Stephan Lamby ist seit einer gefühlten Ewigkeit der Chronist bundesdeutscher Innenpolitik. Man erinnert sich noch an sein fast legendäres Interview mit Helmut Kohl und die zahlreichen, zeitgeschichtlich bedeutenden und mehrfach prämierten Dokumentationen insbesondere in der endlos erscheinenden Merkel-Ära, die in schöner Regelmässigkeit und zeitnah in der ARD zu sehen waren. Immer wieder zeigt er Menschen, die politische Macht auf Zeit haben, bei ihren Versuchen, im Widerstreit zwischen Freund und Gegner, Medien und Öffentlichkeit für ihre Ideale zu agieren und dabei nicht selten gehetzt und getrieben erscheinen (manchmal kommentieren zusätzlich Journalisten). Zum fast geflügelten Wort wurde der Titel seines Films über die »nervöse Republik«. Die politischen Protagonisten erlaubten ihm Einblicke, die anderen verborgen bleiben. Im Gegensatz zu anderen Filmemachern, die sich wuchtig inszenieren, ist Lamby ein Politikflüsterer; in seiner zurückhaltenden, manchmal fast antichambrierenden, dabei jedoch nie unterwürfigen Art gelingen bisweilen bemerkenswerte Einsichten.
Dabei formuliert Lamby mit seiner sanft-einnehmenden Stimme durchaus Hypothesen. Noch häufiger als in einem Film sind solche unterschwelligen Bewertungen in Büchern spürbar. Und damit kommt man auf Stephan Lambys neuestes Buch Ernstfall – Regieren in Zeiten des Krieges. Der Untertitel lautet ein bisschen amerikanesk »Ein Report aus dem Inneren der Macht«. Damit wird eine gewisse Erwartung geschürt. Und Lamby lässt sich nicht lumpen.
Auf fast 400 Seiten wird das Wirken und Handeln der neuen Bundesregierung vom Dezember 2021 bis zum 13. Juli 2023 (NATO-Gipfel in Vilnius) beschrieben. Dabei stehen zwei Themen im Vordergrund, die sich teilweise gezwungenermaßen überlagern. Zum einen die Invasion Russlands in die Ukraine vom 24.2.22, die sich rasant verändernden Parameter der Außen- und Sicherheitspolitik Deutschlands und die Auswirkungen auf die Energieversorgung eines der größten Industrienationen der Welt. Und zum anderen die Bemühungen um eine ökologische Transformation des Landes im Angesicht des bedrohlichen Klimawandels.
Alle anderen Themen, wie etwa der frühe Rücktritt von Anne Spiegel, die sehr umstrittene Wahlrechtreform oder, noch einschneidender für die Bevölkerung, die »Abwicklung« der Covid-Pandemie nebst dem Debakel, eine Impfpflicht zu implementieren, werden ausgeblendet. Fast ein bisschen pflichtschuldig wirkt eine Erwähnung mit und über Karl Lauterbach, der in Anbetracht des Kriegs in der Ukraine plötzlich kaum noch in den Schlagzeilen steht. Dabei war gerade das Thema Impfpflicht eine höchst kontroverse Angelegenheit; quer durch alle Fraktionen.
Natürlich muss Lamby Prioritäten setzen. »Zeitenwende« und ökologische Transformation sind die Themen, die Deutschland noch lange beschäftigen werden. Wer im Februar 2022 auf eine einsame Insel ohne Medienzugänge verschlagen wurde und heute, anderthalb Jahre später zurückgekommen ist, kann mit diesem Buch seine Informationsdefizite rasch und, was diese Themen angeht, umfassend auffüllen. Weitgehend wird chronologisch, zeitweise tagebuchartig erzählt. Nur ab und zu gibt es Zusammenfassungen. Dabei vermeidet Stephan Lamby dankenswerterweise weitgehend die mittlerweile grassierende Reporterunsitte, seine Beobachtungen als Literatur zu verkleiden.
Scholz’ »Arroganz-Anfälle«
Lamby berichtet von seinen zahlreichen Begegnungen und Reisen – ob mit Olaf Scholz, der Annalena Baerbock oder Robert Habeck. Auch Christian Lindner trifft er häufiger, meist in Berlin. Immer wieder finden sich Momente, in denen er mit den politischen Akteuren zu einem Gespräch zusammenfindet. Dabei begegnet er den Politikern für Journalistenverhältnisse unvoreingenommen und mit stetiger Neugier. Lamby gibt zu, dass es nicht immer einfach ist. Beispiel Olaf Scholz. Ihm attestiert er diverse Male »Schauspiele« vor der Presse abzuliefern. Dann wiederum – im Flieger auf irgendeiner Reise – sitzt der Bundeskanzler im Schlabberpulli mit den Journalisten zusammen, wählt eine deutliche Sprache und benutzt Schimpfwörter. Es sind weniger Anekdoten denn Metamorphosen, die Lamby da skizziert. Als Scholz vor einem Untersuchungsausschuss des Hamburger Senats zur Cum-Ex-Affäre geladen wird, platzt aber auch dem so wohlgesinnten Reporter der Kragen. Scholz lieferte, so Lamby, ein unwürdiges Schauspiel ab. »Mit seiner hanseatischen Art wirkt er … so arrogant wie Markus Söder im Süden mit seiner bajuwarischen Kraftmeierei.« Später spricht er sogar einmal von Scholz’ »gelegentlichen Arroganz-Anfällen«. Der Untersuchungsausschuss des Hamburger »Feierabendparlaments« war ungenügend bis gar nicht vorbereitet; die Mitglieder der SPD spielten Doppelpass mit ihrem Parteifreund. Im Gegensatz zu vielen anderen Berichterstattern wird ausgiebig diese »Strategie« erklärt (Spoiler: Vorbild ist Joschka Fischer bei der Visa-Affäre). Und lässt kein gutes Haar daran. Später wird sich Lamby nochmals echauffieren und dabei die Vokabel »ungehörig« verwenden: Als der Bundestag nach der zugeschalteten Rede des ukrainischen Präsidenten Selenskyj ohne jegliche Gegenrede zur Tagesordnung übergeht und die Geburtstage der Parlamentarier verlesen werden.
Generell befinden sich eingebettete Journalisten wie Lamby in einem Dilemma. Zum einen dringen sie tief in die Denk- und Entscheidungsprozesse der Politiker ein, erleben diese sozusagen in der Entstehung, häufig gestört von kleinen (und großen) Schwierigkeiten und Intrigen. Dabei lernen sie auch immer mehr den Privatmenschen kennen. Andererseits nehmen sie publikumswirksame Einordnungen vor. So wird es beispielsweise immer Gegenstand von Diskussionen sein, wie die Rolle eines Bundeskanzlers in einer Regierungskoalition ist. Dabei ist die Angelegenheit im Grundgesetz mit der sogenannten Richtlinienkompetenz eindeutig geregelt. Nun gab es bisher im Bund noch keine Dreierkoalition (nimmt man CDU und CSU als eins). Die Geschichte zeigt jedoch, dass schon so manches Zweierbündnis besonders gegen Ende knirschte, weil die Gemeinsamkeiten aufgebraucht waren und die Zeit und die Bereitschaft fehlte, wirklich grundlegende Probleme anzugehen. Zwei Mal brach eine Koalition während einer Wahlperiode auseinander (1966 und 1982). Die jüngere Geschichte zeigte regelmäßig in den sogenannten Großen Koalitionen ab ungefähr der Mitte der Legislatur Ermattungen; unvorhersehbare Krisen (Finanzkrise, Pandemie) schweißten dann gezwungenermaßen wieder zusammen.
Richtlinienkompetenz oder »Basta«?
Lamby weist zu Recht darauf hin, wie relativ problemlos die »Ampel« 2021 zueinander gefunden hatte und mit dem Anspruch, eine Koalition der Reformer zu sein, angetreten war. Knapp zwei Jahre später ist von dieser Aufbruchstimmung nur noch wenig zu spüren. Das Buch zeigt überdeutlich, wie tief die Gräben insbesondere zwischen den Grünen und der FDP verlaufen; Habeck und Lindner haben sich, wie es heißt, jetzt schon Verletzungen zugefügt, die irreparabel erscheinen. Es wäre also interessant, hier die Rolle des Bundeskanzlers zu untersuchen. Lamby benennt die Zeiträume und Diskussionen, in denen dieser fast abgetaucht zu sein schien.
Aber fast scheint es egal, was Scholz macht: Er macht es stets falsch. Delegiert er Problemlösungen an Unterhändler der Fraktionen oder Parteien, die sich dann streiten und gegenseitig in wochenlangen Diskussionen, die in der Öffentlichkeit ausgefochten werden, niedermachen, ist es falsch. Macht er von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch (Sondervermögen für die Bundeswehr, AKW-Verlängerung, Cosco-Entscheidung), wird sofort das Wort vom »Basta-Kanzler« aus der Mottenkiste geholt. Gegen Ende fällt das Wort vom Monarchen, der die Kämpfe am seinem »Hof« beobachtet, um sich irgendwann dann auf eine Seite festzulegen. Lamby ist hier indifferent; wenn man böse ist, könnte man sagen: er scholzt. Wenn man konzediert, dass die zum Teil heftigen parteitaktischen Kämpfe der Koalitionspartner untereinander zu Ansehensverlusten führen (was wiederum zum Erstarken der AfD führt), so kann man doch Scholz’ Moderationsstil nicht ernsthaft als Tugend der Besonnenheit oder Abgewogenheit ansehen und jede Kanzlerentscheidung subkutan als autoritär beschreiben. Bezeichnend, wenn Scholz das Hickhack zwischen den Koalitionspartnern als »spannende Diskussionen« ansieht.
Ähnliches gilt auch für die ruckelndem Waffenlieferungen an die Ukraine. Lambys Buch stellt die langwierigen Prozesse, die Scholz mehrmals zum Getriebenen machten, deutlich heraus. Im März 2023 fliegt er 9 Stunden zu einem halboffiziellen Termin mit Joe Biden in die USA. Das Gespräch dauert 80 Minuten; es soll, wie Lamby weiss, ernst gewesen sein. Scholz hat scheinbar Furcht, dass die USA Deutschland nicht beistehen, sollte Russland die Bundesrepublik angreifen. Ist die Furcht irrational? Vielleicht. Vielleicht nicht. Schon Adenauer hatte Zweifel daran, ob die USA ihren Bündnisverpflichtungen im Ernstfall (sic!) nachkommen würde. Hat Scholz mit Biden einen »Plan B« besprochen? Denn eine Frage unterlässt Lamby: Was ist die Strategie »des Westens« in diesem Krieg? Was soll mit den Waffenlieferungen erreicht werden, außer, dass sich die Ukraine mehr schlecht als recht verteidigen kann (und die Reichweiten von Raketen bspw. absichtlich einschränkt)? Eine andere Frage lässt man, so Lamby, gar nicht an sich heran: Was passiert, wenn die Ukraine »verlieren« würde? (Man erinnert sich, dass Scholz nie von einem Sieg der Ukraine gesprochen hat.)
Baerbock und Deutschlands Rolle in der Welt
Wenn sich Lamby Annalena Baerbock widmet, fragt er unterschwellig, ob die Betonhaltung der Außenministerin beispielsweise hinsichtlich eines Treffens bzw. Nichttreffens mit Sergej Lawrow der Lösung des Konfliktes dient. Sie wolle, so Lamby, keine Bilder mit ihm, dem Lügner und Vertreter einer Kriegsverbrecher-Regierung, liefern. Als würde es auf die Befindlichkeiten von Baerbock ankommen. Ihr nassforsches Auftreten wird mehrfach beschrieben. Beispielsweise bei den offiziellen Statements nach Begegnungen mit ihrem chinesischen Amtskollegen. Man hat das Gefühl, die penetranten Belehrungen, von denen sie nicht ablassen kann, dienen vor allem ihrer Profilierung.
Gerne hätte man ein paar Worte zur »feministischen Außenpolitik« Deutschlands in Bezug auf den Iran gelesen. Als dort massenweise Frauen für ihre Rechte auf die Straße gingen und zusammengeschlagen wurden, blieb das Auswärtige Amt recht schmallippig. Der Grund: Man arbeitet immer noch daran, das 2018 von Trump abgeräumte Atomabkommen mit dem Iran irgendwie wiederzubeleben. Zudem finanziert das Auswärtige Amt den Think Tank »Carpo«, dem der deutsch-iranische Publizist Adnan Tabatabai vorsteht. Dieser fiel verschiedentlich mit verständnisvollen Äußerungen zum iranischen Mullah-Regime auf. Das Ministerium bestritt die kolportierte Meldung, Adnan Tabatabai sei ein direkter Berater der Außenministerin. Dennoch erhält der Think-Tank staatliche Mittel.
Diplomatie sei, so Lamby einmal, Baerbocks »Kampfzone«. Wirklich? Einst bedeutete Diplomatie endlos lange und meist nichtssagende öffentliche Äußerungen. Gespräche und Verhandlungen wurden hinter den berühmten »verschlossenen Türen« geführt; wie man inzwischen aus vielen Schilderungen weiß, bisweilen kontrovers bis konfrontativ, aber zuweilen eben auch erfolgreich. Annalena Baerbock ist hierzu – Lamby erwähnt dies mehrmals – der Gegenentwurf. Und dies auch zu Olaf Scholz, ihrem Chef. Der Unterschied: Scholz’ buddhahafte Floskelwolken, seine »verbale Sparsamkeit« (Lamby) sollen die innerkoalitionären, politischen Entscheidungsprozesse nicht voreilig präjudizieren (wäre man bösartig könnte man hierin auch eine Überforderung von Scholz herauslesen). Baerbocks ostentativ-öffentlichen Brüskierungen ausländischer Regierungen dienen weitgehend der Selbstglorifizierung. Dass dies bei ihrer Klientel im Land gut ankommt, ist logisch, denn insgeheim glauben die Deutschen immer noch, dass sie die besten Wertevermittler sind. Würde Stephan Lamby im Stil von Annalena Baerbock seinen Journalismus betreiben, wären viele seiner Dokumentationen und Bücher nicht entstanden.
Deutschlands geopolitisches Gewicht in der Welt, basierend vor allem auf ökonomische Potenz, bröckelt. Inzwischen wird mehr und mehr deutlich, wie angreifbar Deutschland, »der Westen«, ist. Zu Beginn besuchte Baerbock u. a. Mali und Niger. Kurz zuvor gab es in Mali einen Putsch; die dem Westen freundlich gesonnene Regierung existiert nicht mehr. Im Land sind französische und deutsche Soldaten, die unter anderem malisches Militär ausbilden sollen, um die terroristischen Bedrohungen durch Ableger des IS wirkungsvoll bekämpfen zu können. Man ist unsicher, wie man reagieren soll. Schließlich einigt man sich darauf, die UN-Mission fortzusetzen und die Ausbildungsmission aufzugeben. Exemplarisch wird deutlich, wie dysfunktional und wenig durchdacht deutsche Politik ist. Die neuen Machthaber in Mali wenden sich binnen eines Jahres vollständig vom Westen ab und setzen Deutschland ein Ultimatum, bis wann die Bundeswehr zu gehen hat und schließen Kooperationen mit Russland und China. Was Lamby nach Druckschluss nicht mehr unterbringen konnte: Auch die neue Fokussierung auf Niger wurde durch einen Militärputsch konterkariert.
In Äthiopien blieb für Baerbock auch nur ein Rahmenprogramm. Dieses Land wird demnächst Mitglied in der BRICS-Gruppe werden. Scholz besucht Saudi-Arabien, möchte, dass man sich für eine größere Öl-Fördermenge einsetzt, weil die EU russisches Öl nicht mehr importieren möchte. Der Vorschlag ist eigentlich lächerlich. Kein Anbieter wird freiwillig seine Kapazitäten erhöhen, weil dadurch natürlich der Preis unter Druck kommen würde. Versüsst werden sollte dies mit Zugeständnissen für Waffenlieferungen (immer noch ist Saudi-Arabien indirekte Kriegspartei im Bürgerkrieg im Jemen). Saudi-Arabien geht trotzdem auf Scholz’ Wunsch nicht ein. Im Gegenteil: Man beschließt später mit den anderen Kartellteilnehmern, die Fördermenge zu drosseln. Und auch dieses Land wird 2024 zu den BRICS-Staaten gehören. Wie damit umgehen? Lamby sieht in Scholz’ Statement, man müsse »wertegeleitete Politik zwar weiterbetreiben, aber auch immer das »Wohl des Landes« dabei im Auge halten. Eine Kompromisslinie. Später wird »wertebasiert« auf »regelbasiert« korrigiert. Jetzt müsste er nur noch erklären, worin der Unterschied besteht.
Habeck vs. Lindner
Zwangsläufig hat das Buch eine grüne Schlagseite. Alleine dadurch, dass mit Annalena Baerbock und Robert Habeck gleich zwei Politiker der Grünen begleitet und portraitiert werden. Dabei wird Habeck mal als Rock ’n Roller der deutschen Politik dargestellt, mal als nachdenklich-erschöpfter Arbeiter im Weinberg des Wirtschafts- und Klimaministeriums. Keine Frage: Der Angriff auf die Ukraine und die Sanktionen gegenüber Russland haben sein Ministerium häufig genug in den Fokus der Öffentlichkeit gebracht. Habeck sei so etwas wie der »Posterboy« der Ampelregierung, beherrsche die »Kunst der politischen Kommunikation«, so Lamby (anders als Scholz oder Baerbock – so möchte man ergänzen). Wie kein anderer Politik des Kabinetts wird er gezwungen, wenn es um die Versorgungssicherheit Deutschlands geht, zwischen Praxis und Ideal balancieren, die richtige Wahl »zwischen verschiedenen Schurken« (Rohstofflieferanten bzw. ‑produkten) treffen. Dabei muss er, anders als die Außenministerin, die Worte spazieren führen kann, konkrete Politik betreiben, die im Zweifel Millionen Bürger betreffen. Mehrmals konfrontiert Lamby Habeck mit der Frage, was wichtiger sei: Klimaschutz (und damit Parteiprogrammatik) oder Versorgungssicherheit. Stets ist die Antwort gleich. Daher hat er auch am Ende keine Probleme in der Notwendigkeit der Verlängerung der Laufzeiten der Atomkraftwerke.
Wenn man den Maßstab an politisches Handeln in Krisenzeiten legt, dann schneidet Robert Habeck in diesem Buch mit großem Abstand am besten ab. Dass er Fehler gemacht hat (etwa bei der Besetzung seines Ministeriums), wird dabei weder verschwiegen noch schön geredet. Aber Habeck vermeidet, wo es geht, Sprechblasen. Und er erschlägt sein Gegenüber nicht mit moralinsauren Statements. Ausrutscher wie ein Land mittels Sanktionen »ruinieren« zu wollen oder sich mit Russland »im Krieg« zu befinden, würden ihm trotz gelegentlicher Überarbeitung nicht unterlaufen.
Ein bisschen theatralisch ist es aber schon, wenn Lamby »große Verletzungen« feststellt, die sich »die Regierungspartner« gegenseitig zugefügt hätten. Schuld seien »machtstrategische Überlegungen«, die das »Grundvertrauen des Anfangs« zu Gunsten eines Misstrauens ersetzt hätten, »das jedes Gemeinschaftsgefühl zersetzen kann.« Das »kann« ist wichtig, weil es die Hypothese wieder ein bisschen einholt. Insbesondere Robert Habeck kämpft auf mehreren Plätzen gleichzeitig. Zum einen fühlt er sich in der Pflicht, Deutschland als Industriestandort mit Energie zu versorgen. Dann wiederum muss er die Programmatik seiner Partei einhalten. Lamby hat auch einen kleinen Abschnitt dabei, in dem er die Rivalität zwischen Habeck und Baerbock beschreibt. 2025 möchte Habeck die Gewohnheit, dass zunächst eine Frau auf Platz Eins einer Liste steht, abschaffen und Kanzlerkandidat mittels Mitglieder-Urwahl werden.
Kein Rauch bei Scholz
Und schließlich müssen die Grünen Rücksicht auf den kleinsten Koalitionspartner, die FDP nehmen. Beide Parteien sind weltanschaulich weit auseinander. Zudem verlieren die Liberalen eine Landtagswahl nach der anderen, was zu unkontrollierten Profilierungsanfällen führt. Erstaunlich, dass Lamby ausgerechnet Carolin Emcke zur Misere der FDP zitiert. Und es verwundert die Demut eines Christian Lindner, der Lamby in einem Gespräch gesteht, er würde mit dem heutigen Wissen nicht mehr Oppositionsarbeit wie früher machen. Leider unterbleibt eine Erläuterung dazu.
Etwas schrullig wird Lamby, wenn er sehr früh die politische Arbeit vom späteren Verteidigungsminister Boris Pistorius beschreibt; das ist zu deutlich aus dem nachträglichen Wissen geschöpft. Die wenigen Szenen, mit denen Lea Bonasera und die »Letzte Generation« eingebunden werden, wirken aufgesetzt. Auf gelegentliche Spitzen verzichtet auch der bedächtige Lamby nicht. Als er einmal Olaf Scholz in dessen Arbeitszimmer im Kanzleramt besucht, stellt er fest, dass dieser im Vergleich zu Angela Merkel nur wenig verändert habe. Und dann heißt es plötzlich: »Nur mal angenommen, Armin Laschet würde als Bundeskanzler hier residieren, dann würde es überall nach abgestandenem Rauch riechen, irgendwo würden Zigarillo-Schachteln herumliegen. Bei Olaf Scholz liegt nichts herum.« Warum eine solche Volte?
Ein bisschen keilt er auch gegen die ehemalige Kanzlerin, der er einst wohlwollend begegnet war. Nach dem Gespräch mit Alexander Osang (es war eher eine Huldigung des Journalisten vor der Ex-Kanzlerin) bemerkt er, wie Merkel erklärt, dass ihr früh klar war, das Putin die Europäische Union »zerstören« will, weil er sie als Vorstufe zur NATO sieht. Wenige Tage später gibt Scholz ein Interview und äußert sich ähnlich, spricht davon, dass ihm stets Putins Ziel, NATO und EU aufzulösen, vor Augen gewesen war. Aber wenn dies damals Kanzlerin und Vizekanzler so klar war – warum haben sie dann sehenden Auges eine Appeasement-Politik mit Putin getrieben? Wenn, wie Scholz später sagt, kein Zweifel daran bestanden habe, dass Putin Gas und Öl als »Waffe« einsetzen würde – warum gab es dann ein Festhalten an Nord Stream 2 bis in das Jahr 2022 herein? Lamby fragt dies im Buch. Aber hat er es auch Scholz gefragt? Wenn ja: Wie war die Antwort?
Um in die Vertrauensposition zu kommen bedarf es einer Menge Respekt – auf beiden Seiten. Stephan Lamby macht auch keinen Hehl daraus, dass es Verschwiegenheitsversprechen gibt. Dennoch schreckt er nicht vor situativen Eindrücken und bisweilen harten Urteilen zurück. Dabei bemerkt er einmal, dass Scholz immer dann mitteilsam wird, »wenn er etwas nicht sagt«. Dies trifft mindestens teilweise auch auf den Autor Stephan Lamby zu. Gerade dies macht dieses Buch so lesenswert, auch wenn einem bisweilen die Chronologie des Gewesenen (z. B. Tankrabatt, Gasumlage, Heizungsgesetz) anstrengt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass in dem bald erscheinenden Film diese Spannung entstehen kann. Daher ist das Buch ohne Vorbehalte zu empfehlen.
Einige kurze Bemerkungen zum Film Ernstfall – Regieren am Limit
Ich habe die drei Folgen à je ca. 30 Minuten, die in der Mediathek abrufbar sind, gesehen. Wie erwartet, ist der Eindruck zum Buch unterschiedlich.
Zusätzlich zu den Gesprächsausschnitten mit den Hauptprotagonisten Scholz, Baerbock, Habeck und Lindner (hinzu kommt Kanzleramtsminister Schmidt, der im Film, wie mir scheint, mehr zu Wort kommt als im Buch) gibt es auch kurze Statements von Journalisten. Dies praktizierte Lamby schon immer. Ich bin kein großer Freund davon, weil sie die journalistische Sicht verstärken, die ja eigentlich eine solche Dokumentation nicht transportieren sollte.
Zwei Ereignisse, die im Buch eine wichtige Rolle spielen, wurden nicht aufgenommen. Zum einen Scholz’ Auftritt beim Hamburger »Cum-Ex«-Untersuchungsausschuss. Und die Nachbetrachtung zur Selenskyj-Rede vor dem Bundestag. In beiden Fällen hatte Lamby dezidierte Urteile formuliert, die hart mit den Regierenden und Parlamentariern ins Gericht gehen.
Leider finden sich in dem Film zu viele Zugeständnisse an den Boulevard. Schon der gewählte Untertitel »Regieren am Limit« ist grenzwertig. Hier soll eine Dramatik erzeugt werden. Dass die Herausforderungen groß waren (bzw. sind) kann man ernsthaft nicht bestreiten. Aber nur weil sich Verhandlungen über Gesetze innerhalb der Koalition über viele Stunden hinziehen, kann man sich nicht in Übertreibungen ergehen. Zumal die Ursachen für diese endlosen Verhandlungen nicht benannt werden (Stichwort: Richtlinienkompetenz des Kanzlers).
Geradezu lächerlich finde ich die Darstellungen der Politiker als Weitblickende – vor ihren jeweiligen Büro- oder Flugzeugfenstern, die noch mit melodramatischer Musik untermalt sind. Diese übertriebene Inszenierung trägt dazu bei, dass der Film von vielen Zuschauern als »regierungsfreundlich« subsumiert wurde. Einige stellen gar Vergleiche mit Leni Riefenstahl an, was natürlich Unsinn ist.
An vielen Reaktionen ist deutlich abzulesen, dass die filmischen Pathosinszenierungen (wer sie auch immer zu verantworten hat) die eigentlichen Schwerpunkte überlagern. Der Ärger ist darüber so groß, dass die subkutane Aufforderung, sich aufgrund der Körper- und Wortsprache der einzelnen Akteure ein Urteil zu bilden, absorbiert wird. Man sieht nur noch das, was man sehen will. Dadurch gerät der Film in eine Schieflage, weil das Handeln der Regierungspolitiker idealisiert, ja glorifiziert wird. Die Bildsprache ist bisweilen eine Katastrophe.
Ich bleibe dabei: Das Buch ist absolut lesenswert.