»Nach Europa zurückgekehrt, brauchte ich die tägliche Schrift und las vieles neu.« Den ersten Satz aus Peter Handkes Die Lehre der Sainte-Victoire hat Thorsten Carstensen als Grundlage für den Titel seines Sammelbandes »Die tägliche Schrift« über »Peter Handke als Leser« genommen. Der Band erschien im Herbst 2019 – eigentlich genau zur richtigen Zeit: Handke hatte den Literaturnobelpreis zugesprochen bekommen. Aber das hyperventilierende Feuilleton hatte nur Augen und Ohren für Handkes Jugoslawien-Texte. Statt sie zu lesen wurden sie zertrümmert und derart neu zusammengesetzt, dass das Fallbeilurteil im (falschen) Zitat seine Bestätigung erhielt. Für Handkes poetologisches Schaffen interessierte sich niemand. Man war ausreichend mit Denunziationen beschäftigt.
Fast naturgemäß sind literaturwissenschaftliche Arbeiten über das Œuvre von Peter Handke bisweilen sperrig, ihre Lektüre ist mühsam, die Beschäftigung verlangt bisweilen auch vom Leser Kenntnis der Primärtexte. Thorsten Carstensen hatte allerdings 2013 mit seinem umfangreichen Band über Romanisches Erzählen gezeigt, dass man verständlich und anregend zugleich über Handke referieren kann. Seine These ging dahin, dass die romanische Baukunst des Mittelalters als Vorbild für Handkes Spätwerk angesehen werden kann. Den gängigen Bezeichnungen der Werkphasen widersprach Carstensen sanft, aber bestimmt: die sprachkritische Phase sei nie ganz abgeschlossen gewesen, sondern habe sich nur »im Zeichen der französischen Dekonstruktion« gewandelt. Den hohen Ton um die Langsame-Heimkehr-Tetralogie habe Handke später zu Gunsten eines gelasseneren Erzählens verändert, ohne allerdings von seinen Ambitionen des »epischen Erzählens« abzulassen, welches »phänomenologische Wahrnehmung, geschichtsphilosophische Reflexion und ästhetische Selbstvergewisserung zu einem Gefüge arrangiert«. Mit der Morawischen Nacht komme auch immer mehr Selbstironie und ‑parodie in Handkes Werk. Die »romanische Phase« Handkes verortet Carstensen ab Ende der 1980er Jahre, mit dem Erscheinen der drei Versuche. Ob man dieser Einschätzung nun zustimmt oder nicht: wer über das Spätwerk Handkes einen profunden Überblick erhalten möchte, sollte die knapp 30 Seiten der Einleitung von Romanisches Erzählen lesen. Mindestens diese.
[...]
Der »Handke-Kanon« zeigt eine große ästhetische Bandbreite. Wie kann jemand der Gerhard Meier schätzt gleichzeitig Wolfgang Welt goutieren? Warum hört man von Handke eher Zurückhaltendes von der Literatur Knausgårds, der doch ähnlich wie Welt ein chronologisches und praktisch ungeschütztes Erzählen praktiziert? Welche Kriterien legt ein Vielleser wie Peter Handke bei der Lektüre und »Förderung« von Autoren an?
Obwohl Thorsten Carstensen in seiner Einleitung auf das »Nebeneinander von Pop-Kultur und Weltliteratur« bei Handke zu sprechen kommt, werden diese Fragen im vorliegenden Band nur am Rand besprochen. Tatsächlich geht es mehr um die Einflüsse anderer Autoren und die intertextuelle Verarbeitung des Gelesenen im Werk des Dichters. Schon in der Einleitung kommt Carstensen auf den Einfluss Goethes zu sprechen und begründet, warum sich der Österreicher durchaus in dessen Tradition verortet (und dies, obwohl in seinem Post-Nobelpreisausspruch »Ich[…] komme von Tolstoi, ich komme von Homer, ich komme von Cervantes« überraschenderweise Goethe nicht vorkommt). Handkes »Gestus der Beschwörung« insbesondere seit den 1980er Jahren folgt der Idee, den (erzählten) Raum, der bei Goethe noch vorhanden war, aber inzwischen – man darf annehmen durch die Moderne oder das, was Handke dafür hält – verschüttet ist, für sich wieder neu zu (er)schaffen. Hier wären Hofmannsthals Briefe des Zurückgekehrten womöglich erwähnenswert – ein Text, der Handke mehr geprägt haben dürfte als der bekanntere Chandos-Brief.
Den ganzen Beitrag » ‘...und las vieles neu’ « hier bei Glanz und Elend lesen
Sehr geehrter Herr Struck,
haben Sie herzlichen Dank für die ausführliche Besprechung der beiden Bücher von Thorsten Carstensen! »Romanisches Erzählen« lese ich gerade mit großem Gewinn, weil sich manches bei Handke Gelesene und Wieder-Gelesene noch einmal neu erschließt, aus einem bestimmten Blickwinkel heraus ... So angeregt, lese ich noch einmal »Gestern Unterwegs«, »Don Juan«, die »Morawische Nacht« und anderes von Handke neu mit großer Freude. Danke!
Danke. »Romanisches Erzählen« ist wirklich gut. Habe ich zu lange liegenlassen.