…sprach der Rechtsanwalt und ehemalige Bürgermeister von New York Rudolph Giuliani, um möglichen Diskussionen über die Frage, ob sein Mandant Donald Trump, Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, bei einer möglichen Gerichtsverhandlung die Wahrheit sagen werde oder nicht, zuvorzukommen. Bei Gericht muß man schwören; man darf nichts als die Wahrheit sagen. Dieser Grundsatz ist in den Rechtsstaaten immer noch weithin akzeptiert. Eine Definition, was Wahrheit eigentlich sei, scheint nicht vonnöten. Hinterfragungen, zu denen meine Ausführungen über den Willen zum Nichtwissen anregen, sind in diesem Kontext nicht üblich und bringen den Beteiligten auch nichts, am wenigsten dem Angeklagten.
In den Massenmedien wurde Giulianos Spruch sogleich mit den »alternativen Fakten«, die Trump oder seine Untergebenen gelegentlich anbieten, in Zusammenhang gebracht. Freilich ist ein Fakt, eine Tatsache, etwas anderes als »die Wahrheit«. Wahrheit – oder ein Näherungswert an die hypothetische Wahrheit – stellt sich in der Regel durch Prüfung von Fakten her; nicht nur, aber auch durch Treue gegenüber den Fakten. Erzielte Wahrheitswerte in Bezug auf dieselbe Fragestellung können selbstverständlich voneinander abweichen. Die Perspektiven und Interessen sind unterschiedlich, vielleicht auch die einem konkreten Erkenntnisbemühen zugrundeliegenden ethischen Werte. Werden eine gemeinsame Bezugsebene und eine gemeinsame Spreche geleugnet, lassen sich solche Diskussionen allerdings gar nicht mehr führen. Was dann obsiegt, ist nicht das bessere Argument oder der klarere Blick auf die Tatsachen, sondern die Macht und das Eigeninteresse der Sprecher, ihre Lautstärke und die Fähigkeit, Massenmedien zu kontrollieren oder zu manipulieren.
In einem Artikel in der ZEIT mit dem Titel Warum Trump kein Lügner ist zitiert auch Thomas Assheuer den Spruch Giulianis. Die Erläuterung zu der Behauptung, Trump sei kein Lügner, ist dann ziemlich verschlungen, rhetorisch aufgezäumt, anfangs gefällt sich der Autor in der Abwandlung des altbekannten Paradoxons vom Lügner, der behauptet, die Wahrheit zu sagen, und sich damit als Lügner bestätigt, oder der behauptet, zu lügen, und damit die Wahrheit sagt. Wenn Trump kein Lügner ist Trump, was ist er dann? Ein wahrheitsliebender Mensch? Je deutlicher Assheuer mit seinen Bestimmungen herausrückt, umso mehr läßt sich auch sein Unmut spüren. Nein, Trump scheint die Wahrheit keineswegs zu lieben, er ist etwas ganz anderes, obszön zum Beispiel, vulgär, egoistisch. Wahrheit produziert Trump allenfalls in zweiter Instanz, insofern er etwas ausdrückt oder symbolisiert, nämlich die rücksichtslose Amoralität und Profitorientierung des Neoliberalismus (den Assheuer, etwas pauschaler, Liberalismus nennt). Aber kann – oder muß – man es nicht als Lügenhaftigkeit bezeichnen, wenn jemand – ein Sprecher, ein Autor, ein Repräsentant – die Sprache nur dazu einsetzt, seine Privat- oder Nationalinteressen zu verfolgen und sich dabei beliebiger Faktenversionen bedient? Assheuer scheint seine frappierende Behauptung nur in die Welt gesetzt zu haben, um am Ende, nach einer sophistischen Spiralbewegung, doch wieder zu den alten Standards zurückzukehren. Trump ist, so Assheuer, die »Maske des Darwinismus«, also eines Sozialdarwinismus, der sämtlichen Ideologien, die unbeschränktes Profitstreben rechtfertigen und propagieren, zugrundeliegt. Sätze, im Twitterformat meistens Kurzsätze, haben für Leute wie Trump allein die Funktion, Macht zu sichern und zu erweitern, Gegner niederzuhalten, Werbung in eigener Sache zu treiben. In diesem Kontext haben Lügen – einfache Definition: wenn man vorsätzlich die Unwahrheit sagt – durchaus ihren Platz, sie rechtfertigen sich durch ihre Wirkung, ihre Effizienz, ihre Reputationsmaximierung. Richtig ist für diesen Typus, was ihn stärker macht. In den siebziger Jahren, als Richard Nixon im politischen Wettbewerb Lügen einsetzte und sich damit ein Amtsenthebungsverfahren zuzog, weil wahrheitsliebende Journalisten sein Verhalten publik gemacht hatten, hielt die Öffentlichkeit ein Verhalten für inakzeptabel, Nixon mußte gehen. Heute wird es toleriert, von vielen sogar bewundert. Die Schwächeren bewundern den Starken, »ihren« Mann. Auch das ist Sozialdarwinismus.
Trump und mit ihm das Individuum, wie es der mittlerweile seit Jahrzehnten vorherrschende Neoliberalismus fordert und konstruiert, bewegen sich nicht mehr in einem durch die Pole Lüge und Wahrheit abgesteckten, in seinen Fundamenten immer auch moralisch definierten Kommunikationsraum, sondern in einem Raum der Public Relations, wo es einzig um Reichweite und Durchsetzung der eigenen Position geht. In diesem Kontext können Lügen nützlich sein, aber auch zurechtfrisierte Fakten, Übertreibungen, Leugnungen (»Es gibt keinen Klimawandel«), (Halb-)Wahrheiten und allgemein anerkannte Tatsachen. Ein solches Individuum ist zum Lügen allzeit bereit – was aber nicht heißt, daß es immer nur lügt. Dies gilt natürlich auch für Trump, den Politiker aus Fleisch und Blut, und da er die Nummer 1 ist, gilt es für ihn an erster Stelle. Rhetorische Streifzüge, die den Sachverhalt mit sprachlichen Girlanden umgeben, dienen eher der Verkleidung als dazu, dem Kaiser seine – nicht mehr ganz neuen – Masken wegzunehmen.
© Leopold Federmair
Aus Ernst-Wilhelm Händlers Essay »Die Literatur in Zeiten der Internetplattform-Gesellschaften«:
Interessant finde ich an den Ausführungen den Hinweis auf den »literarischen Wahrheitsbegriff«.
Es ist müssig, jemanden wie Trump als Lügner zu bezeichnen. Ohne mit der Wimper zu zucken, nennt er dann diese Leute Lügner. Ich nehme an ein solches Verfahren stellt lediglich den Feuilletonisten der »Zeit« zufrieden. Eine Art Ventilfunktion. Dem Phänomen wird man damit nicht ansatzweise gerecht.
Man sollte darauf hinweisen, dass auch ein Präsident wie Obama die »Nationalinteressen« der USA stets vorrangig sah. Er ist nun mal der Präsident der USA. Trumps »America first« resultiert ja eher aus einer isolationistischen Anschauung. Dies bringt Trump im Rahmen der (ökonomischen) Globalisierung in große politische Probleme. Ihm Darwinismus zu unterstellen ist unterkomplex, da man damit insgeheim Trumps Doktrin einer von der Weltwirtschaft nicht abhängigen USA mindestens teilweise übernimmt. Das merkwürdige an der Präsidentschaft Trumps ist, dass die USA trotz der zum Teil desaströsen Wirtschaftspolitik immer noch wächst.
Assheuer kommt dem Phänomen Trump, also dem politischen Erfolg und den Turbulenzen, die er hervorruft, nicht bei.
Die theoretischen Instrumente wirken auf mich wie spontane Erfindungen; den Antagonismus von Geld (Tausch) und Wahrheit (Vertrauen) kenne ich, aber die dialektische Analyse bringt keinen Mehrwert an Erkenntnis.
Was soll das heißen, dass Trump die Sprache wie Geld benutzt, und wie puritanisch darf man die Anti-These verstehen, nämlich dass Moral nicht profitabel sei; also auf Ehre und Gewissen... non-profitabel?!
Das nehme ich nicht ernst. Gerade die Tribalisierung von »Moral« ist erkennbar falsch, ganz gleich, in welches theoretische Gewand man diese uralte Hypothese der Menschheit kleidet.
Ich verstehe aber die Besorgnis, die sich entlang der kulturhistorischen Argumentation abzeichnet. Assheuer beklagt die Aufkündigung des bürgerlichen Stils, sobald Kooperation und Verständigung keine Rolle mehr spielen. Die Sprache wird Polemik, Meinung, »Wettbewerb«, etc.
Das hat sehr viel mit Macht, aber definitiv nichts mit Geld zu tun.
Das hat sehr viel mit Dominanzstreben, aber definitiv nichts mit Wahrheit zu tun.
Ja, vermutlich fällt gerade bei dieser letzten Beobachtung der Dialektiker dann sprichwörtlich über die eigenen Füße.
Denn die Wahrheit ist für diesen Sprachgebrauch irrelevant; d.h. sie ist redundant. Es heißt nicht: sie wird damit aufgehoben oder suspendiert.
Aber meine Kritik erübrigt sich: die Analyse muss ja dem Phänomen gerecht werden. Lüge und Wahrheit, Geld und Vertrauen, das greift einfach nicht. Ausgerechnet Geld stiftet ja sehr viel Vertrauen... Eher zuviel als zu wenig. Davon absehend dann von einem völlig geldfreien Vertrauen (der Codex der Wahrheit) im bürgerlichen Universum zu schwadronieren... Das ist eine zeitlose Illusion, kein kulturgeschichtlicher Ort.
@Keuschnig
Es ist für mich immer noch entscheidend, welche Werte vorzuschlagen, welche zu bewahren (oder auch zu schaffen) sind. Händler diagnostiziert die Abwesenheit konsenswilliger Kommunikationshaltungen. Ohne solche, die den immerwährenden Streit um das bessere Argument einschließen, ist Demokratie nach meinem Verständnis auf Dauer nicht möglich. Will man das hinnehmen – gut. Wir wären dann nicht nur in ein postfaktisches Zeitalter eingetreten, sondern auch, schon jetzt, in ein postdemokratisches. Literarische Wahrheitsbegriffe mit der Aufzählung »Ensemble aus Fernsehberichten, eigenen Gefühlen, Wünschen und Abneigungen« zu umreißen, halte ich für einen koketten, salopp dahingesagten Spruch dieses Autors. Ich sehe so gut nie fern, doch das hindert mich nicht, ein Autor zu sein. Berechtigt mich vielmehr dazu – um auch eimal ein bißchen kokett zu sein.
Mit Darwinismus meine ich Sozialdarwinismus. Dafür steht nach meiner Sichtweise D. Trump. Diese Grundhaltung, die in Deutschland im Zuge einer konservativen, oft auch militaristischen Nietzsche-Rezeption aufkam und dem Nazismus in die Hände spielte, ist unter neuen Vorzeichen im Neoliberalismus wiedergekehrt und heute die in den Köpfen vorherrschende Ideologie. Sehe ich mir Kommentare in den verschiedensten (linken wie rechten, intellektuellen wie stammtischmäßigen) Foren an, kann ich nur diesen Schluß ziehen, und ich erschrecke darüber.
@Sophie
Moral nach aufklärerischer Definition kann man nicht tribalisieren, ihre Grundsätze haben einen Geltungsanspruch, der so allgemein und verbindlich wie möglich ist. Daher auch die Formalisierungsversuche I. Kants. Wenn Moral als solche nichts mehr gelten soll, und wenn das im öffentlichen Diskurs (in der öffentlichen Seltstdarstellung und Selbstpositionierung) womöglich ohnehin schon der Fall ist, dann... Ja, was dann?
Natürlich möchte ich nicht »das Leben« durchmoralisiert wissen, aber auch wenn ich es – meine Nietzsche-Rezeption – ästhetisch grundiert sehen möchte, bleibt die Gültigkeit einiger Moralprinzipien Voraussetzung für die Existenz politisch-institutioneller Rahmenbedingungen, die das Gedeihen solcher freien Lebensentwürfe ermöglichen, zumindest aber erleichtern.
Kann sein, dass die Aufklärung von einer Uniformität der Moral ausgeht, es hat sich nur anthropologisch nicht bestätigt. Wir Westeuropäer orientieren uns heute an der Normativität des Rechts, welche diese Vermutung widerspiegelt und institutionell bestätigt (beinahe wie im Nachgang der Geschichte, die ihre eigene Utopie verwirklicht), aber unter der Fontanelle sortieren selbst wir die »Werte« immer noch nach persönlichen Vorlieben.
Solange das verträglich diskutiert wird, bleibt der soziale Friede erhalten. Aber wir sind doch immer auch »differenz-empfindlich«; der eine macht zu sehr auf Pflichten (konservativ), der andere zu sehr auf Autonomie (liberal), und der Dritte drückt dauernd auf den Opfer-Buzzer (Sozialist), als gäbe es nur den einzigen Knopf.
Kennen wir gut, ist kein Problem.
Bis zu dem Zeitpunkt, wo das sich Archaische wieder breit gemacht hat; diesmal nicht als Konjunktur des eigenen Unvermögens, sondern als Import von Rückständigkeit.
Dann haben wir plötzlich wieder mit Ehre, Respekt, Loyalität und Opferbereitschaft zu tun, als wäre nichts so vergänglich wie der Fortschritt von gestern.
Und unser eigenes Gestern ist historisch gesehen noch gar nicht lange her.
Aber was das Verwirrendste ist für viele unserer Zeitgenossen, mich eingeschlossen: Ehre, Respekt, Loyalität und Opferbereitschaft sind ausschließlich »moralische Konzepte«.
Kann man darüber streiten, ob sich hier eine Grundgesetzverträglichkeit einstellen wird. Ist aber obsolet, im wesentlichen klärt das die Strafprozessordnung.
Sie merken schon den Zynismus. Aber ich will versuchen, noch die Kurve zu kriegen: dass Trump keine Moral hätte, oder nur der Vorteilserwägung des Geschäftsmanns folgt, stimmt nicht. Er hat sogar einige dieser archetypischen Wertmaßstäbe verinnerlicht, z.Bsp. die völlig übersteigerte Loyalitätserwartung.
Ironie, Ironie. Die Moral der Straße, der Mafia, des Klans oder des Geschäftsgauners... Sie alle sind sich nicht nur oberflächlich ähnlich.
Ja, ich merke den Zynismus, und weiß nicht, ob er angebracht ist. Unumgänglich, vielleicht. Über die Begriffe würde man sich verständigen müssen: Respekt, was spricht dagegen? Verstanden als wechselseitige Achtung, als Bedenken der Freiheit des Anderen, Andersdenkenden, des anderen Denkens. Loyalität? Ja, verstanden als Ausdauer, langer Atem, Großzügigkeit. Nein, verstanden als kritiklose Unterwerfung: so definiert Trump in seinen Handlungen den Begriff, als stumme Treue des Knechts gegen den Herrn.
Gesetze: gibt es nicht ohne moralisches Fundament. Siehe dazu auch die Scheu von Leuten wie Trump, sich Gerichten und ihrer Wahrheitsforderung zu stellen.
Über die Ko-Evolution von »Gesetz und Moral« traue ich mich nicht viel zu sagen. Es ist nicht nur die permanente Synthese zu beobachten, sondern auch eine Komplikation im Gange, die beizeiten eine Überforderung darstellen kann.
Sie kennen die fortschritts-optimistische Deutung: was heute neu und richtig ist, mag ungewohnt sein, aber morgen schon ist es selbstverständlich.
Aber wenn das Ergebnis einer moralischen Abwägung resp eines politischen Prozesses kompliziert ist, ist es auch morgen nicht selbstverständlich in dem Sinne, dass es jedem gleich einleuchtet.
Die Anforderungen wachsen.
Natürlich sind beide Sphären unablösbar. Meine Vermutung geht dahin, dass ein altes (typisch deutsches) Grundvertrauen in die Codifizierung allmählich erschüttert wird, aber das sind vage Eindrücke. Hoffe, irgendwann mehr zu wissen...
Ein Beitrag zum ursprünglichen Thema: die Lüge und alle anderen rhetorischen Tricks der Populisten verdienen eine utilitaristische Erklärung. Der Schaden überwiegt vielleicht den Vorteil, aber die Vorteile liegen auf der Hand. Lügen sind ein guter Maßstab für die Kühnheit des Anführers oder Parteigängers. Sie erzeugen »paradoxes Vertrauen«. Zur Bindungsverstärkung sind folgende Zusicherungen gleichwertig: Für Dich würde ich lügen... Für Dich würde ich töten...
Archaisch zweifellos, aber leider auch sehr wirksam.
Ich sehe keinen Vorteil darin, einen »primitiven Gegner« in einen ‑Ismus zu verwandeln, wie das Assheuer versucht. Ist denn ein ‑Ismus leichter zu besiegen als ein Polit-Gauner?! Ich wüsste nicht wie.
Die Analyse sollte weniger inspiriert sein... Wenn wir uns über die »Ursachen des unheimlichen Erfolges« im klaren sind, können wir die richtigen Gegenmaßnahmen treffen. Wenn wir uns bei den Ursachen irren, dann setzen wir den Hebel an der falschen Stelle an.
Wir haben es allerdings von allen Seiten mit Umdeutungen von Begriffen wie »Respekt«, »Ehre« oder »Loyalität« zu tun. Die Gewissheiten, was das bedeutet, schwinden nicht nur, sie erodieren.
Neulich fand in Berlin eine Beerdigung eines arabischen Clanmitglieds statt, der auf offener Strasse erschossen wurde. Der Konvoi wurde begleitet von rund 2000 Personen, die sich dem Ermordeten verbunden fühlten und führte naturgemäß über öffentliche Strassen. Als nun Frauen diese Straßen betreten wollten, wurden sie von »Ordnern« auf die andere Strassenseite verwiesen, weil diese Strassenseite nur Männern vorbehalten sei. Der Ausspruch war: »Respekt, bitte«. Respekt bedeutet also in diesem Fall Unterwerfung unter einer Ordnung, die von anderen mehr oder weniger willkürlich geschaffen wurde. Wo hört die »wechselseitige Achtung« auf und wo fängt die Unterwerfung an? Was kann man tolerieren und was nicht?
Gerade das Beispiel von Clans oder auch der Mafia zeigt, wie schwammig so etwas wie »Loyalität« oder »Respekt« sein kann. Man ist dort nicht dem Staat, der Verfassung des Staates, gegenüber loyal, sondern der Gruppe. Irgendwann resigniert dann die Ordnungsmacht und überlässt den anderen das Feld. Das kann man u. a. – aber nicht nur – in Süditalien sehen.
Die »Ursachen des unheimlichen Erfolges« liegen u. a. darin, dass das Wertekonzept laufend neuen Umdeutungen unterworfen ist.
Zwei Beispiele für »Wahrheit ist nicht gleich Wahrheit«.
Eines stammt aus dem Buch »Payback« von Schirrmacher aus dem Jahr 2009, ist aber inzwischen ziemlich bekannt geworden. Es geht um die in den 200er Jahren gängige Aussage, das Brustkrebsvorsorgeuntersuchungen (das sogenannte Screening) das Krebsrisiko um 20% mindern würde. Die Zahl suggeriert, dass durch rechtzeitige Vorsorgeuntersuchungen 20 von 100 Frauen sozusagen »gerettet« werden könnten. Das ist jedoch falsch. Es heißt nur, dass von tausend Frauen, die sich keinem Screening unterziehen, fünf sterben, und von tausend Frauen, die eines machen, vier sterben werden. Der Unterschied von vier zu fünf ergibt die zwanzig Prozent.
De facto ist die Zahl von 20% nicht falsch. Sie bedarf jedoch einer Interpretation, die hinter der tatsächlichen Bedeutung fast immer unterbleibt. Kolportiert wurde sie vor allem deshalb, weil die Krankenkassen das Screening bezahlt und also die Ärzte diesen Aufwand berechnen können. Ähnliche Zahlen gibt es z. B. bei der Voraussage für die Vorbeugung von Prostatakrebs bei Männern nicht. Die umfassenden Vorsorgeuntersuchungen hierzu werden von den Krankenkassen nicht bezahlt, sondern müssen von den Patienten zusätzlich entrichtet werden. Die Gründe sind einfach: Es ist preisgünstiger die an Krebs erkrankten Männer zu therapieren statt großflächige Vorsorgeuntersuchungen zu bezahlen. Bei den Frauen ist es scheinbar umgekehrt.
Das zweite Beispiel. Bei den letzten Wahlen in der Türkei waren auch die in Deutschland lebenden Türken wahlberechtigt. Nach der Wahl wurde deutlich, dass 60% der Deutschtürken für Erdogan gestimmt hatten. Zuweilen gab es noch den Hinweis, dass die Wahlbeteiligung bei knapp 50% gelegen habe. Man kann nun die Zahl von 60% alarmistisch kommentieren (wie dies auch bspw. vom Grünen-Politiker Özdemir gemacht wurde) oder aber verharmlosend, in dem man über die Wahlbeteiligung die reale Zahl der Erdogan-Wähler ermittelt (s. »Stern«). Dieses Verfahren halte ich persönlich aus mehreren Gründen für unlauter. Der Hauptgrund ist, dass Parlamente nicht nach Nichtwählerstimmen besetzt werden. Je nach politischer Agenda werden aber Wahlergebnisse derart »ausgewertet«. Beide Aussagen sind hingegen auf ihre Art und Weise »wahr«. Dies zeigt, wie wichtig Medien in diesem Zusammenhang sind und wie eine camouflierte Infiltration – in der ein oder anderen Richtung – stattfinden kann.
ad #8, erstes Beispiel
Dazu fällt mir augenblicklich Prof. Gerd Gigerenzer ein. Er verwendet dieses Beispiel in einem Vortrag über ärztliche Risikokompetenz (hier nachzusehen). Man beachte die »Nebenwirkungen« des Brustkrebsscreenings bei einem Gesamtnutzen von genau Null hinsichtlich der Krebssterblichkeit insgesamt. Eine grafische Faktenbox zur Prostata-Früherkennung findet sich im selben Videoclip an dieser Stelle.
ad Thema möchte ich vielleicht später noch eine kleine Beobachtung beisteuern.
Händler ist kein Theoretiker aber er trifft einen Punkt, wenn er sagt, es habe keinen Sinn, Trump und Putin einfach Lügner zu nennen. Die Leute wählen Politiker aus Millionen von Gründen und viele dieser Wähler sind einverstanden damit, dass diese Politiker keine Heiligen oder säkulare moralische Riesen sind: Von alters her und – nicht nur aus schlechten Gründen.
(Ich denke, Kalte_Sophie, daher rührt Ihre Weigerung, sich definitiv auf eine der hier zur Debatte stehenden Seiten zu schlagen – also pro oder contra Trump).
Politik dreht sich um Macht, und Machtgewinn ist nicht identisch mit dem Gewinn einer gut gerchtfertigten Einsicht oder eines guten Ansehens, z. B.
Politik, Leopold Federmeier, findet in der Realität statt, und was das ist, wissen wir laut Kant alle nicht definitiv. Insofern ist das Kriterium der Wahrheit und der Lüge notwendigerweise ein viel zu großer Schuh, wenn man diesen Bereich komplett erkunden will.
Schirrmacher hat sein Krebs-Screening Beispiel von einem seiner Helden, nämlich Gerd Gigerenzer, einem Mann, der zu den – zumindest potentiell – praktisch folgenreichsten Diskurstheoretikern gehört.
Ansonsten meine ich, man tue gut daran, zwischen Wahrheit und Richtigkeit zu unterscheiden.
Wahrheit betrifft das Gebiet der objektiven Tatsachen – im Grunde alles, was irgendwie messbar ist: Das und das war gestern, 3:30. Diese Material ist brandhemmend nach DIN Nr. XYZ usw.
Die soziale Welt der Wertentscheidungen gehorcht dem Kriterium der Richtigkeit – und nicht dem der Wahrheit.
Richtigkeitsentscheidungen treffen wir aufgrund unserer Erfahrungen. Sie lassen sich nicht in der Weise objektivieren (=messen), dass sie definitv entschieden werden könnten. Es genügt, dass wir uns darauf verständigen, dass der vernünftige Umgang mit Richtigkeitsfragen verlangt, dass man sie öffentlich, fair und zivil/höflich behandelt.
Es geht bei Richtigkeitsfragen nicht um letzte Dinge, sondern um menschliche Präferenzen (=Ansichten), die immer vorurteilsbehaftet und fehlbar sind.
Insofern sind Richtigkeitsfragen, wie der Philosoph sagt, von deontologischer Natur und insofern ist unser kommunikatives Handeln auch nicht mit der Last letzter Dinge wie z. B. Glaubensfragen beschwert. Es soll allen Beteiligten stets klar sein, dass auf dem Feld der Politik lediglich darüber zu bedfinden ist, was unter der Voraussetzung der unauflösbaren menschlichen Fehlbarkeit – - – als nächstes zu tun sei.
(Zur näheren Erkundung dieser Fragestellungen empfehle ich insbesondere das Buch »Wahrheit und Rechtfertigung« (2007) von J. Habermas).