Grimmig schaut der Autor mit verkniffenen Augen am Leser vorbei. In roter Schrift erfahren wir: Bestie Mensch. So sieht das Cover von Thomas Müllers Buch aus, und man hätte es wissen können. Aber das Interview mit Denis Scheck machte mich neugierig; die Stimme dieses Mannes, der in unzähligen Gesprächen Massenmördern und Schwerverbrechern gegenüber sass; die weichen, modulierten Töne – ein Märchenonkel, der fast flüsternd, weich sprach, aber schnell und eloquent.
Dr. Thomas Müller ist Kriminalpsychologe. Wie man am Ende des Buches erfährt, ist er es in herausgehobener Position wohl nicht mehr; seine Hinauskompromittierung erzählt er in der dritten Person – übrigens ein lesenswertes Dokument, wie Menschen von ihren Positionen weggemobbt werden. Aber das ist ein anderes Thema.
„Bestie Mensch“ ist eine Mischung zwischen einer Müller-Biographie und der Entwicklung „seines“ Berufsbilds, des Kriminalpsychologen, den er bewusst sowohl von den US-amerikanischen „Profilern“, die aufgrund der ihnen vorliegenden Fakten „Täterprofile“ entwerfen (die er einmal „dubios“ nennt), als auch von den forensischen Kriminalpsychologen abgrenzt.
Müller sieht sich als jemand, der Tatorte analysiert und „Verhaltensprofile“ erstellt. Seine Definition: Aus der Sicht der Kriminalpsychologie ist ein Tatort all das, wo das Verhalten des Täters aufgefunden werden kann. Das kann ein Briefkuvert, in dem eine Briefbombe steckte, genauso sein wie ein aufgeschnittenes Kalb, das auf der Weide liegt. Der Tatort, an dem eine Leiche aufgefunden wird, beinhaltet ebenfalls Entscheidungen des Täters, und weil kein Tatort einem anderen völlig gleicht, müssen wir im Zuge der Tatortanalyse versuchen, notwendige pragmatische Entscheidungen von scheinbar nicht notwendigen zu trennen.
Gebetsmühlenartig wiederholt er seine Abgrenzung zu den reinen Psychologen – aber es gelingt mir einfach nicht, eine als nicht auf die Person des Täters gerichtetes Untersuchungsobjekt zu sehen, also die Erkenntnisse, die von der Untersuchung eines Tatort gewonnen werden, losgelöst von der Person des Täters sehen zu wollen. Wozu erstellt man sonst ein „Verhaltensprofil“?
Dieses Unverständnis kann einerseits an der Verstocktheit des Lesers liegen – andererseits jedoch auch an der mangelnden Differenz beider Sujets. Der Leser soll selber entscheiden, welche Version stimmt:
[...] Sie [die forensische Psychiatrie] durchleuchtet die Biographie der Menschen, indem sie bestimmte Merkmale feststellt. Auf der anderen Seite hat sie vorgegebene und definierte Krankheitsbilder, die dann angenommen werden können, wenn bestimmte Umstände zutreffen.[...] Das „Material“ ist der Mensch, das Werkzeug die Aufarbeitung der Biographie, das Explorationsgespräch führt zu psychiatrischen Klassifikationsschemata. Der „Material“ der Kriminalpsychologie ist das Verhalten, die Veränderung der Umwelt und die Schlussfolgerung auf die darunter liegenden Bedürfnisse, das Werkzeug der Tatortanalyse. Es ist der Versuch, auf ein und dieselbe Seite zuzugreifen, um sie nicht nur beurteilbar, sondern auch überprüfbar zu machen. Das war der Weg, den ich verfolgen wollte, unterschiedliche Disziplinen zusammenzuführen, aber das Verständnis dafür zu wecken, dass, selbst wenn sie zu unterschiedlichen Ergebnissen kämen, sie sich trotzdem um die gleiche Sache bemühen.
In vielen Beispielen hebt Müller die Notwendigkeit genauer Tatortuntersuchungen hervor. So sei es beispielsweise wichtig, wie eine Leiche am Tatort zurückgelassen werde und steuert einige Beispiele grässlicher Schändungen bei. All diese Erzählungen sind sehr feuilletonistisch, gelegentlich erzeugen sie ein Schaudern – alleine: eine Stringenz in der späteren „Erklärung“ des geschilderten Phänomens gibt es nicht.
So beschreibt er beispielsweise den Fall einer alten Frau, die in ihrem Gartenhaus ermordet aufgefunden wird. Die tödliche Verletzung wurde mit Hammerschlägen auf ihrem Kopf zugeführt. Aber es gab auch ein Schnitt vom Unterbauch bis zum Genitalbereich, in dem ein Hühnerei drappiert wurde. Der Fall wird aufgeklärt – es war der Nachbar, dessen Alibi falsch war und der sich vom permanenten Hundegebell der Schäferhunde der Frau genervt fühlte. Die Sache mit dem Hühnerei wird von Müller nicht „aufgelöst“. Übrigens wurde der Fall durch einen einige Monate später stattfindenden Streit zwischen dem Mann und seiner Frau, die ihm das falsche Alibi gegeben hatte, aufgeklärt – die Frau korrigierte ihre Aussage.
Dieses Beispiel ist exemplarisch für den (leider häufigen) aufgeblasenen, sensationsheischenden Furor des Buches. Im Fussball nennt man einen Spieler, der mit derartiger Verve an die Sache herangeht, übermotiviert. Oft genug beschreibt Müller allerdings auch die Grenzen seiner Disziplin oder sogar die Möglichkeit, dass Tatorte von Tätern „manipuliert“ würden, um bewusst Zeichen zu setzen, die falsch interpretiert werden können.
Garniert wird das Ganze mit immer wieder auftretenden Floskeln wie dem Freudsatz Unsere Persönlichkeit dringt uns jeden Tag aus allen Poren, oder Allerweltsweisheiten wie Es ist nicht entscheidend, was jemand sagt, sondern das, was er tut oder Es gibt Leute, die in Erfahrungswelten leben, die wir nicht betreten können oder Man kann das Verhalten eines anderen Menschen nicht ändern (hierauf basierend, bleibt für Legionen von Psychologen nur der Suizid) und, last but not least, Menschliches Verhalten ist bedürfnisorientiert. Einmal stellt der Autor fest, dass die grenzenlose Gier, die in uns allen steckt, Motor für Verbrechen sein kann, während wir uns hinter einer hechelnden Bescheidenheit verbergen – das ist recht banal und viel zu sehr verallgemeinernd.
Allerdings: Nicht verurteilen – beurteilen – auch dieser Satz findet sich sehr oft im Buch. Er rettet mir letztendlich das Buch. Denn entgegen dem furchtbaren Titel (warum haben Sie da zugestimmt, Herr Müller?) und einigen wenigen hysterischen Entgleisungen will Müller die jeweils vorgestellten Täter nie als „Bestien“ blossstellen. Er betont immer wieder, dass man niemandem ansehen kann, was er (vielleicht) vollbracht hat; gerade die (scheinbare) „Normalität“ sei die „perfekte Tarnung“. Müller hebt die oft brillante Intelligenz der Delinquenten hervor – oft genug verfällt er dann aber wieder in psychologisierende Deutungen.
Das Buch hat auch interessante Stellen. Etwa wenn die am Tatort vorgefundenen Indizien Geständnisse der Täter, die die eine Mitschuld auf das Opfer bzw. dessen Lebenswandel legen wollten, als falsch herausarbeiten. Oder wenn von der Wichtigkeit der Aufrechterhaltung von „Kommunikation“ bei Serientätern hingewiesen wird; hier können sensationslüsterne Schlagzeilen bestimmter Zeitungen fatale Wirkungen haben. Und auch, wenn Müller eine umfassendere psychologische Betreuung, beispielsweise bei Sexualstraftätern anmahnt.
Von primitivem Rache-Populismus ist Müller glücklicherweise weit entfernt. An einem langen Abend mit ein oder zwei Glas Rotwein stellt »Bestie Mensch« eine gelegentlich anregende Lektüre dar. Mehr nicht.