Am 9.8.[1991], Freitag, besuche ich am Nachmittag Günther Anders, der im »Evangelischen Spital«, einem sehr vornehmen, teuer ausgestatteten Krankenhaus liegt, nahe dem AKH1, in der Hans-Sachs-Straße. Er liegt schon seit mehreren Wochen da, seit er in seiner Wohnung offenbar umgekippt war und nicht wieder aufstehen konnte: Oberschenkelhalsbruch. Erwarte einen vom Unfall und dem Vielliegen gemarterten Greis, er wird nächstes Jahr immerhin 90, und finde aber einen äußerst wachen, gleichsam quicklebendigen und fröhlichen Mann vor, der zwar im Bett liegt, nahezu bewegungsunfähig, dessen Kopf aber so ungemein LEBENDIG ist, daß man das Leiden und die Bewegungsunfähigkeit vollkommen vergißt. Er sprüht vor lauter Lebens- und Denklust, hört zwar ein bißchen schlecht, aber sobald er weiß, wovon gesprochen wird, ist er absolut präsent, und das, was er spricht, ist weder wirr, noch je ohne Interesse.
Ich hatte beim Stöbern im Keller einen Text von ihm gefunden, in Manuskriptform, den er Vater2 geschenkt hatte, bringe ihm das mit, er will unbedingt wissen, was das sei, wirkt überaus erstaunt, daß ich’s nicht längst gelesen habe. Ich weiß nur: Es geht um Hiroshima. »Ja, da hab ich wohl mehr als einen Text geschrieben, über dieses Thema, mein Lieber, also was ist das für ein Hiroshima-Text?« Seine und meine Hoffnung, der Text sei eventuell unveröffentlicht, erfüllt sich nicht, wir kommen im Verlauf der eineinhalb Stunden, die ich bei ihm bleibe, darauf, um welchen Text es sich handelt. (Die Toten von Hiroshima fliegen über den Ozean, als Raben oder Geister, suchen Truman3 heim, in Washington, ängstigen ihn, rauben ihm den Schlaf.) Den Text hatte G.A. vor ca. 33 Jahren Bob geschenkt und gewidmet – er hatte ihn wohl apropos »Heller als 1000 Sonnen»4 verfaßt. Vater scheint für ihn so etwas wie ein Feindfreund zu sein, an dem er sich konstant mißt; seine Hauptsorge, so erschien es mir, ist die: Wer wird, im Rückblick, als der Berühmtere dastehen, er oder Bob. Er lobt immerzu Bobs Verdienste, betont aber gleichzeitig, daß Bob eben Journalist sei – »ein zweiter Kisch5, ein Kisch des Atomzeitalters« – er, G.A. aber, sei ein Philosoph, der dem Thema Anti-Atom den philosophischen Unterbau geschaffen habe, wie keiner sonst. »Wir waren die Ersten, dein Vater und ich, die darüber geschrieben haben – die vor den Gefahren warnten...man wird uns wohl, in Zukunft, zusammen nennen.« Als ich bemerke, man werde vielleicht G.A. als den »Bedeutenderen« ansehen, leuchten seine Augen und er ruft: »Ja! Weil ich der Philosoph, dein Vater aber der Journalist ist!« Er betont auch, daß Bob ja »nie von der Muse geküßt« worden sei, überdies weder zur Musik, noch zur Malerei den geringsten Bezug habe, Tatsachen, unter denen »auch deine liebe Mutter immer sehr litt.« Unerhört, dieser sprühende KOPF inmitten der Leintücher! Und sein (und mein!) Glück, daß niemand hier liegt, im Zimmer, außer ihm, sodaß wir schreien und lachen können, nach Herzenslust. (Er hat die beiden Mitlieger offenbar vergrault, oder verjagt, falls ich ihn nicht falsch verstanden habe.)
Seine schöne Erzählung ad seinen »Molussischen Legenden»6, Anfang der 30er Jahre gegen die Nazis entstanden, aber als Sage aus fernem Land kaschiert, Brecht habe den Text sehr geschätzt und an Kiepenheuer + Witsch empfohlen, die wollten’s auch tatsächlich drucken. Aber dann kam die Machtübernahme + die Verlagsräume wurden systematisch geräumt und durchsucht, auch das Manuskript der »Molussischen Legenden«. Die steckten in einem phantastischen Umschlag, mit einer Insel darauf, und wenige Tage später brachten die Gestapo-Leute G.As Manuskript zum Verlag zurück, mit der Bemerkung, das seien ja Südseemärchen und daher in keiner Weise anstößige Literatur...G.A. bekommt das Manuskript von Brecht zurück, nimmt es dann aber doch nicht mit nach Paris, in die Emigration, zunächst, sondern beläßt es in Berlin zurück, auf dem Dachboden der Hannah Arendt7, wo sie Würste aufhebt. Sie packen das Manuskript in Wurstpapier ein, hängen es zu den Schinken und Würsten dazu, wo es dann eine ganze Weile lang bleibt, monatelang, offenbar...Und später hat er es dann wiederbekommen, in Paris, wo er und Hannah Arendt großen, großen Hunger litten. Und immer, wenn der Hunger unerträglich zu werden drohte, roch er an dem Wurstgeruch bzw. – duft, den das Manuskript immer noch ausströmte...
Ad Hannah Arendt erzählt er mir ein wenig, daß sie den Begriff des »Totalitarismus« prägte, gegen die Mächtigen in der UdSSR gemünzt, und dafür von den Rechten, der Reaktion, dem »Feind«, hohes Lob erntete...Über den Zerfall der Sowjetunion + des Ostblocks habe er vor allem deshalb nichts geschrieben, erklärt er mir, weil er nicht öffentlich gegen Hannah Arendts Ideen Stellung beziehen wollte. D.h., er sieht sich zwar nicht als Kommunist, niemals, aber er sieht die Lage doch ganz anders, schätzt die Situation doch ganz anders ein, als H.A. dies tat. (Als Erklärung etwas seltsam, denn H.A. ist ja vor langem schon gestorben –) Wahrscheinlich litt er unter ihrer Prominenz zeitlebens ganz besonders, und gegen sie Stellung zu beziehen scheint eine Art Tabu zu sein, gegen das er sich bis heute nicht aufzulehnen traut...
Er erzählt ad Werfel, ein wenig, wie sehr er ihn verachtete – in Los Angeles sei er ihm, im Hause Thomas Manns, öfters begegnet...Hatte schon Anfang der 30er Jahre öffentlich gegen ihn polemisiert... – Meine Überraschung, daß G.A. sich im Hause des doch eher als Reaktionär denn als Revolutionär zu bezeichnenden Thomas Mann aufhielt, mehrmals...aber G.A. antwortet darauf sehr überzeugend: »Politisch mußte ich ja nicht mit ihm übereinstimmen – aber ein Mann, der diese Meisterwerke vollbracht hat...!«
In Paris lebte er also mit Hannah Arendt offenbar zur selben Zeit, als Bob Assistent bei Max Ophüls8 war – Anders zeigte in einer Buchhandlung Zeichnungen eines Geisteskranken, da kam nach der Vernissage jemand auf ihn zu, sagte, diese Arbeiten interessierten ihn ganz besonders, er sei Psychologe – und stellte sich vor: Jacques Lacan…9
Wir sprechen ad Saddam Hussein10, ich dachte, G.A. werde die USA nur verdammen, er spricht aber, zu meiner großen Überraschung, über die bleibende Gefahr, der Israel nunmehr ausgesetzt sei – und wie absurd dieser Krieg gewesen sei, in Anbetracht der Tatsache, daß ja Hussein an der Macht belassen wurde! Auf meine Frage, warum seiner Meinung nach Hussein nicht eliminiert wurde, entgegnet er: »Weil die Amerikaner ihn brauchen. Als Gegengewicht gegen den Iran. Persien darf nicht zu stark werden, in der Region!« (Vielleicht fallen mir noch weitere G.A.-Details ein, im Laufe der Zeit – diesen 9. August schreibe ich am 19.8., am Tag, da Gorbatschow11 verhaftet worden ist und Putschisten die UdSSR zu regieren drohen...)
Eines noch: Sein Monolog zum Thema Buch-Schreiben. Apropos Bobs Angst vor dem Schreiben, vor dem Beginnen...: »Ein Buch BEGINNT man nicht, merke dir das! Ein Buch schreibt man aus der Mitte an die Ränder. Irgendwo fängt man zu schreiben an, mitten drinnen...und dann kommt ein Stück davor, ein Stück danach, und so fort. Ein Buch beginnt man nicht!!«
Beim Fortgehen lasse ich ihm die »Neue Zürcher Zeitung« auf dem Bett zurück, er lächelt, ich sage: »Was werden deine Freunde jetzt von dir denken?!« Und er: »Sie werden wohl nicht gleich glauben, daß ich ins konservative Lager übergewechselt habe...«
Gemeint ist das Wiener Allgemeine Krankenhaus ↩
Der Schriftsteller und Zukunftsforscher Robert Jungk, 1913 – 1994, der Vater des Autors. ↩
33. Präsident der Vereinigten Staaten, Harry S. Truman, 1884 – 1972. ↩
Robert Jungks wohl bekanntestes Buch erschien 1956. ↩
Der als “rasender Reporter” berühmt gewordene Journalist Egon Erwin Kisch, 1885 – 1948, den Robert Jungk persönlich kannte. ↩
Die "Molussischen Legenden" erschienen erst 1956, als ein Teil von Anders' Hauptwerk "Die Antiquiertheit des Menschen". ↩
Günther Anders, damals noch Günther Stern, war in den Jahren 1929 bis 1937 mit Hannah Arendt (1906 – 1975) verheiratet. ↩
Max Ophüls (1902 – 1957) drehte 1933 in Paris den Film ‘Liebelei’, nach Arthur Schnitzler; Robert Jungk arbeitete mit, als sein zweiter oder dritter Regieassistent... ↩
Jacques Lacan (1901 – 1981), französischer Psychiater und Psychoanalytiker. ↩
Zu Beginn des Jahres 1991 hatte der Zweite Golfkrieg stattgefunden, der die irakische Armee nahezu vollkommen zerstörte, den irakischen Diktator Saddam Hussein jedoch verschonte. ↩
Am 19. August 1991 unternahmen orthodoxe kommunistische Politiker, zusammen mit einem Teil des Militärs, einen Putschversuch. Michail Gorbatschow und seine Frau Raissa standen drei Tage lang unter Hausarrest. ↩
Schön, daß P. S. Jungk zurück ist.
Eins stößt mir allerdings ein bißchen auf: Thomas Mann ein Reaktionär? Überhaupt die Gegenüberstellung, Reaktionär-Revolutionär.
Hannah Arendt war berühmt – und ihre Totalitarismus Kritik war richtig. Dass das schwer auszuhalten gewesen sei, wie Jungk mit Blick auf den greisen und bettlägerigen Günther Anders sagt, ist in mehr als einer Hinsicht merkwürdig.
@Dieter Kief
Bitte?
@Dieter Kief
In »Die Antiquiertheit des Menschen« bezeichnet Anders den politischen Totalitarismus, wie ihn Hannah Arendt beschrieb und analysierte, als »Sekundärphänomen«. Er hielt dem seine Analyse dessen entgegen, was er als »technischen Totalitarismus« bezeichnete, der in den Atombombenabwürfen von 1945 gipfelte und – immer seiner Analyse zufolge – durch die Herrschaft des Fernsehens (heute wärs das Internet, soziale Medien) die Menschen zu freiwillig und restlos unterworfenen Subjekten machte. Ich nehme an, hier liegt der Streitpunkt zwischen den beiden. Und nicht etwa, daß Anders den kommunistischen Totalitarismus verteidigen wollte (mit dem nationalsozialistischen hatte er als Jude hinreichend Bekanntschaft gemacht).
@ Leopold Federmair: Danke.