Robert Kornblum, halbintellektuelle[r], alternde[r] Penner, (vulgo: arbeitsloser Studienabbrecher, 35 Jahre), Dachdecker und Gelegenheitsbauarbeiter, wacht nach durchzechter Geburtstagsfeier zu Hause auf. Einmal im Jahr erlaubt er sich zu trinken, ansonsten ist er seit drei Jahren trocken. Er hat einen Filmriss und weiß nicht mehr, was letzte Nacht passiert ist. Zum Glück erweisen sich die Markierungen auf seiner Stirn nicht als Tattoos, sondern abwaschbar. Aber das urinieren fällt ihm schwer und er wirft einen Blick nach unten und sieht das Kondom. Was war geschehen?
Kornblum rekapituliert mühsam die letzte Nacht und dem Leser eröffnet sich eine gänzlich fremde Welt. Zunächst denkt man an eine Art Rotlichtidylle à la »Der König von St. Pauli«, aber dann merkt man, dass das Ganze in Berlin spielt und mit Prostitution allenfalls am Rande zu tun hat. Die große Familie trifft sich bei Hussi, dem serbischen Wirt (mit kroatischer Frau). Da ist Ronny, noch ein Quoten-Trockene[r]. Ihm gehört eine Gerüstbaufirma, bei der Robert schon mal einen Hilfsjob annimmt. Beim Eintreten ruft Ronny stets sein »Heil Hitler«, aber wehe, irgendjemand erwidert diesen Gruß – dieser findet sich dann durchgeprügelt auf der Straße wieder, denn Ronny ist rot wie zehn Sowjetparteitage. Oder Manfred, ein Contergan-Fall, der eine Firma für Grabkränze betreibt. Zwar schiss ihm beim Wettfurzen manchmal das Dünne ein, aber ansonsten läßt man nichts auf Mannel kommen. Dann Hauke Brettschneider, Kornblums bester Freund (der Mann des Dauerschmerzes), Philosoph und Ratgeber in allen Lebenslagen. Schließlich ein Herr Dichtersänger, der praktischerweise gleich nach seiner Mütze DEKRA benannt wird. Und die zwei weiblichen »Angehörigen«: Die liebestolle Karola und eine Frau, herrlich wie ein Backstein-Scheißhaus, im weiteren Verlauf kurz Backstein genannt (eine Prostituierte auf eigene Rechnung). Gestorbenen Freunden wird eine Vier-Ce-Ell Doppelkorn-Mahnwache nebst Foto Korkpinnwand zuteil. Die bierselige Sentimentalität der knuffigen Vorstadtkrokodile für Erwachsene ist hinter einer gehörigen Portion Raubeinigkeit versteckt, die sich durchaus auch schon einmal nonverbal entladen kann.
»Vor Glück dement«
Mühselig schält sich heraus, dass Kornblum die Nacht mit einer Frau verbracht hat – mit Theresa, genannt Terri, Nachname Mind (ein durchaus sprechender Name). Die kommt kurz nach seinem Aufwachen mit den Frühstücksbrötchen zurück. Kornblum ist überrascht und fasziniert von der Frau mit den Husky-Augen (die Vorzüge der anderen Körperregionen möge der geneigte Leser bitte selber herausfinden). Er siezt sie anfangs sogar, was entsprechend kommentiert wird: »Mein Bester, wir haben gevögelt wie die Karnickel. Du hast mir einen Antrag gemacht und ich hab Ja gesagt. Sie? Sagen wir jetzt S i e?« Robert Kornblum steht am Rande der Ehe. Erfreut, schockiert, zweifelnd, verliebt – und schließlich dann vor Glück dement. Und sie hat nun den ersten gemeinsamen Einkaufszettel im Kopf. Ein Schwanken zwischen Sehnsucht und Angst vor der Verbürgerlichung, so etwa à la: »Wenn ich groß bin, will ich auch mal Spießer werden.«
Es kommt, wie es kommen muss: Kornblum hebt sein Trockenheitsgebot auf und wird terrisiert. Niemand scheint ihrem Charme gewachsen; fast alles fliegt ihr zu. Kornblum sonnt sich mit ihr. Und die Beschwörungen »mein Mann«, »meine Frau«, ja sogar mein Mensch bilden von nun an die Klammer und gleichzeitig Verheißung ihrer Beziehung. Nach einigen Tagen wird er von den Kumpels vermisst. Man erkundigt sich brieflich und mit einem Rotkäppchen-Korb bestehend aus zwei Literflaschen Roten, eine Großpackung Kümmerling, zehn Warsteiner, eine Büchse Rindfleisch im eigenen Saft, Aspirin nach dem Wohlbefinden. So zärtlich klingt das Milljöh.
Das alles wird in hohem Tempo im schnoddrig-ironischen Stil irgendwo zwischen Sven Regener und Charles Bukowski erzählt. Insbesondere der Beginn mit der Darstellung einer Terri in sechs Versionen (Rotzgöre, Schlampe, Luder, katzenhaft Beobachtende, Hausfrau und Handwerkerin und Schlafende) ist plastisch und mitreißend, weder peinlich noch obszön, obwohl durchaus deftig und mit entsprechend rustikalem Vokabular erzählt.
Reen greift zu einem erzählerischen Trick: Insbesondere zu Beginn (später seltener) wechseln die Erzählpositionen der einzelnen Kapitel ab. Es beginnt mit dem Ich-Erzähler Kornblum. Über die Ereignisse, die ihm zwangläufig unbekannt sein müssen, wird ein auktorialer Erzähler bemüht. Hier erfährt der Leser früh, dass Kornblum einem Ideal anhängt, dass es so gar nicht gibt: Beispielsweise an dem Morgen, als er noch seinen Rausch ausschläft, treibt sie es auf dem Weg zur Bäckerei mit einem fremden Mann, einem Schotten, dem sie zufällig auf der Straße begegnet. Das passt zu ihrem unsteten Wesen. Terri ist eine Getriebene, die mit ihrem viereinhalbjährigen Sohn Jules durch Berlin irrlichtert, finanziert von ominösem Geld (das wird später aufgeklärt). So weiß der Leser früh mehr als der liebesblöde Kornblum gewusst hat.
In diesem Verfahren liegt auch eines der Probleme des Buches: beide Stimmen erzählen im nahezu gleichen Duktus; sie sprechen im gleichen derb-opulenten, gelegentlich kalauernden Kneipenjargon. Ein auktorialer Erzähler müsste in einem deutlich anderen Ton sprechen als ein Ich-Erzähler, schon, um nicht eine Gleichförmigkeit beim Leser zu erzeugen, der beim ersten Mal nur zufällig den Perspektivwechsel bemerkt.
Das Fallbeil ‘Borderline’
Interessant wäre es gewesen, wenn Sten Reen Terri als zweite Ich-Erzählerin eingeführt hätte. Allerdings fällt nach ziemlich genau einem Drittel des Romans das Wort »Borderline« in Bezug auf Terris Verhalten wie ein Fallbeil auf die Protagonisten nieder. Somit dürfte sich eine halbwegs konzise Erzählhaltung einer derart Gezeichneten sehr schwer realisieren lassen. Da der Roman jedoch im Präteritum erzählt wird und Kornblum beim Erzählen alle Kenntnis hat, ist der Perspektivwechsel zu einem auktorialen Erzähler nicht einzusehen, zumal dieser nicht ausreichend vom Ich-Erzähler abgrenzt. Hinzu kommt noch, dass der Leser einen Informationsvorsprung erhält, den er in diesem Fall vielleicht gar nicht möchte.
So sieht man Kornblum in die Katastrophe hineinschlittern. Nach fünf Wochen wird zum ersten Mal das Pulver knapp, aber es kommt zur »Verlobungsfeier«. Diese gelingt als stimmungsvolles Fest mit einem wahren Gangbang der Grüße, Wünsche, Küsse, quetschenden Umarmungen, wird dann plötzlich aber fast wörtlich gesprengt, als Terris »Ex« Hannes, der Vater von Jules, auftaucht. Jeder prügelt sich schließlich mit jedem (wie in einem Bud Spencer/Terence Hill-Film) und Terri macht sich aus dem Staub. Der Leser reibt sich kurz darauf die Augen, aber es ist keine Rückblende, die ihm da erzählt wird: Terri schläft mit Hannes – und das im Nachklapp der Verlobungsfeier mit Robert.
Diese Affäre lässt sich nicht verheimlichen. Aber dieser Robert hat ein großes Herz; seine Verliebtheit (und Geilheit) ist immens. Er verzeiht ihr, verklärt Terris Ausreißer als Schlussakt der Hygiene, ignoriert den Therapeuten-Befund, dass sie eine Art Pendlerin zwischen zwei Männertypen ist und vertraut auch ansonsten gerne Glückskeks-Weisheiten. Beide fahren nach Rügen zu Terris Freundin Jacqueline Vogt, die ein kleines Hotel betreibt. Anfänglich wähnen sich die beiden in ihrem notdürftigen Campingbus wie im Paradies und verwilderten…wie im Zeitraffer. Aber auch hier zerbricht die Idylle; Terri ist die Überfürsorge Kornblums satt und empfindet die Akzeptanz von Jules ihm gegenüber (er, Jules, will ihn, Kornblum, als Gute-Nacht-Erzähler) als persönliche Kränkung. Sie wird wütend und beschimpft Kornblum.
Desweiteren muss er sich auch noch Avancen eines weiblichen Hotelgastes erwehren, was Terri noch zusätzlich eifersüchtig macht. Schließlich treibt sie es mit Vogt, obwohl diese auf dem Weg war eine einsame, ungefickte, alte Schabracke zu werden. Wieder steht die Beziehung vor dem Bruch, Kornblum ist schon weggefahren, aber im letzten Moment raufen sich die beiden zusammen und wie Reen das beschreibt ist großes Kino, wie überhaupt gelegentlich David Lynchs »Wild at Heart« und diese künstlich-klebrige Liebesgeschichte der beiden durchgeknallten Sailor und Lula durchschimmert, wobei meist der Kitsch gebannt bleibt, manchmal jedoch nur aufgrund der pompös inszenierten, gelegentlich anstrengenden und angestrengt wirkenden Wortassoziationsspielchen.
Zurück in Berlin finden sie eine Wohnung und richten diese terri-gemäß ein. Sie blüht auf, hat eine Aufgabe indem sie sich dem Projekt LEBENSKUNST widmet; befindet sich im messianischen Hoch: Sie und Robert fotografieren möglichst authentisch ihre Freunde und möchten diese Bilder dann ausstellen (ein ästhetisches »Programm« gibt es nicht). Tatsächlich findet sich nach vielem Suchen Roberts Zahnärztin Franka (eine Ehemalige?), die auch ein bisschen durchgeknallt und dennoch (oder gerade deswegen) einige Promis als Patienten hat (Milchkaffesäufer nennt sie Kornblum) und die Ausstellung schließlich in ihrer Praxis ausrichtet.
»Kopfschnupfen«
Aber auch diese Arbeit Terris läuft nicht ohne Probleme. Sie betrügt Robert immer wieder, oft mehrmals am Tag und verführt sogar Hauke, was sie später je nach Stimmung mit großem Triumph oder unendlicher Scham berührt. Die Eröffnung der sozialpornografische[n] Ausstellung scheint dann fast wider Erwarten ein voller Erfolg zu werden, aber es kommt abermals zu einer deftigen Prügelei. Etliche Teilnehmer finden sich im Krankenhaus wieder und Robert und Terri lernen Frau Dr. Bennetter (Robert machohaft: weiblich und brunnentief) kennen, die sich mit Borderline-Patienten auskennt und Terri zu einem Klinikaufenthalt überredet.
Spätestens als Borderline am Ende des zweiten Drittels als manifestes, bedrohliches Krankheitsbild auftaucht, wird Terri vom Autor, den Protagonisten und vom Leser pathologisiert. Noch am schönsten ist die Bezeichnung, die Jules gefunden hat: Kopfschnupfen. Der Erwachsene bekommt die Gewissheit einer allgültigen Diagnose: Dass sich Terri von Robert einerseits zu sehr bemuttert und sogar reglementiert, andererseits jedoch nicht ausreichend respektiert fühlt, ihre latente Promiskuität (von der Robert keine Ahnung hat), die Saufeinlagen, Beleidigungsläufe und (gegenseitigen) Raufereien – alles wird von Robert und Hauke fein säuberlich notiert und als Bestandteile der Persönlichkeitsstörung subsumiert. Das bekommt streckenweise einen leicht unangenehmen, pädagogischen Zeigefinger-Unterton, als wollte uns der Autor nebenbei ein bisschen »aufklären« und seinen Roman mit Bedeutung aufladen. Es überrascht dann nicht mehr, dass der Arbeitstitel »Borderline. Liebe als Kampferklärung« war, wie man bei »Facebook« nachlesen kann.
Terri bricht die Therapie ab; sie fühlt sich nach kurzer Zeit wieder stark. Dennoch erlangt sie nur einen Zustand der stabile[n] Instabilität. Robert überschätzt seine therapeutischen Fähigkeiten, glaubt mit seiner Liebe und viel Verständnis alles heilen zu können. Die Aussicht auf das Familienidyll mit Hund und Kind vernebelt ihm die klare Sicht. Die Ausnahmezustände (Terri hat dann immer das Gefühl, dass sie stark schwitzt und stinkt; Reen beschreibt diesen Zustand sehr schön) wechseln immer schneller mit den Versöhnungen. Jede Milch verfügte über stabilere Haltbarkeitsdaten. Im Gespräch mit Hannes kommt Robert auf die Spur für die vermeintliche Ursache ihrer »Persönlichkeitsstörung«. Hannes erzählt aus Terris Kindheit. Sie ist die Tochter einer Prostituierten und eines Rotlichtbosses. Die Mutter trennt sich von Terris Vater als diese ein Kind ist und heiratet einen anderen Mann in der hessischen Provinz. Der Stiefvater, Horst Jansen, ist anfangs rührend besorgt. Ab dem 12. Lebensjahr wird sie jedoch für mindestens vier Jahre von ihm systematisch und regelmäßig sexuell missbraucht. Als sie es ihrer Mutter erzählt, erfährt sie schroffe Ablehnung und Unverständnis.
Große Wut bei Robert. Gleichzeitig treten die Verwirrungen, Trennungen und Eskapaden in noch schnelleren Rhythmen auf. Einmal »befreit« Robert die unter Alkohol und Koks stehende Terri aus einem Sexclub, in dem sie sich von vier Männern gleichzeitig penetrieren lässt. Fast wie Ertrinkende beschließen die beiden dann an einen Plan, der das Böse für immer und ewig beseitigen soll. Ihre Ausrüstung mutet skurril an: 2750 Euro, einen Packen Bilder, eine Fotoausrüstung und ein Trommelrevolver – Vermächtnis des »richtigen« Vaters; für den Notfall.
Road Movie in den Exorzismus
Kurz bevor die beiden zu ihrem Bonny-und-Clyde-haften Road-Movie von Berlin ins Hessische aufbrechen gibt es die anrührendste Szene im Buch, eines der seltenen kontemplativen Momente:
Sie legte sich wieder an mich und ich gab auf. Liegen und liegen lassen kalauerte mein Hirn. Alle meine lebenserhaltenden Systeme fuhren herunter. Ich lag da, so matt und ohne Außenrand, als würde ich mich auflösen und in die Matratze suppen. Sie streichelte mich. Langsam. Fast nachlässig. Musik setzte ein. […] Eine Oboe, etwa drei Stockwerke über uns. Ein Könner. Keine nervigen Tonleitern, kein Wegquietschen und Neuansetzen. Lag es an uns oder lag es an ihm? Musste man sich erst einmal die Seele aus dem leib gedroschen haben, erst restlos leer sein, um Musik hören zu können?
Töne ohne Gravitation. Abendhimmel im Fenster, Kerzen um ihn, ein Glas Wein – so, genau so glückswehmütig musste er da oben sitzen. So spielte er. Die ganze Welt war versickert und er füllte sie neu auf. Diese weichen, geduldigen Töne, Terris Hände (heilende Hände plötzlich) – mir schien, als wenn das ganze Haus wie ein einziger Körper still wurde und mit uns lauschte.
[…]
Wir wollten nichts Hysterisches, wir wollten ihr nur helfen, der Oboe. Solange wir auf ihre Signale antworteten, konnte, durfte sie nicht aufhören. Und wir halfen einander diesen schwermütigen Unterton zu halten, die Zärtlichkeit. Wie lange spielte er? Vielleicht eine Stunde?Als es vorbei war, tat es ein wenig weh. Wir lauschten noch ein paar Sekunden ins Leere und seufzten gemeinsam auf. Terri sah mich an, sie hatte Tränen in den Augen und lächelte. […] Diese Stunde war wahrscheinlich die einzige, in der wir uns tatsächlich geliebt hatten. Richtig geliebt, keiner mehr, keiner weniger als der andere.
Als Kontrast dazu endet die Szene mit dem üblichen Gerammel und dem merkwürdig resignierenden Satz Was sollten wir sonst tun, wir wussten es nicht besser.
Die melancholischen Abschiedspassagen zu Beginn der Fahrt suggerieren dem Leser, dass man den Stiefvater ermorden will. Man kommt unter bei Üwchen, einem (platonischen) Jugendfreund Terris und lauert mit der Fotoausrüstung dem Stiefvater auf (sie ist entsetzt, wie alt er jetzt aussieht). Die beiden verschicken Denunziationsbriefe und kleben Plakate, in denen sie Jansen als Kinderschänder im ganzen Dorf bloßstellen. Das mutet an wie ein Exorzismus, mit dem die beiden den bösen Geist aus Terri austreiben wollen, in dem man die Öffentlichkeit aufklärt und damit am eigenen Schicksal teilhaben lässt. Der Schluss ist furios, überraschend und verstörend und soll hier nicht verraten werden.
Auf und ab
Wunderbar zärtlich erzählt sind die Passagen über Jules, Terris Sohn (er ist am Ende des Buches sechs Jahre alt), die eine große Könnerschaft des Autors erkennen lassen. Robert liebt dieses Kind abgöttisch und der etwas altkluge Bursche gewinnt in den Erzählungen und Episoden tatsächlich auch das Herz des Lesers.
Kornblum selber erscheint als großmütiger, rühriger Berserker; ein bisschen trottelig (daher passen die bildungsbürgerlichen Anspielungen in Bezug auf Literatur nicht so gut; in mindestens einem Fall liegt Robert auch falsch). Seine Liebe ist so stark, dass er die Beleidigungen und Demütigungen bis zum Ende wegsteckt. Man fragt sich irgendwann allerdings, warum das Buch nach ihm benannt ist und nicht »Terri« heißt, da sie über weite Strecken die handlungsbestimmende Figur ist (das Ende legt die Antwort dann nahe). Viele andere Figuren (auch aus der Kneipenidylle) bleiben arg schemenhaft, auch wenn sie kapitelweise durchaus physische Präsenz haben. Sie bleiben dennoch nur Kulisse.
Leider büßt das Buch durch die Motivsetzungen »Borderline« und »Mißbrauch« große Teile seines herb-wilden Charmes ein, da von nun an das Kästchendenken beginnt. Der Leser kann diese Diagnosen nicht mehr abschütteln; jede Verhaltensweise wird dadurch irgendwie erklärt, und am Ende sogar goutiert. Die selbstgeplante und exekutierte Rache am Stiefvater bekommt den Ritterschlag der guten Tat, die sexuellen Exzesse Terris nimmt man nachher als so selbstverständlich zur Kenntnis wie ein Abendessen.
Es gibt auch einige kleinere Ungereimtheiten, wie zum Beispiel die finanzielle Situation Kornblums, die mal als hochverschuldet dargestellt wird (Gerichtsvollzieher in Sechserreihen vor der Tür werden da angekündigt), dann jedoch über weite Strecken gar keine Rolle spielt und man sich fragt, womit die beiden das alles bezahlen. Dennoch ist »Kornblum« ein furioses Buch. Es ist sprachlich vielen anderen authentizitäts-simulierenden Romanen der aktuellen deutschen Gegenwartsliteratur überlegen. Sten Reen ist ein plot-orientierter Erzähler und immer wieder setzt es überraschende Wendungen. Der Erzählsound wird über die gesamten 500 Seiten des Romans durchgehalten. Das verlangt vom Leser Durchhaltevermögen. Zwischenzeitlich ist einem dieses fortlaufend maniriert-ironisierende Wortgewitter durchaus schon mal zu viel. Die letzten einhundert Seiten liest man dann wieder wie in einem Rausch.
Es ist zu befürchten, dass »Kornblum« irgendwann verfilmt wird. Vielleicht mit Sandra Speichert oder Franka Potente als Terri (oder Alexandra Maria Lara?) und Detlev Buck (natürlich!) als Kornblum. Aber das spricht ja nicht gegen das Buch.
Ach ja: Ich freue mich jetzt schon auf Sten Reens zweiten Roman.
Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.
Nach dieser Besprechung bedauere ich es, dass meine Leseliste doch schon zu lang ist, als dass dieser Titel noch hinzugefuegt werden koennte. – Aber so scheint es nicht zu unrecht, dass in einigen Kommentaren, die ich irgendwo las, dieses Buch empfohlen wurde. – Und jetzt weiss ich auch etwas differenzierter warum. Vielen Dank!
Irgendwie schade, denn Sie werden vermutlich nie diesen Schluss lesen...
(Natürlich: Volles Verständnis für begrenzte Ressourcen.)
Ich melde mich ein wenig spät, Ihre Buchvorstellung steht ja schon einige Tage online. Aber irgendwie habe ich auf eine größere Resonanz gewartet, denn es ist Ihnen wieder gelungen, mit „Kornblum“ dem interessierten Leser aktuelle deutschsprachige Literatur zu präsentieren.
Ich weiß sicher, dieses Buch werde ich im Sommerurlaub lesen ( eigentlich viel lieber früher, aber die 500 Seiten schrecken ein wenig ab, im „normalen“ Alltag lässt es sich kaum einbauen. Das habe ich mit Pleschinskis Roman erst kürzlich wieder feststellen müssen).
Bin wirklich auf Ihre nächste Rezension neugierig, Sie spannen einen Bogen, der ist wirklich beachtlich.
( Ein so schöner Link: »Wenn ich groß bin, dann will ich auch Spießer werden« :) )
Wo soll die Resonanz herkommen? (1.) ist das Buch relativ neu, (2.) wird es nicht gehypt und (3.) hat dieser Blog nur sehr wenige Leser. Insofern bin ich schon mit zwei Kommentaren gut bedient.
Habe im Netz eigentlich um diese Uhrzeit nichts zu suchen, es liegt viel Arbeit auf anderen Baustellen an.
Nur flugs ein Videolink rübergeschickt, es kommt gegen das Spießervideo nicht an, aber in der 33. Sekunde löst es ein Grinsen aus. John West is the best oder ...
zu (1):stimmt
zu (2): stimmt auch
zu (3): kann ich nicht beurteilen, kenne die Leserstatistik nicht
„Insofern bin ich schon mit zwei Kommentaren gut bedient.“
No ja, ...
... o.k., ich verweise auf den obigen Link.
In der Tat..
scheint es in den Feuilletons noch keine Besprechung gegeben zu haben (von der einmaligen Erwaehnung hatte ich faelschlicherweise zu einer groesseren Bekannheit extrapoliert). Stattdessen arbeitet man sich jetzt wieder an irgendeinem Schluesselroman ueber Suhrkamp ab, und raeumt diesem schon vor Erscheinen gewaltig Platz ein, i n d e m man sich darueber beschwert, dass dies nicht geschehen sollte.. und es obenhin der Roman vermutlich gar nicht Wert waere – Trotzdem laeuft die Maschinerie der prophylaktischen Skandalbeschwerer ( – schon wieder? – vielleicht sollte ich mal eine Statistik fuehren, wie viele der Beitraege, in so einer Sache sich ueber den [dann manchmal noch nicht einmal stattgefundenen] Skandal echauffieren und ihn dann so forcieren..) –
Ignorieren ist doch eine Kunst (die ich hier auch haette anwenden sollen, denn so habe ich diesem Aergernis, auch schon wieder zuviel Zeilen gewidmet – aber ich bin froh, dass es das hier nicht gibt, und auch Besprechungen von kleineren Buechern abseits – gerade im Vergleich mit dem oben erwaehnten Noch-Nicht-Skandal kommt man sich doch auf Ihrem Blog vor wie auf einer Insel der ruhigen, gelassenen Vernuenftigkeit.. oder gar Zurechnungsfaehigkeit?)
Naja, über Hegemann hatte ich ja auch einiges geschrieben, wobei mir der Skandal weniger bei den Abschreibekünsten der Dame lag, sondern bei der allzu wohlwollenden Haltung diverser Feuilletonisten, die sich als Werbebotschafter exkulpierten.
Was da jetzt gegen Frau Unseld-Berkéwicz ablaufen soll, ist schon erbärmlich. Da schreibt ein ausgebrannter Autor einen Schlüsselroman (den womöglich niemand kennt), um jemanden zu diskreditieren, der einem nicht passt. (Es geht wohl auch um das Buch »Überlebnis« – was mich übrigens beeindruckt hatte.) Unverständlich, dass der Hanser-Verlag (vulgo Michael Krüger) so etwas inszeniert. Ekelhaft.
Das alles ist natürlich einfacher, als sich mit Literatur zu beschäftigen.
Nicht Wiederaufruehren..
wollte ich dieses unwuerdigen Thema (Hegemann), aber ich schneide es natuerlich wieder an. – Die Aufmerksamkeits- oder Erregungsstrukturen von Oeffentlichkeit finde ich sehr verdriesslich – als ich zu Hegemann doch recht viel gelesen habe kam ich mir vor wie ein Vouyeur a la Bild. (Ich fand hingegen die Sebstreferentialitaet schon klebrig – der Umblaetterer lobt diese ja gerade, und das mag ich auch verstehen, wenn da ein Geflecht erzeugt wird, dessen Rezipier-Genuss gerade in dem Verstehen der aufgestellten Bezuege besteht -.. aber so ist es doch manchmal auch ein buntmisstoenendes Karussel, das um sich selbst dreht und von dem ich mir fast gewuenscht haette, man haette das schmuddelige Ding in irgendeiner Ecke weiter rotieren lassen).
Geht es also darum: Aufmerksamkeit zu bekommen, in Zeitung und Blog. Und dazu muss man einen Nerv treffen, sich dem Zeitgeist anbiedern, um ueberhaupt noch ein Stueck vom Oeffentlichkeitskuchen abzubekommen, vom knappen Gut der Zeit seiner Leser ? -
reen
ich glaube, reen hat den nachteil, daß er nicht so stylish wie judith hermann oder sven regener daherkommt – sondern dem leser einfach eine spannende geschichte erzählt.
das ist für das feuilleton vermutlich »bastei-lübbe«, statt literarisch-wertvolles rezensionsfutter.
gut erzählt ...
nein, das ist strand!
und außerdem: wer ist denn das? reen? keine vita? ein berliner pynchon? oder doch nur ein hobbybastler?
ich wünsche dem roman den erfolg, welchen er verdient – ob mit oder ohne interesse/goutierung der literaturkritik.
@soul
Mit Hermann hat Reen nun gar nichts zu tun; mit Regener schon eher. Keine Ahnung, warum das Feuilleton keine Notiz davon nimmt. Die Charaktersierung »Strand« gefällt mir sehr gut.
Vita hat er natürlich – aber eher eine seines Alter ego Kornblum. Das ist vermutlich auch nicht so prickelnd für die Meinungsmacher.
(Ich habe nichts gegen »Hobbybastler« – für mich zählt nur das Resultat.)
ich habe mir das buch nach ihrer besprechung hier gekauft, es lag einige tage, ich las es in der u‑bahn an, hat nicht funktioniert weil es volle aufmerksamkeit fordert. zumindest meine. nach terrys erstem einsatz als erzählerin war ich soweit, das buch in die ecke zu kloppen. es war mir zuviel, ich habe es nicht verstanden. und dann habe ich diese erste und für mich einzig langweilige, trotz aller konfusität, aber vielleicht auch einführende/weiterleitende (fast wie belohnung fürs durchhalten) strecke geschafft und war froh, weiterzulesen. ich dachte zwischendurch, der mann muss doch eine frau sein. und, der muss doch durch jedes loch schon selbst gekrochen sein. sonst geht das alles gar nicht. ein tolles buch. ein großartiges ende. danke für ihre empfehlung.
und schön, dass es ihr blog gibt. ganz ehrlich.
Soul (Nr.9) hat,ohne es zu merken, das Pseudonym entarnt.Wer War´s? Ersetze ein t durch ein v,nehme ein g und ner weg und schon erscheint ein altbekannter »stylischer« Autor.
Keuschnig hat recht:es ist schon erstaunlich,daß die deutsche Literaturkritik keinerlei Lust verspürte,den Autor zu enttarnen.
Dann hätte ich ja nicht so falsch gelegen...
(Und es wäre ja eine doppelte Blamage für die etablierte Literaturkritik, die ja derart auf Namen »abfährt«.)
Merkwürdig: Das Geburtsjahr beider genannten Autoren stimmt wohl überein ( ) – und im Taz-Blog forderte auch schon jemand Sven Regener solle doch endlich mit seinem Buch »Kornblum« auf Tournee gehen,.. oder (ein anderer?) es sei besser als alle anderen Romane von ihm. Die Tagesspiegel-Rezension von Kornblum startet mit dem Regener-Vergleich ( http://www.tagesspiegel.de/kultur/die-ohnmacht-des-engels/1863438.html ).
(Etwas frustrierend, nun würd’ ich’s ja auch gern wissen – wie es andere anscheinend wissen.. aber für die Bücher isses ja auch egal, die sollte man einfach lesen..)
@Phorkyas
Ich hatte beim Verlag angefragt und auch prompt eine Antwort bekommen. Man bestätigte mir, dass es sich bei »Sten Reen« um ein Pseudonym handelt. »Alles weitere« wollte man »unkommentiert lassen«. Ich nehme das als Zustimmung.
Womit sich dann wieder zeigt, wie sehr doch der Literaturbetrieb auf Namen fixiert ist. Wäre dieses Buch nämlich unter Regeners Namen erschienen, wäre die Aufmerksamkeit ungleich größer gewesen. Die Rezensentin des »Tagesspiegel« ist ja derart hingerissen von der Möglichkeit, dass es sich um Regener handeln könnte, dass sie fast vergißt, das eigentliche Buch zu besprechen. Zur Sicherheit wurde der Artikel dann aber mit »Debütroman« überschrieben.
(»Debütroman« – auch wieder so eine blödsinnige Rubrik. Wer weiß das schon? Indem ich vom »zweiten Buch« spreche, dass ich von Sten Reen lesen möchte, habe ich auch noch diese Kategorie übernommen. Schande über mich.)