, das Eintauchen in die Wirklichkeit, antreten können.
Oder eine Weile gar nichts mehr lesen…
Ich wiederhole mich, es reicht. Mal sehen, wie lange ich es ohne Bücher aushalte. Meine Sternstunden als Leser sind ohnehin vorbei. Besser schreiben – ich wiederhole mich. Noch einen Stein den ohnehin schon himmelhohen Berg hinauf?
Noch einen. Ich wiederhole mich.
© Leopold Federmair
Witzig, Leopold F., warum sagst du denn immer »Infinite Quest« statt »Infinite Jest«!? Freudscher Versprecher, oder wie? Obwohl dein Ubw ja nicht ganz unrecht hat (das Ubw hat nie Unrecht!), wir alle sind immer auf der Suche, und D. F. Wallace erst recht.
Schade, dass ihr Essay nun aufhört. Aber es gibt ja Ihre Bücher, auf die ich nun neugierig geworden bin.
Hatte ich das Ende – eine Weile nicht lesen – vorausgeahnt? Ich hatte, bevor ich den letzten Teil gelesen hatte, einen ähnlichen – letztlich wohl platonischen – Gedanken: die Bücherhöhle zu verlassen und zur »Wirklichkeit« aufzubrechen. (Wobei ich – im Unterschied zu Plato – diese Wirklichkeit nicht unbedingt in einem Ideenkosmos vermute). Aber weisen gute Bücher nicht ohnehin den Weg ins Offene? (Da kommt mir sogleich der Vers Hölderlin in den Sinn: »Komm! ins Offene, Freund!«)
Ihr Essay hat mich außerdem dazu verleitet, meine Lektüren im Geiste Revue passieren zu lassen. Was ist davon geblieben? Was würdest du wieder lesen? Was würdest du noch gerne lesen? Welche Spuren weiter verfolgen? Und ich fange an, Listen zu machen ...
All das lässt sich kaum auf einen Nenner bringen.
Hatte mich anfangs verlesen. Statt
Aber weisen gute Bücher nicht ohnehin den Weg ins Offene?
las ich
Aber weisen gute Bücher nicht ohnehin den Weg ins Offline?
Pardon.
»Offline« können Sie gerne mit hineinlesen.
Seltsamerweise geht es mir ungefähr seit der Beendigung dieses Essays so, daß ich kaum noch ein Buch über die Hälfte hinausbringe. David F. Wallace hat mich nach ein paar hundert Seiten angeödet mit seiner ständigen Ostentation irgendwelchen Fachwissens und der Dauerironie, die er zu bekämpfen vorgibt. Oder George Steiner, dem ich früher sosehr vertraut hatte – er schreibt übrigens auch über Platon in »Gedanken dichten«, lauter Platitüden, und seine Urteile oft so vorgefertigt, den Kanon rauf und runter.
Selber denken, selber schreiben, das ist meine Privatparole. Und dann haben wir noch die Musik, wahrscheinlich eh das einzige, was die Menschheit in ihrer Existenz ein wenig rechtfertigt.
Kenne diesen Lese-Überdruss auch.
Bücher, über die ich geschrieben habe, rühre ich eine Weile nicht mehr an. Ich habe sie hinter mir gelassen. Manchmal stelle ich nachträglich fest, dass ich viel zu positiv geurteilt habe. Ein Buch »besteht« vielleicht erst beim oder während des zweiten Lesens.
»Infinite Jest« habe ich nach ca. 200 Seiten aufgegeben. Warum, weiss ich nicht mehr, einzelne Episoden fand ich brilliant, insgesamt fand ich’s aber überfrachtet. Später habe ich noch Erzählungen von DFW gelesen, die mich aber auch nicht bei der Stange zu halten vermochten.
Ich glaube, so kann mans sagen, DFW betreffend. Würde hinzufügen: ZU brillant. Will immer zeigen, was er draufhat. Vielleicht auch durch Drogenkonsum bedingt, auch die Längen und das Rasende, wie auf Speed oder Kokain, dann wieder Marihuana. Und wie Sie sagen, einzelne Erzählungen sind einfach gut, brillant ohne ZU. Was mich am meisten zu langweilen angefangen hat: Die Wehwehchen der Tennisprofis und Halbprofis und all derer, die es nicht schaffen werden. Was geht mich das an? Verleidet mir höchstens das sowieso schon arg verlittene Interesse am Kommerzsport.
Was ich noch als störend empfand: so, als wollte DFW die »totale« Kontrolle über die Fantasie des Lesers gewinnen. Und damit verbunden: ein Mangel an Gefühl, wann es genug ist. Das sind wiederum Symptome von Depression und Sucht.
Wer die Neue Frankfurter Schule schätzt, wird von David Froster Wallace bald genug haben. Sein Witz ist ein Trampeltier. Außerdem sieht man seine Krankheit um die Ecke luren, und die ist nicht schön. Jonathan Franzen z. B. ist besser und interessanter.
Naja, ich fand Foster Wallace mit seinem Romanfragment »Der bleiche König« allemal inspirierter und interessanter als ein Jonathan Franzen. Da hab’ ich nichts von Krankheiten gesehen und gelesen.
(Es wird mir ewig ein Rätsel bleiben wie man so schludrig mit Namen umgehen kann – der Mann heisst Foster Wallace, ohne »r«.)
Der Vertipper spielt doch schön transversal über die Bande: Ist das nun David Frost (»Frost« war doch kein übler Film) oder gar ganz entfernt Robert Frost?
»Der bleiche König« ist meiner Ansicht nach genauso prätentiös und langfädig wie »Unendlicher Spaß«. Wallace war vermutlich zu schlecht drauf um gut zu schreiben. Das war bei Thomas Bernhard ganz anders. Ein Lustschreiber! – Den hätte ich auch nennen können. Ich würde die Billigesser nicht für den gesamten Wallace hergeben. Wittgensteins Neffe und das eine oder andere seiner Stücke (Ritter, Dene, Voss) auch nicht. Auch nicht Werner Schwabs Präsidentinnen.
Ich hätte als Wallace-Gegenbilder auch Heine nehmen können oder noch besser: Lichtenberg, oder Kurt Tucholsky, Molière, Jean Paul, ähh, oder so Sachen wie Lumpazivagabundus oder den Datterich. Wurscht.
Sorry wg. Vertipper, ich – äh – verfüge über sehr große blinde Flecken und deshalb eine eher spezielle Wahrnehmung des Buchstabengewimmels (mir war das lange nicht klar – woher auch, man sieht ja nur wie man selbst, und nicht mit den Augen anderer...) Andererseits, mit Phor(!()kyas und Ernst Elias Niebergall geredet: David Fr(!)oster Wallace isss gaa ned schleschd! Der innere Frost, ne, ist in der Tat eine Empfindung, die mit psychischen Ausnahmezuständen gern einhergeht, und darunter litt – - – der Autor Wallace sehr.
Auf Franzen lass ich nichts kommen. Von psychischen Ausnahmezuständen weiß er sehr anschaulich zu schreiben – vor allem davon, wie die auf das jeweilige Gegenüber wirken und eine Situation »färben«. Ganz großes Kino, wie ich finde. Technicolor!
Wallace war vermutlich zu schlecht drauf um gut zu schreiben.
Da bin ich eigentlich schon ‘raus. Pardon.
Es ist nicht leicht, so krank und suizidal zu sein wie Wallace. Er nahm heftige Psychopharmaka – und er nahm sie unregelmässig. Das ist besonders schlecht.
Wir wissen viel über diese Dinge. Und wir haben seine leider pseudo-witzigen Bücher, offenbar von höchst persönlichem Elend beschwert. Er hat auch ein paar interessante Sachen geschrieben, aber früh an schon – z. B. im Rolling Stone, besserwisserisches Zeug, das zwar eine flirrende sprachliche Gestalt hatte, aber wenig Plausibilität. Für mich das Paradebeispiel, seine pseudo-souveräne Parteinahme für John McCain im Rolling Stone.
Das leuchtende Gegenbeispiel ist für mich Thomas Bernhard, der einer miserablen persönlichen Disposition eine umwerfend produktive Schreibhaltung abgewann.
@Dieter Kief: Ich kenn’ bisher nur »Die Entdeckung des Unendlichen: Georg Cantor und die Welt der Mathematik« und »This is water« von Wallace. Aber das sehe ich überhaupt nicht von Wallace psychischer Verfassung überschattet – für den Blogherren winken Sie damit nur leider mit einem rötlichen Tuch, wenn Sie sich Autoren-autobiographisch so sehr einfärben lassen. (Aber mir ist’s auch schon ähnlich ergangen: Nabokovs »Ada« war mir einfach unerträglich, weil vielleicht etwas viel der gezierten »Aristrokratie« des Autors durchschien, musste ich nach 20 Seiten weglegen)
@ Phorkyas – Das Hauptproblem bei Wallace ist, dass er in »Unendlicher Spaß« keinen Rhythmus findet und wenn er einen hat, dann ist es der schwere, schleppende Taktschlag eines Trauermarschs. Das Buch ist nicht witzig, sondern langfädig. Witz lebt vom Takt. – Das kann man bei Gernhardts Gedichten sehen, aber auch in seiner Prosa – und in seinen Aufsätzen. – Z. B. in dem über Wilhelm Busch – ein einsichtsreicher Lichtblick, der auf ganz leichten Sohlen daherkommt. – So macht man das!
Wallace’ Thema ist gut: Spaß und die Unterhaltungsindustrie (einschließlich des Sports, den Wallace als semiprofessioneller Tennisspieler gut kannte) als Narkotikum und die nakotisierende Wirkung des auf Dauer gestellten Spaßes – nicht zuletzt des Drogenkonsums. – Aber das sind uralte Hüte, und jede zweite (mindesten) Rockstar-Bio berichtet davon, und noch die letzte Thekenbeichte lebt von den unweigerlich auftauchenden Versatzstücken. Das Gehalt der Suchttherapeuten ist nicht zuletzt eine Belohnung dafür, dass sie die – unendlichen – Wiederholungen ertragen, die, mit der Inbrunst des gerade selbst (=authentisch...) Erlebten vor ihnen stets aufs Neue ausgebreitet werden.
Das Thema von »Unenedlicher Spaß« ist gut – die Ausführung unbefriedigend.
»This is Water« fand ich auch gut, hab’ aber letztjahr jemand aus den USA getroffen, der auch diese Rede bereits für oberprätentiös hielt. Will nochmal gucken. – Von Nabokov hat ein Text über seine Ausflüge mit seinem Sohn zu einer Brücke über die Eisenbahn am Ufer des Genfer Sees um Lokomotiven zu beschauen meine paar anderen Lektüren komplett den Rang abgelaufen. »Lolita« leuchtet manchmal noch (schwach, ganz schwach) nach. Der Eisenbahntext ist freilich einer, auf den ich regelmäßig – und damit im Hinblick auf alles andere, was ich je gelesen habe: Weit überdurchschnittlich oft zu sprechen komme. Das ist ja auch ein Thema Leopold Federmairs: Wie viel des Gelesenen bleibt in Erinnerung – und auf was davon greift man auch nach der Lektüre – und wie lange danach, möchte ich dazufügen – noch bewusst zurück.
Gernhardt, Wilhelm Busch und Thomas Bernhard...Das ist wirklich lächerlich.
»Gernhardt, Wilhelm Busch und Thomas Bernhard...Das ist wirklich lächerlich.«
Logo – zumal ich Arthur Schopenhauer noch dazufügen könnte, das würde den »Schkandal« vielleicht noch runden, ne.
(Zutritt nur für Verrückte: »Alles außer Karl May und Hegel ist eine unreine Mischung.« – Und Humor, füge ich diesem früher berühmten Diktum hinzu, ist die Sauerei schlechthin – denn es geht dabei nicht zuletzt um Körpersäfte...)
Ihre Äußerungen zur Literatur befähigen Sie nur zu einer Sache: Als Mitdiskutant beim »Literarischen Quartett«. Bewerben Sie sich mal. Anschauen würde ich es mir – lesen eher nicht.
Jetzt werden Sie lustig, Gregor Keuschnig!
Ich frage mich freilich, was ich in einer Sendung soll, die ich nicht anschaue. – Ok, ich könnte Ihnen einen Gefallen tun, hehe...
PS
Vorhin aus dem Grundrauschen in meinem Kopf noch zu dem Obigen über Arthur Schopenhauer, Robert Gernhardt und Humor aufgetaucht: Es gibt nur Wilhelm Busch und Jackson Pollock, – alles dazwischen ist eine »unreine Mischung« (Ernst Bloch).