Ein vielgerühmter Roman – aber warum? Angeblich sei das allegorische, bildhafte so stark, so mächtig: hie die einwandernden Mexikaner, die ihr Stück vom Wohlstand mithaben wollen – dort das liberale Bürgertum der USA, schliesslich kapitulierend vor den Scharfmachern und Emigrantenhassern.
Es ist in T. C. Boyles »América« dann tatsächlich so, wie sich Lieschen Müller im tausende Kilometer entfernten Europa eine solche Konfrontation vorstellt. Der liberal eingestellte US-Weisse wird zum milden Rassisten – der Latino zum Hundefutterfresser, dem mit seiner schwangeren Freundin ein Kind in geradezu biblischem Unrat geboren wird. Sehr oft erinnert Candido (und seine Freundin América) an Maria und Josef und am Ende, als die Schlammlawine die Mauer der Weissen niederreisst werden die biblischen Allegorien so übermächtig, dass es endgültig peinlich wird.
Sicherlich, ein paar ironische Seitenhiebe auf die bürgerliche Gesellschaft sind gelungen. Aber das Emigrantenleben ist so schaurig putzig geschildert, dass das tatsächliche Elend schon wieder draussen bleibt, weil es so schablonisiert dargestellt wird, dass es langweilt. Die Sprache ist im Stil des guten Onkels, der einem eine moderne Gute-Nacht-Geschichte erzählt; es gibt nicht ein einziges poetisches Bild.
Der weisse Held, ein Wanderer und Hobbyforscher, der Artikel in lokale Zeitungen über die Natur veröffentlicht, gäbe genug Möglichkeiten, die Landschaft sozusagen erstrahlen zu lassen – aber die ausführliche Schilderung des Autodiebstahls ist dem Autor geläufiger. Die workoholic-kranke Frau, eine vor Ehrgeiz zerfressene Immobilienmaklerin, gibt a priori nur eine Angriffsfläche über die Karikatur. Aber auch die »wahren Helden« des Buches (Candido und América [die Titelgeberin]) bleiben farblos selbst in ihrem grössten Elend; in ihrem Überlebenswillen bekommen sie fast tierische Dimensionen – bevor es dann in den biblischen Kitsch abrutscht.
Dieses Buch lässt mich gleichgültig zurück. Auch der letzte Satz, diese angedeutete Geste der Rettung, die ausgestreckte Hand des Mexikaners dem Weissen gegenüber, ihn aus der Schlammlawine in die vorläufige Sicherheit zu bringen, vermag da nicht zu trösten. Selbst diese Geste erstickt das theatralische Zirkusgewimmel, jedes Vorausberechnende der Figuren, welches einem am Anfang eines Absatzkapitels bereits das Ende spüren, ja wissen lässt.
Ohne Überraschung, ohne Empathie, ohne Poesie: »América« ist leicht konsumierbarer Ethno-Kitsch. Es reinigt oberflächlich das schlechte Gewissen des Lesers und veranlasst ihn im Idealfall zu einer Spende irgendeiner Hilfsorganisation. That’s it!
(gelesen und geschrieben in 2000; leicht überarbeitet)