Ul­rich Grei­ner: Das Le­ben und die Din­ge

Ulrich Greiner: Das Leben und die Dinge

Ul­rich Grei­ner: Das Le­ben und die Din­ge

»I am a ra­ther el­der­ly man.« So lau­tet der er­ste Satz von Her­man Mel­vil­les »Bart­le­by, the Scri­ve­ner«; deutsch: »Bart­le­by, der Schrei­ber«. Im kur­zen Vor­wort zu sei­ner Au­to­bio­gra­phie ha­dert Ul­rich Grei­ner mit den ver­schiedenen Über­set­zun­gen die­ses Sat­zes. Kei­ne da­von, ob »äl­te­rer Mann«, »be­jahr­ter Mann« oder »Mann in recht vor­ge­rück­tem Al­ter«, schei­nen ihm ge­glückt. Wie Grei­ner »el­der­ly« über­set­zen wür­de, sagt er nicht. Aber wenn man sein Buch ge­le­sen hat, dann ahnt man es viel­leicht.

Un­ge­wöhn­lich die­ses kur­ze Vor­wort in der Er-Form. Es ist der Ver­such, noch ein­mal ei­ne klei­ne Di­stanz her­zu­stel­len zu dem, was dann un­wei­ger­lich »Ich« ge­nannt wer­den wird. Der Mann, der sei­ne schwar­zen An­zü­ge nur noch zu Trau­er­fei­ern be­nutzt. Die so­ge­nann­ten »Ein­schlä­ge«, die nä­her­kom­men. Die Er­in­ne­run­gen, die im­mer mehr ver­blas­sen und vor dem end­gül­ti­gen Ver­schwin­den er­ret­tet wer­den sol­len.

Der vor­der­grün­di­ge An­lass: Ul­rich Grei­ner, ei­ner der wich­tig­sten deut­schen Literatur­kritiker, ist die­ses Jahr 70 Jah­re alt ge­wor­den. Von 1970 bis 1980 war Grei­ner Feuil­letonredakteur der FAZ. Dann ging er zur »Zeit«, wo er in un­ter­schied­li­chen Po­si­tio­nen bis heu­te tä­tig ist. Im Ge­gen­satz zu ei­ni­gen an­de­ren Kol­le­gen stell­te sich Grei­ner fast nie ins Zen­trum. Die gro­ße In­sze­nie­rung blieb ihm fremd. Im Fern­se­hen war er sel­ten zu se­hen; zwei­mal im Li­te­ra­ri­schen Quar­tett (1991 und 1999). Am deut­lich­sten trat Grei­ner mit sei­ner Po­si­tio­nie­rung im Li­te­ra­tur­streit um Chri­sta Wolfs Er­zäh­lung von »Was bleibt« 1990 her­vor, in dem er Wolf als »Staats­dich­te­rin« der DDR be­zeich­ne­te und Wolfs Um­gang mit ih­ren Sta­si-Ver­strickun­gen pein­lich nann­te.

We­der von die­ser Aus­ein­an­der­set­zung, die das Feuil­le­ton län­ger be­schäf­tig­te und die Fra­ge nach ei­ner »Ge­sin­nungs­äs­the­tik« in der Be­ur­tei­lung von Li­te­ra­tur auf­warf, noch über an­de­re äs­the­ti­sche Dis­kus­sio­nen und li­te­ra­ri­sche De­bat­ten er­fährt man in die­sem Buch. Un­ge­wöhn­lich ist auch das ge­wähl­te For­mat: Grei­ner glie­dert sei­ne Au­to­bio­gra­fie in 48 al­pha­be­tisch sor­tier­ten Be­grif­fen, von »Ag­fa-Clack« bis »Zim­mer«. Der Ver­zicht auf ei­ne chro­no­lo­gi­sche Dar­stel­lung bie­tet den Vor­teil, dass man von star­ren Zeit­ge­rü­sten nicht ein­ge­engt und da­mit das Er­zäh­len, das Ab­schwei­fen, ge­för­dert wird. Fast hat man das Ge­fühl mit dem Pfei­fen­rau­cher Grei­ner am Ka­min zu sit­zen.

Blei und Ton­band­ge­rät

Auf den er­sten Blick ku­ri­os mu­tet auch die Gen­re­bezeich­nung »Al­pha­be­ti­scher Ro­man« an, die ei­nen letz­ten Rest Fik­tio­na­li­tät durch­blicken las­sen soll. Da­bei sind auf­fal­lend vie­le Be­grif­fe Re­mi­nis­zen­zen aus ei­ner ver­gan­ge­nen Zeit, die aber den­noch nie idea­li­siert wird. Sen­ti­men­ta­li­tät ist dem Au­tor fremd. Es sind Er­in­ne­rungs­pflöcke, je­weils ty­pisch für ei­ne be­stimm­te Epo­che des Le­bens. Wie zum Bei­spiel »Ag­fa-Clack«, die er­ste, ein­fach zu be­die­nen­de Ka­me­ra, die noch et­was Be­son­de­res war – im Ge­gen­satz zum in­zwi­schen tri­via­li­sier­ten di­gi­ta­len Fo­to­gra­fie­ren. »Blei« ist ei­ne kur­ze aber wun­der­ba­re Hom­mage an den längst aus­ge­stor­be­nen Be­ruf des Met­teurs nebst dem (wört­lich zu ver­ste­hen­den) Hin­ein­rie­chen in des­sen Ar­beits­platz. Olfak­to­risch wird es auch un­ter dem Stich­wort »Schweiß«. Grei­ner ent­wirft ei­ne klei­ne Ty­po­lo­gie der Schweiß-Mo­men­te. Zum ei­nen der Ar­beits- und Sau­naschweiß, bei­de harm­los, und dann der ge­fürch­te­te (und ab­norm stin­ken­de) Angst­schweiß, der ihn zu­wei­len be­fiel als er als Feuil­le­ton­chef di­ver­sen Zwän­gen aus­ge­setzt war und Ver­sa­gens­äng­ste ent­wickel­te. Mit sei­nem Text zum »Ton­bandgerät« er­steht noch ein­mal die Fas­zi­na­ti­on die­ses Auf­zeich­nungs­ap­pa­ra­tes, der da­mals als das Non­plus­ul­tra galt. Aber all die­se Ge­gen­stän­de, einst ge­prie­se­ne tech­ni­sche Neue­run­gen, ver­schwin­den nun im »Or­kus des Ver­al­tens«. Und nie­mand ist mehr in der La­ge, das de­fek­te Ton­band­ge­rät zu re­pa­rie­ren.

Freund­schaf­ten zu Schrift­stel­lern?

Die Tex­te wer­den fra­gen­der und ele­gi­scher, wenn es um Men­schen geht, wie et­wa beim The­ma »Freund­schaft«. Das Zer­bre­chen der Freund­schaft zu Lou­is Be­gley – we­gen ei­ner ne­ga­ti­ven Re­zen­si­on? Grei­ner fragt sich, ob das über­haupt ei­ne Freund­schaft war. Grei­ner schätzt, ja ver­ehrt Pe­ter Hand­ke und Bo­tho Strauß. Aber Freund­schaft? »Ich fü­ge hin­zu, dass ich zu bei­den so et­was wie Lie­be emp­fin­de, wo­bei der Be­griff Nä­he wie Di­stanz, Zu­nei­gung wie Be­frem­dung mit ein­schließt«, so schreibt er ein biss­chen um­ständ­lich (wie es sonst ge­ra­de nicht um­ständ­lich bei Grei­ner zu­geht).

We­nig Pri­va­tes. Da sind die El­tern (der em­si­ge Va­ter, dem mehr als ein­mal Ab­bit­te ge­lei­stet wird; die Mut­ter un­ter ei­nem Lin­den­baum), sei­ne Fa­mi­lie (vor al­lem die Kin­der); ei­ne Ju­gend­lie­be (»Hor­ten­sie«). Die er­ste Freun­din. Oder ei­ne ge­wis­se Lin­da: »Wir schrie­ben ein­an­der Brie­fe. Es wa­ren nicht sehr vie­le. Den letz­ten, der aus Ann Ar­bor kam, hat­te sie mit ih­rem Par­füm ge­tränkt. Oft­mals ha­be ich dar­an ge­ro­chen. Je­des Mal wur­de der Duft schwä­cher, bis er end­gül­tig er­lo­schen war.«

Na­me­drop­ping und In­dis­kre­tio­nen gibt es fast gar nicht. Ei­ni­ge we­ni­ge so­ge­nann­te Pro­mis schaf­fen es ins Buch. Da ist der ver­ehr­te Fritz J. Rad­datz, dem Grei­ner als Feuil­le­ton­chef der »Zeit« 1986 nach­folg­te (bis 1995 war er in die­ser Po­si­ti­on). Er ahn­te, dass er ihn in­tel­lek­tu­ell nicht er­rei­chen wer­de. Ei­ne Ab­nei­gung wird er­zählt – je­ne zu Frank Schirr­ma­cher. Durch den un­er­war­tet schlaf­fen Hand­schlag des »Macht­men­schen« Schirr­ma­cher liest Grei­ner den Hän­de­druck nun »um­ge­kehrt«. Die In­tri­gen in der Zeit-Re­dak­ti­on; hier gibt es ei­nen klei­nen Ein­blick. Ben­ja­min Hen­richs, der ihn vor ver­sammelter Mann­schaft Lüg­ner nann­te.

Rol­len­tausch zwi­schen den Res­sorts

Grei­ner zeigt ei­nen Pa­ra­dig­men­wech­sel des Feuil­le­ton-Jour­na­lis­mus auf. Schon vor­her gibt es ei­ne Be­mer­kung, dass man für ein­gän­gi­ge und ge­lun­ge­ne Buch­be­spre­chun­gen (vul­go Re­zen­sio­nen) kein Lob er­hal­te. Man wünscht statt­des­sen In­ter­views, Por­traits, Be­triebs-Bou­le­vard. Nur noch ge­le­gent­lich gibt es ein Fei­gen­blatt mit ei­ner gro­ßen Re­zen­si­ons­an­stren­gung.

Und noch ei­ne an­de­re, neue Funk­ti­on des Feuil­le­tons ent­deckt Grei­ner. Es sei »für die über­hö­hen­de Er­läu­te­rung des je Ak­tu­el­len zu­stän­dig ge­wor­den, wäh­rend zu­gleich das po­li­ti­sche Res­sort – da Be­rich­te über das ’star­ke und lang­sa­me Boh­ren har­ter Bret­ter’ (Max We­ber) nicht mehr ge­nug Le­ser zu fin­den schei­nen – da­zu über­ge­gan­gen ist, sich For­men des klas­si­schen Feuil­le­tons an­zu­eig­nen.«

Hef­tig kri­ti­siert er das »Selbst­dar­stel­lungs­be­dürf­nis« von Jour­na­li­sten, das »die Au­to­ri­tät des Tex­tes« im­mer mehr ver­drän­ge. Der Grund­satz, die Pres­se sol­le »über Ereignisse…berichten, und nicht Er­eig­nis­se« her­stel­len, wer­de im­mer mehr ver­ges­sen. Am­bi­va­lent sein Ver­hält­nis zum Echt­zeit-Jour­na­lis­mus im Netz: »Der On­line-Jour­na­lis­mus ist mir zu­tiefst ver­däch­tig, und doch se­he ich mit stau­nen­der Be­wun­de­rung die jun­gen Kol­le­gen, die sich eben­so un­be­fan­gen wie in­tel­li­gent, eben­so vir­tu­os wie ein­falls­reich in den neu­en Räu­men be­we­gen.« Den­noch dürf­te es für den Be­rufs­stand ver­stö­rend sein, wenn es heißt: »Ich glau­be üb­ri­gens, dass die Pres­se gut dar­an tä­te, das ver­fem­te Wort von der ‘Lügen­presse’, wie es bei den De­mon­stra­tio­nen laut wur­de, selbst­kri­tisch ernst zu neh­men.«

Grei­ner for­dert fast schon ver­zwei­felt da­zu auf, den Re­zi­pi­en­ten in­tel­lek­tu­ell zu for­dern und nicht mit leicht­gän­gi­ger Kost ab­zu­spei­sen. Er sieht die Grund­la­gen für die­sen Pa­ter­na­lis­mus be­reits in der Kind­heit und Ju­gend, bei El­tern und Schu­len, an­ge­legt, er­in­nert sich an sei­ne Lek­tü­ren, von de­nen er als Ju­gend­li­cher zu­nächst kaum et­was ver­stand, aber durch­aus fas­zi­niert war. »Et­was zu le­sen, oh­ne es gänz­lich zu ver­ste­hen, er­scheint mir als die ent­schei­den­de In­itia­ti­on ins Reich der Li­te­ra­tur. Die zeit­ge­nös­si­sche Päd­ago­gik, de­ren Ziel dar­in be­steht, die jun­gen Le­ser nicht zu über­for­dern und die ob­li­ga­to­ri­schen Tex­te im Hin­blick dar­auf aus­zu­wäh­len, ob sie die Kin­der in ih­rem Le­ben ab­ho­len könn­ten, kommt mir frag­wür­dig vor.«

Grei­ner er­kennt, wie sich der Jour­na­lis­mus und das Feuil­le­ton än­dert. Die am En­de aus­weg­lo­se Re­si­gna­ti­on ei­nes Fritz J. Rad­datz ist ihm je­doch fremd. Eher glaubt man zwi­schen den Zei­len ei­ne be­stimm­te Form von Dank­bar­keit her­aus­zu­le­sen. Da­her feh­len Ab­rech­nun­gen oder in­ten­si­ve Ent­hül­lungs­ge­sten. Bei al­ler Stren­ge gibt es auch lust­vol­le Mä­an­der, et­wa wenn die Er­ör­te­run­gen zu »Kühl­schrank« nach Mos­kau, ins Ho­tel Ros­si­ja füh­ren, in die UdSSR der Gor­bat­schow-Zeit und mit leich­ter Hand ei­nen ver­zwei­fel­ten weil hung­ri­gen Deut­schen im abend­li­chen Mos­kau zei­gen. Ul­rich Grei­ners »alpha­betische« Au­to­bio­gra­fie ist ein ehr­li­ches, ein gra­ziö­ses, wohl­tu­end un­prä­ten­tiö­ses Buch.

51 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Grei­ner hab ich gern ge­le­sen. Er fällt in mei­ne ZEIT-Pe­ri­ode als jun­ger Mann. Ich ha­be ihn als un­ab­hän­gig emp­fun­den, im Ge­gen­satz zu den Hitz­köp­fen, wel­che die »neue ZEIT« vor­aus­ahn­ten. Ein po­lit-di­dak­ti­scher Ver­ein im Schmelz­zen­trum der neu­en Mit­te. Die Stu­di-Leh­rer-Ge­hirn-Wasch­an­la­ge.
    Un­be­dingt rich­tig: dem Le­ser et­was ab­ver­lan­gen. Auch der Re­dak­teur soll­te da­hin auf­schlie­ßen, der Li­te­rat bzw. Au­tor muss es vor­ge­ben. Statt­des­sen: Schwanz we­delt mit Hund. Schwa­che Li­te­ra­tur, von Klug­schei­ßern auf­ge­blät­tert. Ei­tel­keit. Lieb­lo­sig­keit.
    Es wirkt auf mich bis heu­te be­fremd­lich, mit an­ge­se­hen zu ha­ben, wie die Po­li­tik sich des Feuil­le­tons be­mäch­tig­te, um sich noch er­folg­rei­cher der Köp­fe der halb­ge­bil­de­ten Stän­de be­mäch­ti­gen zu kön­nen. Zwei­fel­los ein Re­gime, das um die Ecke denkt; Me­tho­dik des Un­ter­schla­gens, der Ein­sei­tig­keit und der ge­spiel­ten Ent­rü­stung. Ganz un­ab­hän­gig von dem über­aus bit­te­ren Bei­geschmack, den der Kol­la­te­ral­scha­den an den Kün­sten ein­bringt, se­he ich es als miss­lun­ge­nen Ver­such, Deutsch­land in ei­ne »so­zi­al-li­be­ra­le Kul­tur­na­ti­on« zu ver­wan­deln, dem al­ten Na­tio­nen-Pro­blem ge­schul­det, d.h. letzt­lich der Fra­ge, wer wir sind und sein wol­len.
    Net­ter Ver­such.

  2. Die Ten­denz zur »so­zi­al-li­be­ra­len Kul­tur­na­ti­on« ist aber auch bei Grei­ner spür­bar. Die For­de­rung da­zu, den Le­ser zu for­dern, hat ja auch im­mer et­was pro­te­stan­tisch-links­li­be­ra­les, weil er zu­meist in­ten­tio­nal ver­knüpft wird. Das macht Grei­ner nicht aus­drück­lich, aber ich ha­be im­mer die Be­fürch­tung, dass mich je­mand dann nach der Lek­tü­re wie in der Schu­le ab­fragt und auf den »rich­ti­gen« Weg brin­gen will.

  3. Ja, die For­de­rung ist nicht ein­deu­tig. Will man den stets in Ent­wick­lung be­find­li­chen Menschen/Leser nur bei der Ent­fal­tung sei­ner selbst be­för­dern, oder nimmt man die Ent­wick­lungs­zie­le di­dak­tisch schon vor­weg.
    Das sagt sich schnell, und fälscht sich um­so leich­ter. Da­bei gibt es na­tür­lich im­mer ei­nen Ein­trag aus dem spe­zi­fi­schen Kul­tur-Rück­raum, und die pro­te­stan­ti­sche Ägi­de ist so­gar be­son­ders hart­näckig... am Hel­fen. In ei­nem Punkt muss ich die­ser wild­ge­wor­de­nen di­dak­ti­schen Ban­de so­gar bei­pflich­ten: ei­ne all­ge­mei­ne An­lei­tung zur »Er­zie­hung des Men­schen­ge­schlechts« liegt ja nir­gends vor. Man muss sich aus dem Rück­raum (Re­li­gi­on, Ideo­lo­gie) be­die­nen. Die Kunst scheint im­mer wie­der das Uni­ver­sel­le zu er­rei­chen, aber wie ich bei mir sel­ber fest­stel­len konn­te, fällt man doch all­zu leicht da­hin­ter zu­rück. Das Über­mensch-Pro­blem: den Bo­gen all­zu weit ge­spannt, das Ziel all­zu hoch fi­xiert, –da geht der Schuss leicht nach hin­ten los. Kunst und Phi­lo­so­phie raus aus dem Schul­we­sen?!

  4. @die_kalte_Sophie
    Er­stens ist die Haupt­auf­ga­be der Schu­le (des Schul­we­sens) si­cher nicht die Er­zie­hung der jun­gen Men­schen (dass sie auch er­zieht, sei nicht in Ab­re­de ge­stellt); zwei­tens soll­te man sich kei­ne Il­lu­sio­nen ma­chen: So wie Künst­ler kei­ne bes­se­ren Men­schen sind, ma­chen Kunst­wer­ke per se nie­mand bes­ser (wenn man der Kunst schon Funk­tio­na­li­tät an­dich­ten möch­te, dann je­ne der Bil­dung). — Er­zie­hung und Hil­fe zur Ent­wick­lung be­inhal­ten im­mer die Vor­weg­nah­me ir­gend­wel­cher Zie­le, sie sind im­mer (auch) wer­tend; pro­ble­ma­tisch wird es, wenn Ei­fer und Pa­ter­na­lis­mus zu­sam­men­fin­den, wenn Ent­schei­dun­gen (Zu- und Ab­wen­dun­gen) mehr ok­troy­iert als ge­trof­fen wer­den (selbst wenn das sub­til ge­schieht).

  5. War nur so ein State­ment. »Kunst und Phi­lo­so­phie raus aus...«. War nicht be­son­ders ernst ge­meint. Ich woll­te ei­gent­lich auf die­ses dif­fu­se »Schar­nier« auf­merk­sam ma­chen, wel­ches die dis­zi­pli­nä­re Di­men­si­on (Schu­le) mit dem Nütz­li­chen (ge­ne­ra­li­sier­te Öko­no­mie) ver­bin­det, wo­bei die »evo­lu­tio­nä­re Kom­po­nen­te«, al­so die Ent­wick­lung der Au­toren, Den­ker, Sach­ver­stän­di­gen im­mer mehr un­ter den Tisch fällt.
    Ich ver­mu­te, die ent­wick­lungs­psy­cho­lo­gi­sche Di­men­si­on (all­ge­mei­ne Ver­bes­se­rung des Men­schen­ge­schlechts) ver­schwin­det ge­ra­de. Sieht auch wirk­lich nicht nach Ver­bes­se­rung aus. Das Ver­schwin­den kann man be­ur­tei­len, wie man möch­te. Aber mit die­ser Di­men­si­on mein­ten die Ak­teu­re doch im­mer auch sich selbst in pro­to­ty­pi­scher Ver­wechs­lung, im Sin­ne ei­nes uni­ver­sel­len Selbst. Mir kommt die­se »Ab­schaf­fung« im­mer wie ei­ne Be­grün­dung der Ver­fla­chung vor, wenn Du weißt, was ich mei­ne... Ich glau­be, ein ge­wis­ser Bil­dungs­be­griff war doch nicht an al­le adres­siert, son­dern schlicht ein Code für ei­ne Ent­wick­lung, die noch­mals deut­lich län­ger dau­ert als nor­mal. Fast ei­ne »Wer­bung für das fort­ge­schrit­te­ne Al­ter«.
    Ich wür­de den Pa­ter­na­lis­mus am lieb­sten auf den Kopf stel­len: »...je äl­ter Du bist, de­sto mehr weißt Du... Al­so bit­te tu’ nicht so, als ob Du alt wärst. Du weißt ja of­fen­sicht­lich nichts!«

  6. @sophie_metpsilomena_gregor
    Ent­wick­lung setzt vor­aus, daß An­la­gen da sind, und die sind da. Es braucht nicht un­be­dingt Zie­le, oder an­ders ge­sagt: Al­les mög­li­che kann als Ziel die­nen, und der Ef­fekt, auf den es ei­gent­lich an­kommt, ist eben Ent­wick­lung. – Ich ha­be auch den Ein­druck, daß die Idee, so­wohl In­di­vi­du­en als auch Grup­pen, am En­de die Mensch­heit, können/sollen län­ger­fri­stig et­was aus sich ma­chen (das in ih­nen steckt), auf­ge­ge­ben wird, nein: auf­ge­ge­ben wor­den ist. Statt des­sen Öko­no­mie, sprich Kom­merz, au­gen­blick­li­cher Kon­sum, Spaß.

    Und wenn Grei­ner schreibt: »Et­was zu le­sen, oh­ne es gänz­lich zu ver­ste­hen, er­scheint mir als die ent­schei­den­de In­itia­ti­on ins Reich der Li­te­ra­tur.« Ge­nau! Aber mit so ei­ner Ma­xi­me darf man sich in kei­ne Klas­se, kei­nen Hör­saal mehr trau­en. Ich tu’s trotz­dem – und sto­ße bei ein­zel­nen auf Re­so­nanz. Die brau­chen das ei­gent­lich, ge­for­dert zu wer­den.

    Was ich nicht ver­ste­he: War­um ver­tei­digt Grei­ner die­ses elen­de, na­zi­ge­präg­te Schlag­wort von der Lü­gen­pres­se, das heu­te ge­nau­so hirn­los ver­wen­det wird wie das vom Gut­men­schen?

  7. @Leopold Fe­der­mair
    Grei­ner gou­tiert nicht das Wort »Lü­gen­pres­se«. Aber er er­kennt die tie­fe Ver­un­si­che­rung bei Me­di­en­re­zi­pi­en­ten ob der ih­nen prä­sen­tier­ten Nach­rich­ten und In­for­ma­tio­nen.

    Ich ha­be die Stel­le in sei­nem Buch ori­gi­nal zi­tiert. Grei­ner sieht in die­ser pau­scha­len Schmä­hung eben auch ei­nen Gran Wahr­heit. Dass er das nicht aus­führt, kann man ihm viel­leicht vor­wer­fen.

    Die Na­zis hat­ten den Be­griff zwar be­nutzt, aber er stammt ur­sprüng­lich aus dem na­tio­nal-völ­ki­schen Mi­lieu und wur­de vor al­lem um den Er­sten Welt­krieg her­um ver­wen­det (bei Goog­le Books kann man da­zu er­ste Ein­drücke er­hal­ten). Was meist ver­ges­sen oder nur in ei­nem Halb­satz er­wähnt wird ist, dass »Lü­gen­pres­se« ein gän­gi­ger Kampf­be­griff in den DDR-Me­di­en war. Da­mit war na­tür­lich die west­li­che Pres­se (bzw. Sprin­ger-Pres­se) ge­meint. Da »Pe­gi­da« ih­re Hoch­bur­gen vor al­lem im Osten hat, dürf­ten et­li­che den Be­griff da­her ken­nen.

    Die aus­schließ­li­che Ver­or­tung des Be­griffs als Na­zi-Idi­om wur­de schnell zur will­kom­me­nen Mög­lich­keit, sich je­der Form der Kri­tik bspw. an der Russ­land-Be­richt­erstat­tung zu ent­zie­hen. Man ist da­mit so­fort im­mun. Dass die Kri­tik­fä­hig­keit ge­ra­de bei Jour­na­li­sten nicht be­son­ders hoch aus­ge­prägt ist, dürf­te ja be­kannt sein. An­de­rer­seits ist in­zwi­schen ei­ne ge­wis­se An­spruchs­hal­tung bei Me­di­en­nut­zern auf­ge­kom­men, dass nur noch nach ih­rem je­wei­li­gen Welt­bild be­rich­tet wer­den soll. Durch die Fil­ter­bla­sen im In­ter­net wird die­ser An­spruch ver­stärkt. Den Spa­gat ei­ner mög­lichst wei­ten Neu­tra­li­tät lei­sten die Me­di­en im­mer we­ni­ger, nicht zu­letzt weil sie Mei­nun­gen als Tat­sa­chen dar­stel­len bzw. un­ent­wirr­bar mit­ein­an­der ver­knüp­fen.

    Man kann die Schmä­hung »Lü­gen­pres­se« ab­leh­nen – viel­leicht muss man es so­gar (weil es Vor­satz be­inhal­tet). Aber das Me­di­en auf die un­ter­schied­lich­ste Art und Wei­se ma­ni­pu­lie­ren – da­mit muss man sich aus­ein­an­der­set­zen. So in­ter­pre­tie­re ich Grei­ner.

  8. Das se­he ich schon al­les, trotz­dem wür­de ich die­sen Be­griff nicht ver­wen­den, au­ßer um ihn zu kri­ti­sie­ren. Ha­be ge­goo­gelt und zu mei­nem Er­stau­nen so­gar ei­nen Ein­trag »Lü­gen­pres­se« bei Wi­ki­pe­dia ge­fun­den (was da in­zwi­schen nicht al­les steht!). Mei­ne be­son­de­re Auf­merk­sam­keit hat das Wort ei­gent­lich nur des­halb, weil ich es im­mer wie­der in rechts­ra­di­ka­len Dis­kur­sen fin­de und es da ei­nen üb­len Bei­geschmack hat. Es ist ein Kampf­be­griff, der vom Den­ken ab­hal­ten soll. Ich er­lau­be mir, den Wi­ki­pe­dia-Ar­ti­kel zu zi­tie­ren: »Seit An­fang der 2000er Jah­re ist das Wort „Lü­gen­pres­se“ ins­be­son­de­re in neo­na­zi­sti­schen und rechts­ra­di­ka­len Grup­pen gän­gig.« Lang­sam brei­tet sich die­ser Sprach­ge­brauch aus, über die Gren­zen die­ser Grup­pen hin­aus. Und das fin­de ich sehr sehr be­denk­lich.

  9. Auch zur »Lü­gen­pres­se« kann ich was sa­gen. Zu­nächst aber »Kom­pli­ment« an Fe­der­mair, der als ei­ner der letz­ten das so­kra­ti­sche Prin­zip rich­tig aus­deu­tet, und ech­te Fra­gen statt rhe­to­ri­sche Fragen/Fallen an die Schü­ler rich­tet. Das zählt un­mit­tel­bar für die Be­ant­wor­tung mei­ner Fra­ge »Kunst und Phi­lo­so­phie raus aus...«. Wenn das »päd­ago­gi­sche Prin­zip« (sie­he Greiner/Paternalismus/Laizismus) das so­kra­ti­sche Prin­zip (der ge­mein­sa­men ge­dank­li­chen Be­we­gung) er­setzt, al­so voll­stän­dig er­setzt, dann kön­nen wir den La­den zu ma­chen.
    Zur Lü­gen­pres­se, ganz pla­ka­tiv: die Jour­na­li­sten ha­ben ja ei­ne love-af­fair mit der Macht, und sind kei­ne Wis­sen­schaft­ler mit täg­li­chen Er­kennt­nis-Out­put. Ih­re Ver­strickung mit der Macht in­des fällt kaum auf, wenn man sich selbst bren­nend für die Sa­che in­ter­es­siert. Bür­ger­lich­keit wä­re das »durch­schnitt­li­che Maß an Auf­merk­sam­keit und In­ter­es­se an der Macht«, wel­ches der Me­di­en-Pro­fi na­tür­lich über­steigt. Der Knacks mit den Rech­ten ist vor­pro­gram­miert, wenn die Po­li­tik so deut­lich wie sel­ten von rech­ten The­men und Vor­stel­lun­gen ab­weicht.
    War­um »Lü­gen«?! Nun, ganz ein­fach: das Ein­ver­ständ­nis mit den Vor­stel­lun­gen und Zie­len wird wei­ter­hin als ob­jek­tiv, re­flek­tiert und all­ge­mein­gül­tig dar­ge­stellt. Un­längst so­gar in ei­ner ans Ge­schmack­lo­se gren­zen­den Wer­be­kam­pa­gne des ZDF.
    Und spä­te­stens die­ses Selbst­bild kann man ge­trost als »Lü­ge« be­zeich­nen. Al­ler­dings ei­ner Lü­ge, die auf Ver­ir­rung und Ar­ro­ganz be­ruht. Ei­ner Lü­ge, die der Lüg­ner so­gar selbst glaubt.

  10. @Sophie

    Mir ist das zu pau­schal for­mu­liert, auch das Wort an sich, »Lü­gen­pres­se«, ist so pau­scha­lie­ri­sie­rungs­eif­rig. Daß Jour­na­li­sten mit der Macht lieb­äu­geln – ja, lei­der, vie­le. Daß sie »Er­eig­nis­se« her­bei­re­den, manch­mal ge­ra­de­zu her­bei­be­ten, not­falls so­gar er­fin­den – ja. Trotz­dem kann und soll ein Jour­na­list die Mäch­ti­gen bei der Macht­aus­übung be­ob­ach­ten, kon­trol­lie­ren, kri­ti­sie­ren. Kann und soll das, was ge­schieht, in Fra­ge stel­len. Ein paar Schrei­ber gibt es im­mer noch, die das tun. Und viel­leicht kom­men ja wie­der ein­mal Zei­ten, in de­nen man sich vor­stel­len kann, daß Jour­na­lis­mus die­se be­glei­ten­de Funk­ti­on aus­übt und nicht bloß die In­fo­tain­ment und Be­frie­di­gung per­sön­li­cher Ei­tel­keit treibt.

  11. Na­ja, die Pau­scha­li­tät ist der Af­front, ganz klar. Grob und po­le­misch. Ei­ne kri­ti­sche Hal­tung sieht an­ders aus. An­de­rer­seits tei­le ich (und das sagt ja auch dei­ne »Hoff­nung auf bes­se­re Zei­ten«) mit vie­len Leu­ten die Di­stanz zu ei­nem mei­nungs­zen­trier­ten Jour­na­lis­mus, der min­de­stens schon die letz­ten 10 Jah­re be­stimmt.
    Wie soll man sich da po­si­tio­nie­ren: Kri­tik ja, Pau­scha­li­tät nein?! Es hat doch die edel­mü­ti­ge Kri­tik noch nicht wirk­lich ih­re »welt­ge­schicht­li­che Wirk­sam­keit« be­wie­sen. Kri­tik ver­än­dert we­nig bis gar nichts.
    Wenn al­so wie­der bes­se­re Zei­ten kä­men, dann hät­ten wir ein­fach nur Glück. Her­bei­füh­ren lässt sich das schwer­lich. Die ge­sell­schaft­li­che und öko­no­mi­sche Ver­fasst­heit des Jour­na­lis­mus muss man ja im­grun­de ak­zep­tie­ren. Man muss es so neh­men, wie es kommt. Der Jour­na­lis­mus prägt un­ser Ver­hält­nis zum Po­li­ti­schen, und er be­stimmt auch den Ge­halt an Ra­tio­na­li­tät, der sich in die­sem Ver­hält­nis ma­ni­fe­stiert. So je­den­falls ha­be ich mir das zu­recht ge­legt.
    Wenn der Jour­na­lis­mus auf »Mei­nung« setzt, ist da­mit auch un­ser al­ler po­li­ti­sche Exi­stenz vor­ge­formt, vor­de­fi­niert. Es gibt da kei­nen sub­al­ter­nen Frei­heits­grad, in dem Sin­ne: Ja, die hau­en auf den Putz, aber der Bür­ger wird die Über­trei­bun­gen und Ein­sei­tig­kei­ten schon fil­tern. Wir hän­gen da schon ir­gend­wie mit drinn...

  12. Die Er­zie­hung jun­ger Men­schen, das war oben das The­ma, kann nicht oh­ne zu­min­dest im­pli­zi­te Zie­le er­fol­gen, der Er­zie­hen­de ist doch we­nig­stens ei­ne Art von Be­glei­ter und man be­glei­tet schwer­lich oh­ne ir­gend­ei­ne Art von Wis­sen (und sei es nur ein Mei­nen), das sich aus dem Al­ters­un­ter­schied, aus Vor­stel­lun­gen, Wer­tun­gen, Er­fah­run­gen, nährt?

    Ziel könn­te man auch den be­nann­ten Grau­be­reich von Ver­ste­hen und Nicht-mehr-ver­ste­hen nen­nen, ge­nau­er: des­sen Über­schrei­tung, was Ent­wick­lung ei­gent­lich erst er­mög­licht (Ent­wick­lung braucht ein Wol­len und das Wol­len kann durch ein Ziel ge­bun­den wer­den). War­um das heu­te wo­mög­lich we­ni­ger prak­ti­ziert und ge­wollt wird, mag zu ei­nem Teil an der Ver­fasst­heit der mo­der­nen Welt lie­gen: Die all­ge­gen­wär­ti­ge Tech­nik (Me­di­en, In­for­ma­tio­nen, Ge­schwin­dig­keit,...) sind Ab­len­kung und Über­for­de­rung zu­gleich; die öko­no­mi­schen Prä­gun­gen kom­men noch da­zu (bzw. sind sie da­mit ver­schmol­zen) und man kann – viel­leicht et­was zu sehr wohl­wol­lend – sa­gen, dass vie­le zu gar nichts an­de­rem mehr »fä­hig« sind.

    Der Be­griff »Lü­gen­pres­se« ist in­ten­tio­nal, man lügt nicht oh­ne Ab­sicht und ist be­grün­det, ober­fläch­lich si­cher­lich, in et­li­chen Vor­komm­nis­sen in der Be­richt­erstat­tung der letz­ten Zeit, die man (ich), schon mit viel Wohl­wol­len als Feh­ler in­ter­pre­tie­ren muss. Na­tür­lich ent­kommt man den Kon­no­ta­tio­nen des Be­griffs nicht, aber man soll­te sie nicht mit dem ei­gent­li­chen Zen­trum ver­wech­seln, das ich als mas­si­ven Ver­trau­ens­ver­lust be­schrei­ben wür­de (ein paar Bei­spie­le ha­be ich dort, Un­ter­punkt »Jour­na­lis­mus« und dort vor ei­ni­ger Zeit be­han­delt).

  13. @mete – Wenn die »Feh­ler« in der Be­richt­erstat­tung nicht ur­säch­lich sind für den »Ver­trau­ens­ver­lust« auf der an­de­ren Sei­te, dann kommt ei­gent­lich nur ei­ne mi­kro-so­zio­lo­gi­sche Er­klä­rung in Be­tracht. Wer in der Bla­se ei­nes Re­dak­ti­ons-Ufos exi­stiert, der denkt und schreibt doch über ganz an­de­re »wich­ti­ge« Din­ge, als sie in ei­ner (schicht­be­zo­gen) ein­fa­che­ren Le­bens­welt vor­kom­men.
    Die­se Ent­frem­dung wird mit Si­cher­heit nicht in­ten­diert, sie ver­weist ei­gent­lich nur auf die ty­pi­sche Di­ver­si­fi­ka­ti­on in den Le­bens­ver­hält­nis­sen ei­ner west­li­chen Ge­sell­schaft. Es wä­re die Ent­frem­dung al­so kein me­dia­ler Ef­fekt, son­dern nur ein so­zio­lo­gi­scher Ef­fekt.
    Das wür­de aber auch be­deu­ten, dass die sog. po­li­ti­sche Klas­se, zu der ich die Jour­na­li­sten rech­ne, der ty­pi­schen Aus­dün­nung der ge­ho­be­nen Mit­tel­schicht zum Op­fer fällt. Fa­ta­li­stisch: »We­ni­ge« wer­den in Zu­kunft sa­gen, was uns al­le aus­macht und be­schäf­tigt...

  14. @die_kalte_Sophie
    Da spielt selbst­re­dend bei­des ei­ne Rol­le; der Be­griff »Lü­gen­pres­se« wird aber kaum al­lei­ne aus so­zia­len Grün­den ver­brei­tet wer­den, da liegt – wie rich­tig fest­ge­stellt – ein Ent­frem­dungs­pro­zess vor, der ei­ne Grund­la­ge (Grund­stim­mung) be­rei­tet, zu der dann auf­fäl­li­ge »Män­gel« in der Be­richt­erstat­tung emo­tio­na­ler und all­ge­mein be­kann­ter The­men (z.B. Ukrai­ne­kon­flikt) hin­zu­kom­men: Es fällt, so­zu­sa­gen, ei­nes ins an­de­re. — Die­se so­zia­len Bla­sen darf man aber ge­ra­de nicht mit den funk­tio­nel­len Aus­dif­fe­ren­zie­run­gen ei­ner mo­der­nen Ge­sell­schaft gleich­set­zen, sie sind das Ge­gen­teil da­von.

  15. Das se­he ich auch. Die »funk­tio­nel­le Aus­dif­fe­ren­zie­rung« steht si­cher­lich auf ei­nem an­de­ren Blatt. Of­fen­bar »funk­tio­niert« hier et­was nicht, d.h. die Mi­lieu-be­ding­te Be­richt­erstat­tung er­zeugt in an­de­ren Mi­kro-Kli­ma­ten mas­siv »Miss­trau­en« auf­grund der Feh­ler und der Se­lek­ti­on, die (im­mer noch psy­cho­lo­gisch in­ter­pre­tiert) nicht to­le­riert wer­den, bzw. gou­tiert wird.
    So ganz all­mäh­lich bröckelt die Ge­sell­schaft wohl aus­ein­an­der. Nur noch die Pla­nier­rau­pen des Gei­stes krie­gen das zu­ge­kippt.

  16. @Sophie
    Ich den­ke ein­fach, daß es »den Jour­na­lis­mus« nicht gibt. Au­ßer­dem, daß es im­mer noch Jour­na­li­sten mit Wahr­heits­an­spruch gibt (oh­ne das jetzt de­fi­nie­ren zu wol­len). Jour­na­li­stisch tä­tig zu sein heißt nicht per se, zu lü­gen. Daß Kri­tik nichts nützt, mag sein (sie­he Tho­mas Ed­lin­ger, von Keu­sch­nig be­spro­chen), aber pau­scha­le Po­le­mik ist nicht nütz­li­cher. Für mich per­sön­lich steht die Uti­li­tät als Kri­te­ri­um üb­ri­gens gar nicht an ober­ster Stel­le. Mag sein, daß Po­le­mik mehr Spaß macht – mir auch manch­mal.

  17. Für mich steht die Uti­li­tät ziem­lich weit oben, aus­ge­hend vom In­for­ma­ti­ons­be­griff. Aber egal: was den Jour­na­lis­mus an­geht, den es im­mer noch gibt, Gott­sei­dank ganz im Sin­ne des funk­tio­na­len Nut­zens, muss ich ganz selbst­kri­tisch sa­gen: ich bin von den »ne­ga­ti­ven Phä­no­men« doch schon sehr fas­zi­niert. Ei­nen Hang zum De­sa­ster, –den muss ich mir nach­sa­gen las­sen. Dass vie­le ei­nen or­dent­li­chen Job ma­chen... ge­schenkt! Ich ha­be neu­lich so­gar ei­nen Leit­ar­ti­kel von Ste­fan Aust ge­le­sen, und hat­te na­tür­lich das Schlimm­ste er­war­tet. Aber mi­ra­bi­le dic­tu war der Ar­ti­kel sehr gut. Ver­dammt gut. Da hab ich ehr­lich ge­staunt.
    Po­li­tisch ist auf der Me­ta-Ebe­ne na­tür­lich die »Ab­wei­chung« vom Soll und der Nor­ma­li­tät in­ter­es­sant, ge­ra­de weil die »Ab­wei­chung« ja enorm mo­ra­lisch auf­ge­la­den wirkt. Ich bin nicht nur fas­zi­niert vom Ne­ga­ti­ven, son­dern auch von ei­ner ge­wis­sen Schei­de-Li­nie, die sich ge­ra­de sehr stark ab­zeich­net. Al­les deu­tet dar­auf hin, dass Po­li­tik und Mo­ral nicht ein­fach Hand in Hand ge­hen, und das ei­ne be­son­ders stark »mo­ra­lisch auf­ge­la­de­ne« Po­li­tik so­gar ei­ne spal­ten­de Wir­kung auf die Ge­sell­schaft hat. Wir ken­nen die Spal­tung ja von den Bö­se­wich­ten, aber wer hät­te aus dem Steg­reif ver­mu­tet, dass auch die »Gut­men­schen« ei­ne Ge­sell­schaft spal­ten kön­nen... (pro­vo­ka­ti­ve The­se, mit Ver­laub!)

  18. @Leopold Fe­der­mair
    Die­sen Dif­fe­ren­zie­run­gen wird hier je­der fol­gen (und kor­rek­ter Wei­se müss­te man den Jour­na­lis­mus zu­min­dest un­ter An­füh­rungs­stri­che set­zen); auf der an­de­ren Sei­te sind die Män­gel we­der ge­ring, noch lo­kal be­schränkt, es han­delt sich um ein Phä­no­men all­ge­mei­ner Na­tur, das man schon ab­strakt und ver­all­ge­mei­nert for­mu­lie­ren kann.

  19. Muss mich outen, ha­be den Be­griff »Lü­gen­pres­se« ver­wen­det. So­fern An­lass vor­lag. So zum Jah­res­wech­sel 2014/15, als ich die Be­rich­te über die Stam­pe­de in Shang­hai ver­folg­te. Der Gip­fel war er­reicht, als SpOn de­fi­ni­tiv als Aus­lö­ser nann­te, dass geld­gie­ri­ge Chi­ne­sen nach ge­fälsch­ten Dol­lar­schei­nen ge­grabscht hät­ten. Das »wo­mög­lich« an­de­rer Me­di­en hat­te man ein­fach weg­ge­las­sen. Zwar muss­ten sie spä­ter ei­ne Kor­rek­tur ver­öf­fent­li­chen, aber der Ar­ti­kel mit der fet­ten, ro­ten, un­ein­ge­schränk­ten Über­schrift steht noch im­mer im Netz. Mein Kom­men­tar, in dem ich SpOn der Ab­sur­di­tät be­zich­tig­te und ihm dump­fen Ras­sis­mus vor­warf, wur­de na­tür­lich nicht ge­sen­det, aber an­de­re drück­ten sich ähn­lich harsch aus im Kom­men­tar­baum.

    Will »Lü­gen­pres­se« nicht ge­ne­ra­li­sie­ren, aber wenn man ein Me­di­um bei ei­ner Lü­ge er­wischt, muss man das auch mal sa­gen dür­fen.

  20. Will da nicht all­zu sehr in­si­stie­ren. Lü­gen soll man als das be­zeich­nen, was sie sind. Das Wort »Lü­gen­pres­se« ge­fällt mir trotz­dem nicht, es trägt deut­li­che Spu­ren sei­nes Ge­brauchs, und die wir­ken auf den Ge­halt.
    Nur eins noch: Wer »Lü­ge« sagt, sagt auch »Wahr­heit«, we­nig­stens im­pli­zit.

  21. Ob die Lü­ge im­mer die Wahr­heit im­pli­ziert?! Das be­rührt ge­nau den Punkt, den ich schon an­ge­spro­chen ha­be: Lü­gen, wi­der bes­se­res Wis­sen (Wahr­heit), oder Lü­gen, oh­ne bes­se­res Wis­sens.
    Sie­he #9: »...ei­ner Lü­ge, die auf Ver­ir­rung und Ar­ro­ganz be­ruht. Ei­ner Lü­ge, die der Lüg­ner so­gar selbst glaubt...«.
    Die mo­ra­li­sche Im­pli­ka­ti­on ist lei­der völ­lig un­ab­hän­gig von der em­pi­ri­schen Im­pli­ka­ti­on. Al­so, selbst wenn man ei­ne Lü­ge ding­fest ma­chen kann, so bleibt doch in der Re­gel un­klar, WARUM ge­lo­gen wur­de.

  22. Ich le­se ge­ra­de die­ses Buch. Es ist ei­ne Auf­satz­samm­lung, die Be­richt­erstat­tun­gen ver­schie­de­ner Kon­flik­te und Krie­ge der letz­ten rund 20 Jah­re be­fragt. Wie so oft ist die Qua­li­tät der Bei­trä­ge un­ter­schied­lich und man­che ha­ben schlicht­weg das Pro­blem, dass sie die Er­läu­te­rung der Miss­stän­de der Be­richt­erstat­tung um die ei­ge­ne Deu­tung so­zu­sa­gen er­gän­zen. Sie wer­den dann sel­ber zur Par­tei.

    Ein Bei­spiel, dass ich wie­der ver­ges­sen hat­te, ist al­ler­dings sehr in­ter­es­sant. Es geht um den kur­zen russisch/georgisches Krieg im Au­gust 2008. nach ein­hel­li­ger Dar­stel­lung in den deut­schen (deutsch­spra­chi­gen) Me­di­en war der Ag­gres­sor da­mals Russ­land – das Op­fer der Ag­gres­si­on war das klei­ne Ge­or­gi­en. Spä­ter stell­te sich die An­ge­le­gen­heit dann als et­was an­ders her­aus. Der Kon­flikt zwi­schen Russ­land und Ge­or­gi­en um die Pro­vin­zen Ab­cha­si­en und Süd­os­se­ti­en hat­te ei­ne lan­ge Vor­lauf­zeit. Ich will hier gar nicht be­ur­tei­len, wer an­ge­fan­gen und wann wel­che Sei­te was zur Es­ka­la­ti­on bei­getra­gen hat­te. Der Wi­ki­pe­dia-Ar­ti­kel hier­zu ist – wie in sol­chen Fäl­len üb­lich – hef­tig dis­ku­tiert. Auch An­dre­as von West­pha­len, der Au­tor des Bei­tra­ges »Die Halb­wert­zeit der Wahr­heit«, hält sich aus der Ur­sa­chen­for­schung, die dem Krieg vom Au­gust 2008 vor­aus­ging, weit­ge­hend her­aus. Ent­schei­dend ist für ihn die Be­richt­erstat­tung ab 7. oder 8. Au­gust 2008, als dort, wie es über­all ge­hei­ßen hat, rus­si­sche Trup­pen Ge­or­gi­en an­ge­grif­fen hat­ten.

    Nicht nur durch »Trol­le« aus­ge­löst, ent­brann­te vor al­lem im Netz ei­ne hef­ti­ge Dis­kus­si­on um die­se The­se. Der da­ma­li­ge ARD-Kor­re­spon­dent in Russ­land, Tho­mas Roth, führ­te knapp drei Wo­chen spä­ter, am 29. Au­gust 2008, ein Ge­spräch mit Wla­di­mir Pu­tin. Aber statt auf­zu­klä­ren, wur­de das Ge­spräch und de­ren Zu­sam­men­schnitt sel­ber zum Dis­kus­si­ons­ob­jekt. Die ARD sen­de­te näm­lich nur 10 Mi­nu­ten von dem ins­ge­samt 27minütigen Ge­spräch. Das al­lei­ne wä­re noch nicht schlimm, wenn nicht es­sen­ti­el­le Din­ge dem Schnitt zum Op­fer ge­fal­len wä­ren, wie wohl rus­si­sche Quel­len fest­stell­ten – und im Netz ver­brei­te­ten. Erst auf Druck wur­de das ge­sam­te Ge­spräch tran­skri­biert ver­öf­fent­licht; je­mand, der nur auf das Fern­se­hen an­ge­wie­sen war, be­kam die­se Ver­si­on mei­nes Wis­sens nicht zu se­hen.

    Wie ma­ni­pu­la­tiv die ARD nun vor­ge­gan­gen war, zeig­te sich gleich zu Be­ginn des In­ter­views. Die er­ste Fra­ge von Roth lau­te­te:

    »Herr Mi­ni­ster­prä­si­dent, nach der Es­ka­la­ti­on in Ge­or­gi­en sieht das Bild in der in­ter­na­tio­na­len Öf­fent­lich­keit – da­mit mei­ne ich Po­li­tik, aber auch Pres­se – so aus: Russ­land ge­gen den Rest der Welt. War­um ha­ben Sie Ihr Land mit Ge­walt in die­se Iso­la­ti­on ge­trie­ben?«

    Ge­sen­det wur­de fol­gen­de Ant­wort Pu­tins:

    »Ich bin da­von über­zeugt, dass das An­se­hen ei­nes be­lie­bi­gen Lan­des, das im­stan­de ist, das Le­ben und die Wür­de sei­ner Bür­ger zu schüt­zen, ei­nes Lan­des, das im­stan­de ist, ei­ne un­ab­hän­gi­ge Au­ßen­po­li­tik zu be­fol­gen, in nä­he­rer oder mit­tel­fri­sti­ger Zu­kunft, in der Welt nur wach­sen wird.«

    Wie sich nun spä­ter in der so­ge­nann­ten »Lang­fas­sung« (al­lei­ne die­ses Wort ist falsch, denn es ist höch­stens die Ori­gi­nal-Fas­sung) zeig­te, lau­te­te der Dia­log an­ders; Ent­schei­den­des wur­de ein­fach weg­ge­las­sen (und hier rot mar­kiert):

    »Tho­mas Roth: Herr Mi­ni­ster­prä­si­dent, nach der Es­ka­la­ti­on in Ge­or­gi­en sieht das Bild in der in­ter­na­tio­na­len Öf­fent­lich­keit – da­mit mei­ne ich Po­li­tik, aber auch Pres­se – so aus: Russ­land ge­gen den Rest der Welt. War­um ha­ben Sie Ihr Land mit Ge­walt in die­se Iso­la­ti­on ge­trie­ben?

    Wla­di­mir Pu­tin: Was mei­nen Sie: Wer hat den Krieg be­gon­nen?

    Roth: Die letz­te aus­lö­sen­de At­tacke war der ge­or­gi­sche An­griff auf Zc­hin­wa­li, die letz­te aus­lö­sen­de At­tacke.

    Pu­tin: Ich dan­ke Ih­nen für die­se Ant­wort. Das stimmt, so war es in der Tat. Wir wer­den spä­ter nä­her dar­auf ein­ge­hen, ich will nur her­vor­he­ben, dass nicht wir ei­ne sol­che Si­tua­ti­on aus­ge­löst ha­ben. Und jetzt zum An­se­hen Russ­lands.

    Ich bin da­von über­zeugt, dass das An­se­hen ei­nes be­lie­bi­gen Lan­des, das im­stan­de ist, das Le­ben und die Wür­de sei­ner Bür­ger zu schüt­zen, ei­nes Lan­des, das im­stan­de ist, ei­ne un­ab­hän­gi­ge Au­ßen­po­li­tik zu be­fol­gen, in nä­he­rer oder mit­tel­fri­sti­ger Zu­kunft, in der Welt nur wach­sen wird. ...«

    West­pha­len zi­tiert Roth, der auf die Fra­ge, war­um es Kür­zun­gen gab und nach wel­chen Kri­te­ri­en die­se ge­tä­tigt wur­den wie folgt: »Nach den üb­li­chen Kri­te­ri­en, nach­dem man sagt: Was ist an die­sem Abend das jour­na­li­stisch In­ter­es­san­te? Was ist das jour­na­li­stisch Neue, was die Zu­schau­er in­ter­es­sie­ren könn­te, und was ver­zerrt ins­ge­samt nicht den In­halt des In­ter­views?« (Zi­tat nach An­dre­as von West­pha­len: »Die Halb­wert­zeit der Wahr­heit – Über die Dar­stel­lung des Kau­ka­sus-Krie­ges in den Me­di­en« in: Ro­nald Tho­den (Hg) »ARD & Co. – Wie Me­di­en ma­ni­pu­lie­ren«, Band 1, Selb­rund Ver­lag 2015, S. 54–66, hier: S. 61f.)

    Po­le­misch aus­ge­drückt könn­te man sa­gen, dass die Stel­le, in der Pu­tin Roth so­zu­sa­gen zwingt, den Ag­gres­sor für den Über­griff An­fang Au­gust zu be­nen­nen, für den ARD-Zu­schau­er tat­säch­lich ei­ne Neu­ig­keit ge­we­sen wä­re. War­um die­se dann her­aus­ge­schnit­ten wird, kann mit nichts an­de­rem er­klärt wer­den als mit Vor­satz.

    Das ist nur ein win­zi­ges Stein­chen, was die Zu­ver­läs­sig­keit und das Ver­trau­en in Me­di­en in den letz­ten Jah­ren er­schüt­tert hat. Die üb­li­chen Er­klä­run­gen (zu we­nig Zeit, kei­ne Kor­re­spon­den­ten vor Ort, an­ge­wie­sen auf un­zu­ver­läs­si­ge Drit­te und Zeu­gen) grei­fen hier al­le nicht.

    Man muss nicht ein Freund Pu­tins sein oder sei­ne Kau­ka­si­en-Po­li­tik gut fin­den, um dies an­zu­pran­gern. Wo­mög­lich kann es ja für die Ge­or­gi­er sinn­voll ge­we­sen sein, rus­si­sche Trup­pen, die sich wo­mög­lich wi­der­recht­lich in den Pro­vin­zen auf­ge­hal­ten ha­ben, an­zu­grei­fen. Viel­leicht wur­den sie auch pro­vo­ziert? Al­les war / ist mög­lich. Aber es wä­re Auf­ga­be von Me­di­en, dies her­aus­zu­ar­bei­ten und die mög­li­che Kom­ple­xi­tät des Kon­flik­tes aus­zu­brei­ten. Statt­des­sen wird mit Scha­blo­nen vom bö­sen Pu­tin und gu­ten Saa­ka­schwi­li ge­ar­bei­tet und noch dar­an fest­ge­hal­ten, ob­wohl es längst ernst­zu­neh­men­de an­ders­lau­ten­de Stim­men gab.

    Und ja, man muss das Wort von der »Lü­gen­pres­se« nicht ver­wen­den. Viel­leicht soll­te man es aus sei­nem Wort­schatz strei­chen. Zu­mal die blo­sse Ver­wen­dung schon ei­ne Ver­or­tung in rechts­ra­di­ka­le Krei­se er­mög­licht. In­so­fern ist Grei­ners Dik­tum si­cher­lich falsch, weil man sich da­mit jeg­li­che Kri­tik vom Hal­se schafft.

    (Und noch et­was: Die Kri­ti­ker der El­che soll­ten min­de­stens ge­nau so prä­zi­se ar­bei­ten, wie sie an­de­ren dies na­he­le­gen. Im vor­lie­gen­den Text von An­dre­as von West­pha­len be­fin­det sich eben auch ei­ne Un­ge­nau­ig­keit, in­dem in der Fra­ge Roths an Pu­tin das Wort »Iso­la­ti­on« durch das Wort »Si­tua­ti­on« er­setzt wur­de. Auch das ist nicht ak­zep­ta­bel.)

  23. @Sophie
    Me­tep­si­lo­me­na meint, Lü­gen sei­en de­fi­ni­ti­ons­ge­mäß in­ten­tio­nal. Ich wür­de M. da recht ge­ben und die Lü­ge ge­gen Selbst­täu­schung, Irr­tum, ideo­lo­gi­sche Ver­blen­dung, Schein usw. ab­gren­zen. Die In­ten­ti­on kann man doch in vie­len Fäl­len er­ken­nen, oder? Ob man Lü­gen mo­ra­lisch to­le­rie­ren will oder nicht – nun ja, ei­ne an­de­re Fra­ge. Da kä­men wir schnell zu Nietz­sche, der sich auch ei­nen sehr wei­ten Lü­gen­be­griff zu­recht­ge­legt hat­te. Viel­leicht ist der Ih­re ja von Niet­sche in­spi­riert?

  24. @ Gre­gor. Vie­len herz­li­chen Dank für die­ses il­lu­stre Bei­spiel. Nur ei­ne Fra­ge: hat ir­gend­je­mand dar­über Be­schwer­de beim Rund­funk­rat ein­ge­reicht? Wä­re doch scha­de, wen sich die Leu­te so viel Ar­beit ma­chen, nur um Din­ge rich­tig zu stel­len. ...Was na­tür­lich die Vor­aus­set­zung für ei­ne In­ter­ven­ti­on beim Rund­funk ist.

    @ Leo­pold. Mein Lü­gen­be­griff ist klar von Nietz­sche in­spi­riert. Ich ge­he da­von aus, dass die Lü­ge, wenn sie von Macht und In­ter­es­sen in­spi­riert ist, ein Ei­gen­le­ben be­ginnt. Da­zu der Satz: der Mensch be­herrscht das Lü­gen nicht (im be­ruf­li­chen oder öf­fent­li­chen Be­reich), die Lü­ge be­herrscht den Men­schen.

  25. @Keuschnig
    Das Bei­spiel (Pu­tin-In­ter­view) ist in­struk­tiv. Ein kla­rer Fall von Ma­ni­pu­la­ti­on – Lü­ge wür­de ich eher nicht sa­gen.
    Auch das Fest­hal­ten an po­si­tiv de­fi­nier­ba­ren Auf­ga­ben des Jour­na­lis­mus au­ßer­halb der Zo­nen po­li­ti­scher Macht möch­te ich un­ter­schrei­ben: Nach­fra­gen, was ei­gent­lich ge­sche­hen ist; den Grün­den nach­ge­hen; Hin­ter­grün­de zei­gen. Daß sich statt des­sen scha­blo­nen­haf­tes Den­ken und Schrei­ben breit ge­macht hat, hat sei­ner­seits ei­ne kom­ple­xe Mehr­zahl von Grün­den.

  26. zu #24. War ge­ra­de ab­ge­lenkt Hab mich mehr­fach gräss­lich ver­tippt. Bit­te um Ent­schul­di­gung.
    »Nur um die Din­ge rich­tig zu stel­len«

  27. @Sophie
    Ich schät­ze Nietz­sche als Dich­ter, als iro­ni­schen Ver­tre­ter je­ner phan­ta­sti­schen Li­te­ra­tur, die die Spar­ten Theo­lo­gie, Phi­lo­so­phie und An­ti­theo­lo­gie um­faßt. Will man sich aber in­ner­halb ei­nes ge­sell­schaft­li­chen Rah­mens dis­kur­siv be­we­gen, al­so Stel­lung neh­men, ist ein Lü­gen­be­griff als con­di­tio hu­ma­na (letz­ten En­des: JEDE Äu­ße­rung ist not­wen­di­ger­wei­se lü­gen­haft) in­ope­ra­bel. So ein Be­griff ist nutz­los – a pro­pos Uti­li­tät. Laut N. gibt es, und zwar im­mer und über­all, ei­ne ge­sell­schaft­li­che »Ver­pflich­tung, nach ei­ner fe­sten Con­ven­ti­on zu lü­gen, schaa­ren­wei­se in ei­nem für al­le ver­bind­li­chen Sti­le zu lü­gen.« Wer nicht lügt oder bes­ser, sich dar­auf ver­steift, nicht zu lü­gen, ist un­ter sol­chen Vor­aus­set­zun­gen schlicht und ein­fach ver­rückt.
    Man könn­te frei­lich an die Stel­le des Worts »Lü­ge« auch »Wahr­heit« set­zen. Das ist die christ­li­che Ver­si­on. Nietz­sche An­ti­christ, Um­keh­rer der al­ten Wer­te.

  28. @die_kalte_Sophie
    Über ei­ne Be­schwer­de beim Rund­funk­rat ist mir nichts be­kannt. Ein paar Jah­re spä­ter wur­de Roth An­chor­man bei den »ta­ges­the­men«, was all­ge­mein als »Rit­ter­schlag« bei der ARD gilt. Man könn­te fast glau­ben, er sei be­lohnt wor­den.

    (Den Feh­ler ha­be ich kor­ri­giert.)

  29. @ Leo­pold – Völ­lig ein­ver­stan­den. Ein Lü­gen­vor­wurf ist ein Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ab­bruch. En­de Ge­län­de! Aber da liegt eben der Un­ter­schied zwi­schen Text/Dichtung/Philosophie und dem po­li­ti­schen Dis­kurs. In Deutsch­land hat sich die Vor­stel­lung ge­bil­det, dass ein phi­lo­so­phi­scher Text »un­mit­tel­bar« Teil des po­li­ti­schen Dis­kur­ses ist (falls the­ma­tisch re­le­vant). Ei­ni­ge nam­haf­te Aus­nah­men ent­zie­hen sich die­sem Axi­om. Ich bin (oh­ne Pro­mi­nenz) eben­falls die­ser An­sicht. Phi­lo­so­phie und Öf­fent­li­cher Dis­kurs fal­len nicht in eins, um @mete zu pa­ra­phra­sie­ren.
    Ich stricke, wie Sie mer­ken, an bei­den Tex­ten, und ge­be auch kei­ne ex­pli­zi­ten Hin­wei­se, wenn ich die Ebe­nen wechs­le, um an mei­nen Lieb­lings­the­men zu ar­bei­ten. Das geht auch nicht wirk­lich, wenn ich ehr­lich bin. Dis­kurs und Text ge­hen be­stän­dig in­ein­an­der über, und mir scheint, ich wür­de im­mer mit je­man­dem re­den, selbst dann wenn ich ganz al­lei­ne bin. Wenn Sie so wol­len, ver­letz­te ich da­mit auch die Ein­tei­lung in ei­ne »öf­fent­li­che« und »pri­va­te« Per­son, und ver­wi­sche da­mit die Spu­ren ei­nes Ich. Der Un­ter­schied er­scheint mir aber, was das Po­li­ti­sche be­trifft (Mei­nung = pri­vat = in­di­vi­du­ell) nicht wich­tig. Um nicht zu sa­gen, ob­so­let.

  30. Ganz for­mal: das Co­gi­to hat kei­ne po­li­ti­sche Di­men­si­on. Nie ge­habt. Was wir po­li­ti­sches Den­ken nen­nen, wur­zelt in kol­lek­ti­ven Be­zü­gen, so­zio-kul­tu­rel­len Kon­struk­ten und ak­tu­el­len »Pro­ble­men«.

  31. @Leopold Fe­der­mair
    Viel­leicht soll­te man zwi­schen der phi­lo­so­phi­schen Be­trach­tung von Lü­ge und Wahr­heit und der all­tags­taug­li­chen tren­nen. Es dürf­ten be­grün­de­te Zwei­fel dar­in be­stehen, dass die »Lügenpresse«-Rufer Nietz­sche et. al. in all sei­nen Fa­cet­tie­run­gen ge­le­sen, ge­schwei­ge denn ver­stan­den ha­ben.

    Im Deut­schen Bun­des­tag galt (gilt?) es im­mer noch als un­schick­lich, je­man­den der Lü­ge zu be­zich­ti­gen; man soll statt­des­sen »Un­wahr­heit« sa­gen, weil bei der Lü­ge Ab­sicht un­ter­stellt wird. Der Aus­spruch »Sie sa­gen die Un­wahr­heit« kann dann auch noch da­hin­ge­hend in­ter­pre­tiert wer­den, dass der­je­ni­ge es nicht bes­ser weiss.

    Im von mir ge­brach­ten Bei­spiel des Pu­tin-In­ter­views muss ich Ab­sicht un­ter­stel­len. Es kann nicht sein, dass die Tat­sa­che, dass der er­ste pro­vo­ka­ti­ve Akt vom 7. oder 8. Au­gust von ge­or­gi­schen und nicht rus­si­schen Mi­li­tärs be­gan­gen wur­de, qua­si zu­fäl­lig dem Schnitt zum Op­fer ge­fal­len ist. Als ein­zi­ger Grund hier­für fällt mir ein, dass die gän­gi­ge Les­art (die Rus­sen als Ag­gres­sor) nicht er­schüt­tert wer­den soll­te. Hier­für hal­te ich die Be­zeich­nung »Ma­ni­pu­la­ti­on« für zu harm­los.

    Den Schluss, dass es Wahr­heit und Lü­ge gar nicht ge­be, mag in­tel­lek­tu­ell fein be­grün­det wer­den kön­nen (von Kant an­ge­fan­gen), schei­tert aber al­lei­ne schon vor un­se­rem Rechts­sy­stem. Man neh­me es mir nicht übel, aber ein biss­chen kommt mir die­ser Re­la­ti­vis­mus ähn­lich re­si­gna­tiv vor wie Aus­sa­gen, dass es bei­spiels­wei­se egal ist, wen man wäh­le – al­le Po­li­ti­ker sei­en gleich un­fä­hig? kor­rupt? dumm? ...(bit­te selb­stän­dig er­gän­zen)...

    Apro­pos Pau­scha­li­sie­run­gen: Na­tür­lich kann man den Vor­wurf »Lü­gen­pres­se« als pau­scha­le Ver­un­glimp­fung ab­leh­nen und auf die wun­der­ba­ren Ein­zel­fäl­le re­kur­rie­ren. Aber es ist er­staun­lich, dass aus­ge­rech­net in die­sem Fall Pau­scha­li­sie­run­gen von de­nen (vul­go: Me­di­en) ab­ge­lehnt wer­den, die all­zu oft in fahr­läs­si­ger Wei­se kom­ple­xe Vor­gän­ge her­un­ter­bre­chen auf Per­so­nen, Pa­ro­len und The­sen.

    Bes­ser als sol­che pau­scha­len An­wür­fe wä­re es in der Tat, die je­wei­li­gen Bei­spie­le zu sam­meln und – das wä­re wich­tig – oh­ne ei­ge­ne Kom­men­tie­rung ins Netz zu stel­len. So et­was gibt es m. E. im deutsch­spra­chi­gen Raum nicht. Na­he­zu al­le Me­di­en­kri­ti­ker, die ich ken­ne, lie­fern im­mer auch ih­re ei­ge­ne Sicht der Din­ge gleich mit. Man deckt zwar ei­ner­seits Miss­stän­de in der Be­richt­erstat­tung auf, um dann je­doch an­de­rer­seits die »rich­ti­ge« Po­si­ti­on dar­zu­stel­len. Da­mit trei­ben sie den Teu­fel mit dem Beel­ze­bub aus.

    Ein me­di­en­kri­ti­sches Ma­ga­zin soll­te auch die Kom­men­ta­re und Dar­stel­lun­gen von Jour­na­li­sten über die Zeit weg be­ob­ach­ten. Ähn­lich wie man bei Sport­lern, Po­li­ti­kern oder son­sti­gen »Pro­mis« so­zu­sa­gen ei­ne jah­re­lan­ge Rund­um-Ob­ser­vie­rung be­treibt (nicht sel­ten wer­den bspw. Po­li­ti­ker mit ih­ren Aus­sa­gen von vor 20 oder 30 Jah­ren kon­fron­tiert), soll­te man auch für Jour­na­li­sten sol­che Ar­chi­ve an­le­gen. Das macht aber nie­mand, weil man nicht mehr als üb­lich Nest­be­schmut­zer sein möch­te.

    Ein wei­te­rer Punkt ist da­hin­ge­hend, dass vie­le Re­zi­pi­en­ten nur noch ih­re ei­ge­ne Mei­nung ge­spie­gelt ha­ben wol­len. Un­ter­bleibt dies, wit­tern sie Bö­ses. Das Pro­blem hier­bei ist, dass sie dann ge­nü­gend Ein­zel­fäl­le aus der Schub­la­de zie­hen kön­nen.

  32. @ Leo­pold –Ge­be das Kom­pli­ment zu­rück. Ihr Ar­ti­kel über den Chan­dos-Brief hat mir ge­zeigt, dass ein phi­lo­so­phi­scher Text im­mer in der Bre­douil­le steckt, da man ei­ne »Aus­nah­me« gel­tend ma­chen muss. Wir ha­ben ei­gent­lich nur zwei Ka­te­go­rien im Kopf, den »fik­ti­ven Text« und den »po­si­ti­vi­sti­schen Text«. Zu letz­te­rem zählt bei­spiels­wei­se Gre­gors Bei­trag #22.
    Nach ei­ni­gem Hin und Her wur­de mir klar: der phi­lo­so­phi­sche Text passt nicht ins Sche­ma, stellt al­so ein Aus­nah­me oder Zu­mu­tung dar. Aus Ord­nungs­grün­den wä­re es bes­ser, die drit­te Sor­te gäb’s gar nicht. Rein äs­the­tisch lässt sich die Sa­che nicht recht­fer­ti­gen. Ist si­cher auch Nietz­sche be­wusst ge­we­sen. Wem, wenn nicht ihm...

  33. @#32
    Im Fall des Pu­tin-In­ter­views wür­de ich trotz­dem von Ma­ni­pu­la­ti­on spre­chen, nicht von Lü­ge, denn es wur­de ei­gent­lich kei­ne Falsch­aus­sa­ge ge­tä­tigt. Auch Ma­ni­pu­la­ti­on ist de­fi­ni­ti­ons­ge­mäß ab­sicht­lich, und – wenn man mo­ra­li­sie­ren will – eben­so ver­werf­lich.
    Wer mit den »Re­zi­pi­en­ten« ge­meint ist, ver­ste­he ich nicht, wür­de es gern ver­ste­hen.

  34. @#33
    Der Ver­nünf­ti­ge und der In­tui­ti­ve. Ethi­ker vs. Äs­the­ti­ker. Kier­ke­gaard, al­ter He­ge­lia­ner, mein­te, es ge­be den Drit­ten.

  35. @Leopold Fe­der­mair
    Re­zi­pi­en­ten sind Le­ser, Hö­rer, Schau­er – Me­di­en­nut­zer. Das In­ter­net er­mög­licht ih­nen ei­nen se­lek­ti­ven Nach­rich­ten­zu­gang. In ei­ner Print-Zei­tung las man auch schon ein­mal den Ar­ti­kel, des­sen Mei­nung ei­nem schon vor­her nicht zu be­ha­gen schien. Im Netz kann man das – wenn man es denn möch­te – aus­schlie­ßen. Au­ßer­dem po­la­ri­siert das Netz sehr. Es gibt im­mer mehr nur noch schwarz und weiss. Das Pro­blem ist, dass die Main­stream-Me­di­en dar­auf ein­ge­hen und ih­re Be­richt­erstat­tung in ähn­li­cher Form ge­stal­ten. Hier­für gibt es zahl­rei­che Bei­spie­le (nicht zu­letzt die so­ge­nann­ten »In­ter­ven­tio­nen«, in de­nen der »We­sten« na­tür­lich stets für sei­ne »Wer­te« ge­kämpft hat). Die­se ge­ball­te Form der Ein­sei­tig­keit macht vie­le Leu­te skep­tisch, die viel­leicht nicht un­be­dingt im­mer Ver­schwö­rungs­theo­re­ti­ker sein wol­len. Statt nun kon­struk­tiv auf die­se Kri­tik zu agie­ren, wird ge­leug­net oder ver­harm­lost. Das treibt vie­le dann in qua­si-eso­te­ri­sche Zir­kel hin­ein.

    Pu­tin-In­ter­view: Na­tür­lich wird aus dem Weg­las­sen ei­nes es­sen­ti­el­len Be­stand­teils ei­ner Ant­wort am En­de ei­ne Falsch­aus­sa­ge. Es ist nicht nur ei­ne Ma­ni­pu­la­ti­on, son­dern ei­ne Fäl­schung.

  36. zu #32. Nach Ab­ge­ord­ne­ten-Watch noch Pres­se-Watch?! Klar wä­re das gut, aber lau­fen wir nicht den Sy­stem­schwä­chen nur noch hilf­los hin­ter­her?!
    Und dann auch noch das Res­sour­cen-Pro­blem.
    Aber es stimmt. Ei­ne Platt­form, die von di­rek­ten Ver­wer­tung der Er­mitt­lungs­er­geb­nis­se für die je­weils ei­ge­ne po­li­ti­sche Den­ke ab­sieht, wä­re toll. Da­mit wür­de man di­rekt et­was ge­gen das Kern­pro­blem des »Ver­trau­ens­ver­lu­stes« tun, das @mete aus­ge­macht hat. ...Auf­he­bung des Scheins, der Täu­schung, und zu­gleich wür­de die ex­plo­ra­ti­ve Kraft der Ra­tio­na­li­tät ma­ni­fest...

  37. zu #35: Kier­ke­gaard hat recht. Es gibt den Drit­ten. Hast Du ei­ne Text­emp­feh­lung da­zu?! Bin bei K. nicht so be­wan­dert.

  38. Leicht »off-to­pic« noch ein Bei­spiel zum The­ma »Lü­ge«. Es han­delt sich um den »Fall« ei­nes Bei­trags des da­ma­li­gen Ukrai­ne/­Russ­land-Kor­re­spon­den­ten der ARD, Udo Lie­lisch­kies, vom 20. Mai 2014. Kurz ge­sagt: Er mel­de­te da­mals in ei­ner Sen­dung der »ta­ges­the­men«, dass an ei­nem Ort 2 Zi­vi­li­sten von Se­pa­ra­ti­sten er­schos­sen wor­den sei­en. Spä­ter stell­te sich her­aus, dass dies falsch war. Es war ex­akt das Ge­gen­teil: Die bei­den Per­so­nen wur­den von ukrai­ni­schen Trup­pen um­ge­bracht.

    Der Be­richt er­reg­te grö­sse­res Auf­se­hen. Es gab ei­ni­ge Mo­na­te spä­ter ei­ne so­ge­nann­te Pro­gramm­be­schwer­de, die in ei­nem Fo­rum im Netz do­ku­men­tiert wur­de. In re­la­tiv kur­zer Zeit gab es von Lie­lisch­kies im »ta­ges­schau-Blog« am 1. Ok­to­ber 2014 hier­zu ei­ne Stel­lung­nah­me. Die­ser Text ist im of­fi­zi­el­len Ar­chiv des »tagesschau«-Blog nicht mehr ab­ruf­bar, son­dern nur noch über ei­nen In­ter­net­ar­chiv-Link. Lie­lisch­kies räumt in die­ser Stel­lung­nah­me ein, sich ge­irrt und wi­der­spricht gleich­zei­tig, vor­sätz­lich falsch in­for­miert zu ha­ben. Letz­te­res muss er si­cher­lich tun, wo­bei ich kei­ner­lei In­di­zi­en da­für ha­be, dass er die Un­wahr­heit spricht bzw. lügt.

    Zwei Punk­te sind in die­sem Zu­sam­men­hang in­ter­es­sant: Die Rich­tig­stel­lung er­folgt nicht in dem Me­di­um und an dem Ort, an dem die »Falsch­mel­dung« ge­sen­det wur­de, son­dern in ei­nem Blog, der auf der ta­ges­schau-Web­sei­te erst un­ter »Mehr« er­reich­bar ist. Ob die Kor­rek­tur spä­ter doch noch im TV er­folg­te, weiss ich al­ler­dings nicht. (Merk­wür­dig auch, dass die­ser Text ent­fernt wur­de; die nor­ma­ler­wei­se zeit­li­che Be­gren­zung für Bei­trä­ge dürf­te m. E. bei Blog-Bei­trä­gen nicht zäh­len).

    Der an­de­re Punkt ist, dass die Pro­gramm­be­schwer­de in wah­rem »Re­kord­tem­po« ab­ge­ar­bei­tet wur­de. Ver­mut­lich gab es schon vor­her Zwei­fel an der Dar­stel­lung vom Mai; nor­ma­ler­wei­se dau­ert die Be­ar­bei­tung ei­ner Pro­gramm­be­schwer­de (die von je­dem Ge­büh­ren­zah­ler form­los ein­ge­bracht wer­den kann) bis zu sechs Mo­na­te.

    Ob­wohl Lie­lisch­kies in sei­nem Text die Grün­de für die Fehl­ein­schät­zung nennt, wird er seit­dem von ent­spre­chen­den Schrei­bern im Netz als »Lü­gen­re­por­ter« be­zeich­net. Ich hal­te die­ses Ru­brum für voll­kom­men über­zo­gen. Ent­schei­dend müss­te es nun sein, sei­ne Re­por­ta­gen da­hin­ge­hend zu prü­fen, ob sie in­for­ma­ti­ons­fest sind. Ei­ne blo­sse Pu­bli­ka­ti­on in der Mög­lich­keits­form (im Kon­junk­tiv) hiel­te ich nicht für aus­rei­chend, da die­ser oft ge­nug »über­hört« wird.

    Ich hal­te Lie­lisch­kies’ Fehl­lei­stung bei al­ler Fahr­läs­sig­keit für we­ni­ger schlimm als die mut­wil­li­ge Fäl­schung am Pu­tin-In­ter­view.

  39. Der Fall »Lie­lisch­kies« ist (weil for­mal durch die Pro­gramm­be­schwer­de ab­ge­ar­bei­tet) ist ein sehr gu­tes Bei­spiel. Er zeigt die Pro­ble­ma­tik der er­wor­be­nen Fehl­in­for­ma­ti­on auf­grund von Pro­pa­gan­da-Fal­len auf, und das Pro­ze­de­re der Kor­rek­tur. Erst ge­schieht nichts, dann geht es schnell, und dann wan­dert die Sa­che in den elek­tro­ni­schen Pa­pier­korb.
    Die Re­ak­tio­nen auf die Kor­rek­tur sind üb­ri­gens deut­lich zwei­ge­teilt. Die ei­nen sind dank­bar, und se­hen in der Kor­rek­tur ein Zei­chen für Pro­fes­sio­na­li­tät. Die an­de­ren wei­sen auf die Fol­gen hin, mah­nen zur Ver­ant­wor­tung, oder ha­ben noch Be­schwer­den, die all­ge­mei­ne »Ten­den­zen« be­tref­fen.
    Der Feh­ler scheint die Ten­denz in­di­rekt zu be­stä­ti­gen. Aber auch rea­li­stisch ge­se­hen, wird ei­ne Kri­tik, die sich nur an der Sa­che ori­en­tiert, die Ten­denz (die ja in der Ukrai­ne-Be­richt­erstat­tung zum er­sten Mal ei­nem »brei­ten Pu­bli­kum« auf­ge­fal­len ist) auch in kein­ster Wei­se kor­ri­gie­ren. All­zu­mensch­li­ches macht sich breit. Man darf oh­ne Wer­tung ver­mu­ten, dass die sog. Welt­an­schau­ung, die sich im ge­sam­ten Kom­plex der Be­richt­erstat­tung zu ei­nem spe­zi­fi­schen The­ma er­öff­net, ei­ner di­rek­ten Kri­tik nicht zu­gäng­lich ist. Die Macht der Fak­ten (Stich­wort: Auf­klä­rung) wird kaum Wir­kung auf die »Mu­ster in den Köp­fen« ha­ben. Das wie­der­um könn­te nur ei­ne Aus­wechs­lung der Per­so­nen ge­währ­lei­sten.
    Wenn der Mensch ein­mal von sich und sei­nem Tun über­zeugt ist...

  40. Von ei­nem un­be­kann­ten Iro­ni­ker aus Öster­reich, ge­nau­er aus dem Fo­rum im Wie­ner Stan­dard ha­be ich da­zu ei­nen wun­der­ba­ren Spruch auf­ge­le­sen. Er sag­te bei ei­nem ver­gleich­ba­ren Vor­fall:
    »Das sind eh’ nur Fak­ten!«

  41. [Lü­ge fällt ei­gent­lich auch in die Ka­te­go­rie Ma­ni­pu­la­ti­on (Täu­schung).]

    Man muss sich auch vor Au­gen hal­ten, dass zu den oben bei­spiel­haft ge­nann­ten Vor­fäl­len noch hin­zu kommt, dass zahl­rei­che und über­aus pro­mi­nen­te Jour­na­li­sten Mit­glie­der der so­ge­nann­ten At­lan­tik­brücke sind, et­wa Jof­fe, Kle­ber, Diek­mann, usw., und de­ren Kom­men­ta­re und Be­rich­te oft­mals ei­ne ge­wis­se Schlag­sei­te auf­wie­sen; nun muss man nur mehr zu­sam­men zäh­len: Fak­ti­sche »Feh­ler«, Mit­glied­schaf­ten in trans­at­lan­ti­schen Or­ga­ni­sa­tio­nen, ge­färb­te und mo­ra­li­sie­ren­de Be­richt­erstat­tung, feh­len­de Recht­fer­ti­gung bzw. Ver­tei­di­gung oder Er­klä­rung war­um Jour­na­li­sten in sol­chen Or­ga­ni­sa­tio­nen sit­zen (was per se noch nicht ver­werf­lich ist); dann ver­steht man, war­um plötz­lich »Lü­gen­pres­se« ge­schrien wird und Ver­schwö­rungs­theo­rien kur­sie­ren. — Auch wenn dar­über ein paar Dif­fe­ren­zen ver­lo­ren ge­hen, das Bild, das bleibt, sieht nicht gut aus.

  42. @#35
    Es ist al­les in »Ent­we­der-Oder«. Ei­gent­lich ei­ne ver­gnüg­li­che Lek­tü­re, wenn­gleich mit Län­gen. Die Ver­mitt­lung zwi­schen äs­the­ti­scher und ethi­scher Exi­sten­z­wei­se er­scheint mir als ei­ne Art päd­ago­gi­scher Trick, weil die Ober­auf­sicht doch im­mer die (re­li­gi­ös grun­dier­te) Ethik hat. Nietz­sche hat, zu­min­dest in sei­nen Fik­tio­nen, das Ri­si­ko ge­sucht, nicht, wie Kier­ke­gaard, Si­cher­heit. Das Dionysische/Apollinische ist ein ähn­li­cher Ge­gen­satz, aber nicht gleich. Au­ßer­dem scheint mir, daß Nietz­sche selbst in sei­nen frü­hen Schrif­ten schwankt zwi­schen der Ent­schei­dungs­for­de­rung (Ent­we­der dio­ny­sisch Oder apol­li­nisch) und mög­li­chen Ver­mitt­lun­gen zwi­schen bei­dem.

    »Sind eh nur Fak­ten »: das ist qu­al­tin­ge­risch.

  43. @ Leo­pold –Dan­ke. Das wer­de ich mir ge­nau­er an­se­hen. Mir ist klar, das K. ei­ne re­li­giö­se Schlag­sei­te hat, wäh­rend Nietz­sche in die Ge­gen­rich­tung neigt. Lee und Luv. Aber in­zwi­schen den­ke ich bes­ser über die Re­li­gi­on als zu mei­nen Nietz­schea­ni­schen An­fangs­zei­ten, na­tür­lich oh­ne »Glau­be«.

    @ me­te –Das stimmt. Die West­an­bin­dung des Jour­na­lis­mus ist ja nie preis­ge­ben wor­den. Nur der »Osten« muss­te ab­schwö­ren. Es ist fast schon lu­stig, denn ganz na­iv wür­de man sa­gen, an die­ser West­bin­dung war doch nie was falsch... Von we­gen« Es gab Feind­bil­der, und das be­deu­tet im­mer ei­ne »ge­teil­te Welt«, bzw. den gu­ten al­ten Ma­nich­äis­mus, der sich ganz pro­bat hin­ter kon­zes­si­ven For­meln ver­stecken kann. »Na­tür­lich hat sich in Russ­land ei­ni­ges ver­än­dert..., aber!«. »Na­tür­lich ist es für die Pa­lä­sti­nen­ser schwer, aber...!«. Ich per­sön­lich bin mit die­sen Ab­stu­fun­gen auf­ge­wach­sen, und Sie schie­nen mir auch lan­ge un­ver­däch­tig. Erst nach 2001, als G.W.Bush wie­der mal die Welt in das ein­ge­teilt hat, was eh’ schon galt, al­so ge­wis­ser­ma­ßen die Kar­ten auf den Tisch ka­men, wur­de mir klar, dass der We­sten an sei­nen trans­at­lan­ti­schen Scha­blo­nen fest­hal­ten wür­de.

  44. In der Tat, die Li­ste der At­lan­tik­brücke-Jour­na­li­sten ist be­un­ru­hi­gend. Al­te Ver­zah­nun­gen (Macht, Po­li­tik, Ge­schäft) und neue Luft­bla­sen (oder Echo­räu­me), ein un­gu­ter Mix.

  45. @metepsilonema
    Ich fin­de es nicht schlimm, wenn Jour­na­li­sten Ver­ei­ni­gun­gen an­ge­hö­ren, so­lan­ge dies trans­pa­rent wird. In Deutsch­land wird al­ler­dings nach wie vor ein Ge­heim­nis aus den Par­tei­zu­ge­hö­rig­kei­ten von Jour­na­li­sten ge­macht. Es wi­der­strebt der Au­ra des neu­tra­len und un­ab­hän­gi­gen Be­richt­erstat­ters, ei­ner Par­tei an­zu­ge­hö­ren. Da­bei ist dies zu­meist un­ab­ding­lich, um bspw. im Pro­porz­we­sen der öf­fent­lich-recht­li­chen Me­di­en zu re­üs­sie­ren.

    Im deut­schen Fern­se­hen wird bei je­dem Po­li­ti­ker – so be­kannt er auch sein mag, al­so auch bei An­ge­la Mer­kel – stets die Par­tei­zu­ge­hö­rig­keit mit ein­ge­blen­det. Ich wä­re da­für, dies für Jour­na­li­sten und an­de­re Me­di­en­ma­cher ähn­lich zu hal­ten. Da­bei soll­ten auch Mit­glied­schaf­ten zu Ver­ei­ni­gun­gen wie der »At­lan­tik­brücke« stets prä­sent mit­ge­teilt wer­den.

    @die_kalte_Sophie
    Der Ma­nich­äis­mus war nie ein­sei­tig. Auch die Kri­ti­ker der »West­bin­dung« agi(tie)rten nach dem Freund-Feind-Sche­ma. Dar­in be­stand im­mer das Pro­blem: Sich nicht mit der Kri­tik sel­ber zu­frie­den ge­ben zu wol­len und die­se wir­ken zu las­sen, son­dern gleich­zei­tig auch im­mer an­de­re Ent­wür­fe pa­rat zu ha­ben. Wer Kri­tik bspw. an den au­ßen­po­li­ti­schen In­ter­ven­tio­nen der USA üb­te, ver­knüpf­te dies meist mit welt­an­schau­li­cher Kri­tik am »Sy­stem«. Da­durch wur­de die be­rech­ti­ge Kri­tik meist je­doch ent­wer­tet: Die emp­fun­de­nen Vor­tei­le des po­li­ti­schen Sy­stems des »We­stens« wur­den als grö­ßer er­ach­tet als die Ma­kel ein­zel­ner po­li­ti­scher Feh­ler. Dies spie­gel­te sich na­tür­lich auch in den Me­di­en. Ins Wan­ken kam dies tat­säch­lich 2001 durch Bushs ex­pli­zit wie­der neu auf­ge­leg­tes Freund-Feind-Sy­stem, das man spä­te­stens seit En­de der 1970er Jah­re auf­ge­bro­chen und dann 1990 als über­wun­den an­sah.

  46. zu #48 –Stimmt. Und das ist wirk­lich wich­tig: ein dop­pel­ter Dua­lis­mus bringt noch kei­ne neu­tra­le voll­kom­me­ne »Syn­the­se« auf den Tisch, son­dern lädt ei­gent­lich nur da­zu ein, das dis­kur­si­ve Spiel der Ma­nich­äis­men fort­zu­set­zen. Bis zum Sankt Nim­mer­leins Tag kön­nen wir uns das jetzt an­hö­ren, das Spiel der Uto­pia-Pros und der Neo-Cons...
    Da­bei woll­ten wir nur »ei­ne Welt«, die auch das Po­li­ti­sche um­fasst. Aber im­mer noch scheint das Po­li­ti­sche die Tei­lung vor­aus­zu­set­zen. Ich kam neu­lich da­zu, den Be­griff »Welt­po­li­tik« als Oxy­mo­ron auf­zu­fas­sen. Welt-Po­li­tik. Ich se­he je­den­falls nicht, wie das ge­hen kann, au­ßer na­tür­lich am Kü­chen­tisch, bzw. im Strand­lie­ge­stuhl.
    Es gibt kei­ne Welt­po­li­tik. Es gibt nur Be­trach­tun­gen über die La­ge.

  47. @Gregor
    Ja, das wä­re kon­se­quent (manch­mal schei­tert es aber schon ein paar Ebe­nen dar­un­ter).

    @die_kalte_Sophie
    Hm, aber ist Welt­po­li­tik, nein, muss sie nicht ei­ne Art Sum­me sein, die sich aus Ein­zel­staat­li­chen­in­ter­es­sen, ‑hand­lun­gen, usw., zu­sam­men­setzt? Es gibt ja auf die­ser Ebe­ne kein Re­gie­run­gen mehr, ma­xi­mal Bünd­nis­se, Zu­sam­men­schlüs­se, su­pra­na­tio­na­le Ge­bil­de mit ge­rin­gen Durchd­riffs­mög­lich­kei­ten, aber mehr? Viel­mehr als Be­trach­tun­gen und Ver­su­che ge­mein­sam zu han­deln (meist auf Grund ge­mein­sa­mer In­ter­es­sen), gibt es nicht.

  48. zu #50. Ja, das stimmt. Auf die­ser »Ebe­ne« gibt es kei­ne Re­gie­run­gen mehr. Dar­auf kommt es ins­be­son­de­re an, denn da­mit ent­fällt ge­nau das, was der Phi­lo­soph so ein­deu­tig und un­miss­ver­ständ­lich »Pra­xis« nennt. Ge­nau das stört mich, die­ses ele­gan­te Es­ka­mo­tie­ren der Pra­xis. Welt­po­li­tik zum Mit­spin­nen. Und ich ver­knüp­fe da­mit ei­ne Ge­ne­ral­ab­rech­nung mit dem Uni­ver­sa­lis­mus, der uns ei­ne »Welt­po­li­tik« oh­ne Pra­xis ver­kau­fen woll­te, mit sei­nen süf­fi­san­ten Im­pli­ka­tio­nen. Glo­bal den­ken, lo­kal han­deln, usf.
    Mit die­sen Axio­men ge­winnt man zwar so et­was Ähn­li­ches wie die Roh­form ei­ner po­li­ti­schen Exi­stenz im We­sten durch die Dis­po­si­ti­on ei­nes »Mas­sen­sub­jekts«, aber man ver­liert auch et­was, –und das ist eben ge­nau je­ner ho­li­sti­sche Aspekt des Be­griffs »Welt«. Die »ei­ne Welt« wird preis­ge­ge­ben für ei­ne über­aus un­ge­wis­se und so­gar vi­ru­lent ma­nich­äi­sche Glo­bal-Po­li­tik. Um Nietz­sche nach­zu­ah­men: ...das ganz gro­ße Rad dre­hen, mit im­mer den­sel­ben fie­sen klei­nen Hin­ter­ge­dan­ken...
    Ich wür­de bei die­ser Kri­tik sehr weit ge­hen, ge­nau weil so vie­le fal­sche Feind­bil­der im Schwan­ge sind. So­zi­al­psy­cho­lo­gisch ge­se­hen, le­ben wir doch eher im 12. als im 21. Jahr­hun­dert.