Ver­beu­gung

Merk­wür­dig, wie manch­mal Wer­bung doch wirkt. Frei­lich meist an­ders, als es be­ab­sich­tigt ist. Neu­lich fuhr ich an ei­nem rie­si­gen Pla­kat vor­bei, wel­ches ge­mäß CDU mich an­lei­ten soll, die­se Par­tei zu wäh­len.

Wohl­stand ist nicht selbst­ver­ständ­lich steht dar­auf. Aber den Satz ha­be ich gar nicht mit­be­kom­men. Ich nahm nur den Men­schen im Blau­mann wahr, der vor ei­ner Ma­schi­ne stand. Es ist ei­ne De­muts­ge­ste. Zwar kniet der Mann nicht, aber der Kopf ist ge­beugt. Da­bei ist die Kopf­hal­tung tie­fer als sie sein müss­te – so kommt es mir vor. Der Mensch ver­neigt sich vor der Ma­schi­ne.

(Es ist schwie­rig, die­ses Pla­kat hier zu po­sten. Ich ma­che es nicht, son­dern ver­lin­ke hier­mit nur auf ei­nen Blog, der es ab­fo­to­gra­fiert hat. Die Nut­zungs­be­din­gun­gen der CDU sind mir zu ver­wor­ren.)

Man kennt die Bil­der aus Fil­men, die ei­ne ver­gan­ge­ne Zeit zei­gen, wenn sich das Per­so­nal vor der Herr­schaft ver­beugt. Da­mit soll Ehr­furcht aus­ge­drückt wer­den. Re­spekt. Es zeigt ein (so­zia­les) Ge­fäl­le. Hier der Herr (oder die Da­me) – dort das Per­so­nal.

Was hat die CDU-Wer­ber ver­an­lasst ei­nen sich vor ei­ner Ma­schi­ne ver­beu­gen­den Ar­bei­ter zu zei­gen? Was hat das mit »Wohl­stand« zu tun? Ist das »In­du­strie 4.0«? Oder nur ein Irr­tum?

Ich fra­ge ja nur.

15 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Hal­lo!

    Die­ses Pla­kat ist mir auch sehr auf­ge­sto­ßen.
    Wenn man wei­ter in­ter­pre­tie­ren möch­te (und das tut man hof­fent­lich un­be­wußt in die­sem Fall), dann kann man nur dies dar­aus le­sen:

    Selbst­ver­ständ­lich ist Wohl­stand nicht selbst­ver­ständ­lich (je­den­falls für dich nicht!)
    Du musst dich vor der Ma­schi­ne ver­beu­gen und knech­ten, der Wohl­stand ist nicht für dich, den ha­ben an­de­re!

    Was ei­ne Wer­te­wen­de seit Lud­wig Er­hard!

    Das ist so schlimm daß man ent­we­der die lin­ke Wut be­kommt oder sich fremd­schämt. Ich vo­tie­re für Er­ste­res

  2. Der Un­ter­ti­tel ist nicht min­der merk­wür­dig: Auf die Re­fe­ren­zie­rung auf Deutsch­lands Zu­kunft folgt dann »Un­ser Eu­ro­pa...« Wes­sen? Deutsch­lands? Der CDU? Der EVP? Je­de Ant­wort­mög­lich­keit ist un­ge­niert und das dop­pelt, weil dort nicht EU son­dern Eu­ro­pa steht.

  3. @Wir

    Und wenn hier ein­fach nur, auf von Wer­be­frit­zen und Po­lit­stra­te­gen un­be­ab­sich­tig­te, d. h. nai­ve Wei­se un­ser al­ler Wirk­lich­keit zum Aus­druck kä­me? Wir ver­nei­gen uns in ei­nem fort vor Ma­schi­nen, da wir von ih­nen ab­hän­gig sind. Auch im Mo­ment, in dem ich die­se Sät­ze schrei­be, ver­nei­ge ich mich. – Setz dich auf­recht hin! – Schon sinkt der Kopf wie­der...

  4. Es könn­te noch weit schlim­mer sein, dass wir den Ma­schi­nen da­durch, dass wir dau­ernd von ih­nen um­ge­ben sind und sie be­nut­zen, im­mer ähn­li­cher wer­den. Viel­leicht sind die Funk­tio­na­li­täts­er­war­tun­gen des­we­gen al­ler­or­ten so groß.

  5. Wir sind nicht nur Skla­ven der Ma­schi­nen, wir ge­ste­hen ih­nen so­gar In­tel­li­genz zu und ge­ben ih­nen im­mer mehr Macht über uns, »er­rech­ne­te«, al­go­ryth­mi­sche Macht..

    Der Alp­t­aum kommt im­mer nä­her.

    Und noch ei­ne Stil­blü­te am Ran­de:
    wäh­rend KI durch­gän­gig mit »Künst­li­che In­tel­li­genz« über­setzt wird, kann man es hier im Nord­osten der Re­pu­blik nur mit »Kein In­ter­net« über­set­zen ;=)

  6. Ich weh­re mich ge­gen die The­se, dass Men­schen prak­tisch au­to­ma­tisch Skla­ven von Ma­schi­nen sind. Wenn dies so sein soll­te, dann nur, weil wir (man müss­te de­fi­nie­ren, wer die­ses wir« ist) dies auch zu­las­sen.

    »Al­go­rith­men«, al­so be­stimm­te Aus­wahl­ver­fah­ren, wen­det je­der an. Ich wun­de­re mich im­mer wenn auf die Nach­rich­ten­al­go­rith­men von Such­ma­schi­nen ge­schimpft wird, wäh­rend die Aus­wahl durch ei­ne Zei­tungs- oder Rund­funk­re­dak­ti­on nicht be­fragt wird. Auch hier gibt es Kri­te­ri­en für ei­ne Ge­wich­tung ei­ner Nach­richt, die dem Re­zi­pi­en­ten un­be­kannt sind und blei­ben. In der di­gi­ta­li­sier­ten Welt die­nen Al­go­rith­men da­zu, die im­mensen Da­ten­men­gen zu ord­nen.

    War­um stört es, dass Ama­zon auf Ba­sis der ge­such­ten Bü­cher Emp­feh­lun­gen ab­gibt, wäh­rend der Buch­händ­ler, der un­se­re Vor­lie­ben kennt (und auch ab­ge­spei­chert hat – und sei es in sei­nem Ge­hirn), den voll­sten Re­spekt ge­niesst? Nie­mand ist ge­zwun­gen, sich auf Al­go­rith­men von Such­ma­schi­nen ein­zu­las­sen. Es gibt bspw. Al­ter­na­ti­ven zu Goog­le (die, mei­nen Er­fah­run­gen nach, fast im­mer schlech­ter sind, weil sie eben nicht ein brei­tes Spek­trum an­bie­ten). Und man kann auch bei Goog­le blät­tern, d. h. sich nicht von den er­sten Ein­trä­gen »blen­den« las­sen.

    Das Pro­blem fängt an, wenn Ma­schi­nen nicht den Men­schen die­nen, son­dern um­ge­kehrt. Im­mer wie­der be­geg­ne­te mir bei mei­nen Pro­ble­men mit dem Wa­ren­wirt­schafts­sy­stem mei­nes Ar­beit­ge­bers die Aus­sa­ge »Das Sy­stem macht...« oder »Sie müs­sen et­was so und so tun, weil das Sy­stem...« Hier ent­schei­det am En­de »das Sy­stem« vul­go: das Pro­gramm über die Mög­lich­kei­ten der Ver­wen­dung. Ich, der Mensch, muss sich ihm an­pas­sen.

  7. Goe­thes »Zau­ber­lehr­ling« scheint mir die bes­se­re Ana­lo­gie zu sein, Skla­ve­rei ist ja ein au­gen­fäl­li­ger Zu­stand und wür­de die in­ten­tio­na­le Aus­beu­tung des Men­schen durch die Ma­schi­nen vor­aus­set­zen.

  8. Ein Pro­fes­sor von mir hat­te schon vor über 30 Jah­ren die Ge­ne­ra­ti­on der Knöpf­chen-Drücker vor­her­ge­sagt. Er mein­te da­mit die hilf­lo­se Ge­ste des Be­die­ners ei­ner kom­ple­xen Ma­schi­ne, der die­se nicht ver­steht und da­her ge­zwun­gen ist zu re­si­gnie­ren oder et­was hin­ein zu ge­heim­nis­sen, was manch­mal fast re­li­giö­se Zü­ge an­nimmt. Zu­min­dest wird ein Hau­fen Blech per­so­na­li­siert.

    Ich ha­be jed­we­der Tech­nik ge­gen­über kei­ne an­de­re Hal­tung, als ge­gen­über ei­nes Ham­mers. Was ich nicht ver­ste­he, ver­ste­he ich noch nicht. Mehr aber auch nicht.

    Durch die neu­ro­na­len Net­ze ist jetzt aber ei­ne neue Spiel­art von Tech­nik auf­ge­kom­men. Das ma­schi­nel­le Ler­nen er­zeugt Sy­ste­me, von de­nen auch ein Tech­ni­ker nicht mehr sa­gen kann, war­um sie so oder so ent­schei­den. Bis­her gibt es noch kei­ne Me­tho­den um qua­li­täts­si­chern­de Aus­sa­gen über ein Sy­stem die­ser Art zu ma­chen, was Her­stel­ler vor nicht ge­rin­ge recht­li­che Pro­ble­me stellt, weil sie kei­ne Ga­ran­tien über Min­dest­stan­dards ge­ben kön­nen. Ver­mut­lich gilt aber auch hier das »noch«.

    Das mit den Al­go­rith­men wür­de ich auch et­was tie­fer hän­gen. Frü­her hat der Bank­mit­ar­bei­ter vor der Kre­dit­ver­ga­be ge­schaut, wie Sie ge­klei­det sind, wel­che Spra­che Sie spre­chen etc. Heu­te schaut der »Al­go­rith­mus« nach, ob Kre­di­te in Ih­rer Wohn­ge­gend häu­fi­ger ge­platzt sind. Auch nicht schlech­ter.

    @Gregor Keu­sch­nig
    Sie müs­sen sich ver­mut­lich nicht Ih­rem »Sy­stem« un­ter­wer­fen. Es wur­de ein Kom­pro­miss zwi­schen »Das Sy­stem wird zu kom­plex« und »Passt in Scha­blo­ne A« ge­macht. Es gibt ei­ne Art Na­tur­ge­setz, dass man für die letz­ten 20% De­tail 80% der Ar­beit auf­wen­den muss (Pa­re­to­prin­zip).

  9. @Joseph Bran­co
    Häu­fig war die Aus­sa­ge, dass das »Sy­stem« et­was nur in ei­ner be­stimm­ten Ver­fah­rens­wei­se kön­ne nur die Aus­re­de da­für, nicht ent­spre­chen­de Soft­ware-Tools ge­kauft zu ha­ben. Das hat­te fi­nan­zi­el­le Grün­de. Lie­ber »un­ter­warf« man sich kom­pli­zier­ter Ein­ga­be­tech­ni­ken, die man na­tür­lich recht schnell in­ter­na­li­siert hat­te. Mei­ne letz­te Sta­ti­on war ein Un­ter­neh­men, dass ein WWS jah­re­lang wei­ter­be­trieb bis dann der Sup­port ein­ge­stellt und dann prak­tisch ein kom­plett neu­es Pro­gramm im­ple­men­tiert wer­den muss­te. Von nun an ging al­les an­ders und man zap­pel­te wie­der im Netz des »Sy­stems«.

  10. Ich glau­be schon, dass die heu­te ver­wen­de­ten Al­go­rith­men ei­ne neue Di­men­si­on in der Da­ten­ana­ly­se be­deu­ten, die es frü­her nicht gab (na­tür­lich ist das nicht den Al­go­rith­men vor­zu­hal­ten). Man kann schnell auf Grund ir­gend­wel­cher Da­ten in ei­ner Ka­te­go­rie lan­den, in die man nicht ge­hört (oh­ne, dass man ge­se­hen oder von ei­nem Ge­gen­über ein­ge­schätzt wur­de). Ganz ab­ge­se­hen von der Da­ten­sam­mel­pro­ble­ma­tik an sich.

    Ein Knöpf­chen­drücker zu sein, dem ist fast nicht zu ent­kom­men, da die Ma­schi­nen, die wir täg­lich – und sei es nur be­ruf­lich – be­nö­ti­gen, zu kom­plex sind, dass wir sie al­le­samt ver­ste­hen könn­ten.

  11. @Gregor Keu­sch­nig
    Die an­de­re Sicht: Ich hat­te mal ei­ne Zeit lang aus Ter­min­grün­den bei ei­nem WWS-Pro­jekt beim Pro­gram­mie­ren mit ge­hol­fen. Der Kun­den­kon­takt war pha­sen­wei­se gru­se­lig. Der Wunsch, was al­les noch im­ple­men­tiert wer­den soll­te, stieg von Wo­che zu Wo­che. Ver­ständ­lich, aber man muss sich in ei­nem Gleich­ge­wichts­punkt tref­fen.

    @metepsilonema
    Die Al­go­rith­men, sprich die Ma­schi­ne, sind eher nicht das Pro­blem. Das Pro­blem sind die Da­ten, al­so der Werk­stoff. Der Mensch be­dient sich im Nor­mal­fall im­mer noch der deut­lich bes­se­ren Al­go­rith­men, er­kennt deut­lich kom­ple­xe­re Zu­sam­men­hän­ge als Ma­schi­nen. Die Art und Wei­se wie Da­ten heu­te ge­schürft wer­den, ist voll­kom­men ge­setz­wid­rig und nur der Staats­rä­son ge­schul­det. Vor nicht all zu lan­ger Zeit war das noch un­denk­bar. Das ist wohl die­ser Rechts­staat von dem im­mer al­le re­den, zu­min­dest wenn es um Pfand­bons geht.

  12. Über­le­gun­gen zum Wahl­pla­kat im Lich­te des „Ta­ges der Ar­beit“

    Die ver­sam­mel­ten Ge­dan­ken ha­ben mich da­zu ani­miert, mir ei­ne ei­ge­ne Vor­stel­lung zum Pla­kat zu ent­wickeln. Was al­so se­he ich?

    Im lin­ken Drit­tel do­mi­niert ei­ne tech­ni­sche Kon­struk­ti­on, wel­che mir als För­der­turm ei­ner Schacht­an­la­ge ver­traut ist. Ihr scheint ein kraft­lo­ser Ro­bo­ter­arm zu ent­wach­sen, was sich mir we­gen der per­spek­ti­vi­schen Ge­ge­ben­hei­ten der Bild­kom­po­si­ti­on und der Kran­un­ter­stüt­zung am „Hand­ge­lenk“ des Ro­bo­ter­arms na­he­legt. Am „El­len­bo­gen­ge­lenk“ des Ro­bo­ter­arms er­ken­ne ich ei­ne selt­sam ge­krümm­te Ge­stalt, de­ren Arm- und Hand­hal­tung auf den er­sten flüch­ti­gen Blick un­na­tür­lich er­scheint. Kann ich ei­nen da­zu pas­sen­den Be­we­gungs­ab­lauf spon­tan ima­gi­nie­ren? Ei­ne De­muts­ge­bär­de viel­leicht?

    Ich tre­te an das Pla­kat her­an und er­ken­ne, dass die Per­son in der rech­ten Hand et­was hält, das an ein Schreib­ge­rät er­in­nert. Mit der lin­ken Hand scheint sie ei­nen recht­ecki­gen Ge­gen­stand zu hal­ten, auf den der Blick der Per­son ge­rich­tet ist. Nun be­we­ge ich mich fünf Schrit­te zu­rück und be­mer­ke, dass der Ro­bo­ter­arm ge­öff­net ist; die Ver­ka­be­lung ist sicht­bar. Au­ßer­dem neh­me ich das rot/weiße Ab­sperr­band wahr und die Tat­sa­che, dass kei­ne Ar­beits­feld­ein­rich­tung vor­han­den ist. Ist das ein Mon­ta­ge­platz? Teil ei­ner Lackier­stra­ße viel­leicht? Was soll der Ro­bo­ter­arm be­zwecken?

    Mir wird be­wusst, dass die Per­son ei­nen Tech­ni­ker dar­stellt, der im Zu­ge der In­stal­la­ti­ons­ar­bei­ten Mes­sun­gen an der Ma­schi­ne vor­nimmt. Wenn ich mit die­sem Ah!-Moment wei­ter zu­rück­tre­te und das Pla­kat in sei­ner Ge­samt­heit in den Blick neh­me, drän­gen ei­ni­ge Fra­gen her­an.

    Im lin­ken, schwarz/weiß ge­hal­te­nen Drit­tel des Pla­kats ver­bin­det sich der Be­griff Wohl­stand mit dem För­der­turm zu ei­ner Vor­stel­lung der Zeit des deut­schen „Wirt­schafts­wun­ders“. Als Nicht-Deut­scher fal­len mir da­zu Na­men wie Lud­wig Er­hard und Karl Schil­ler, die „Hü­ter der Markt­wirt­schaft“, ein (auch ei­ne CDU-Kam­pa­gne aus je­ner Zeit). Wie de­fi­nier­te sich Wohl­stand da­mals, in mei­nen Kind­heits­jah­ren, im Ge­gen­satz zur Ge­gen­wart? Lässt sich dar­aus ei­ne Ent­wick­lung des Wohl­stands­be­griffs in die Zu­kunft ex­tra­po­lie­ren?

    Das rest­li­che Pla­kat wird durch den auf­fäl­lig ge­setz­ten Schrift­zug „CDU“ in des­sen un­te­rer rech­ten Ecke be­la­stet (man ver­zei­he mir die un­wi­der­steh­li­che Ge­le­gen­heit zur klei­nen Po­le­mik). Fü­gen sich die Be­grif­fe Tech­no­lo­gie, Fort­schritt, Zu­kunft und Wohl­stand gut mit den Na­men Alt­mai­er, Schäub­le oder gar Mer­kel? Ge­ra­de Mer­kel stand und steht doch für die deut­sche Vor­stel­lung von ei­ner idea­len Eu­ro­päi­schen Uni­on? Sie fehlt (... nein, ist ernst ge­meint). Das Pla­kat wirbt schließ­lich im Wahl­kampf um das Eu­ro­päi­sche Par­la­ment, wie auch durch das ins obe­re rech­te Eck ge­dräng­te, klein und un­schein­bar ge­hal­te­ne Sym­bol für die EVP ver­schämt de­kla­riert (...man ver­zei­he mir ein letz­tes Mal).

    Mei­ne In­ter­pre­ta­ti­on des Pla­kats führt mich über den – hier knüp­fe ich an G.K. an – blut­leer ge­führ­ten Wahl­kampf sämt­li­cher »Kar­tell­par­tei­en« zu ei­nem dem Pla­kat­su­jet im­ma­nen­ten Wi­der­spruch. In dem Berg­bau­be­trieb sieht je­der vor sei­nem gei­sti­gen Au­ge hun­der­te, wenn nicht tau­sen­de Men­schen ar­bei­ten, und zwar ein Ar­beits­le­ben lang. In der In­du­strie­hal­le wird ein ein­zi­ger Mensch dar­ge­stellt, der noch da­zu nur für die Zeit der In­stal­la­ti­on und In­be­trieb­nah­me in die­ser In­du­strie­hal­le be­schäf­tigt sein wird. Und dann? Wird die In­du­strie­hal­le durch Heer­scha­ren von Ar­bei­tern be­lebt wer­den?

    Ma­chen wir im Ge­dan­ken­ex­pe­ri­ment aus den Berg­leu­ten ei­nes ein­zi­gen Un­ter­ta­ge­baus In­du­strie­me­cha­ni­ker, Mess­tech­ni­ker oder „weiß-der-Teufel“-Techniker. Wie vie­le In­du­strie­hal­len kön­nen die­se Men­schen im Lau­fe ih­rer Le­bens­ar­beits­zeit bei gu­ter Be­zah­lung aus­rü­sten und in Be­trieb neh­men? Wel­che Mas­se an Gü­tern wer­den die­se In­du­strie­hal­len im Lau­fe der Le­bens­zeit je­ner Men­schen pro­du­zie­ren? Wer wird die­se Gü­ter kau­fen? Wie vie­le Un­ter­ta­ge­baue könn­ten auf die­se Wei­se „um­be­schäf­tigt“ wer­den?

    Wir wis­sen in­zwi­schen sta­ti­stisch ge­si­chert, dass die Zahl der „gu­ten“ [i.e. gut be­zahl­ten] Jobs ab­nimmt, wäh­rend sich der Nied­rig­lohn­sek­tor mit sy­ste­misch be­dingt künf­tig stei­gen­der Al­ters­ar­mut aus­brei­tet. Ein klas­si­sches The­ma für die So­zi­al­de­mo­kra­tie, möch­te man mei­nen – die zu »Hartz IV« füh­ren­den Um­stän­de mal au­ßen vor ge­las­sen. Die SPD in­des teilt via Wahl­pla­kat mit: „Frie­den“. „Mit­ein­an­der“. „Zu­sam­men­halt“. „Kli­ma­schutz“.

    Da ich oben Karl Schil­ler er­wähnt hat­te: Der un­ter­schrieb sei­ner­zeit ein Ma­ni­fest ge­gen die feh­ler­haf­te Ein­füh­rung ei­ner eu­ro­päi­schen Ge­mein­schafts­wäh­rung („Die EG-Wäh­rungs­uni­on führt zur Zer­reiß­pro­be“, 1992). Heu­te wird das in der EU do­mi­nan­te Wirt­schafts­re­gime von der „Eu­ro-Grup­pe“ be­stimmt, die we­der de­mo­kra­tisch le­gi­ti­miert ist, noch [par­la­men­ta­risch] kon­trol­liert wird. Wel­che wirt­schaft­li­chen und so­zia­le Ver­hee­run­gen die­se klei­ne, un­schein­ba­re, je­doch über­aus mäch­ti­ge Men­schen­grup­pe in Eu­ro­pa be­reits ver­ur­sacht hat, ist mitt­ler­wei­le Le­gen­de. Dar­über, näm­lich über ein künf­tig an­zu­wen­den­des und so­zi­al ge­rech­te­res Wirt­schafts­re­gime, möch­te im Wahl­kampf of­fen­kun­dig nie­mand re­den. Auch „Die Lin­ke“ nicht.

    Man­che win­ken ge­nervt ab bei der Fra­ge nach ei­ner eu­ro­pa­weit an­wend­ba­ren „Wirt­schafts­ver­fas­sung“. Je­nen sei Brecht in Er­in­ne­rung ge­ru­fen:

    Ihr, die ihr eu­ren Wanst und uns­re Brav­heit liebt,
    Das ei­ne wis­set ein für al­le­mal,
    Wie ihr es im­mer dreht, und wie ihr’s im­mer schiebt,
    Erst kommt das Fres­sen, dann kommt die Mo­ral.

    Den je­der Hoff­nung Be­raub­ten bleibt die Mah­nung:

    Mann der Ar­beit, auf­ge­wacht!
    Und er­ken­ne dei­ne Macht!
    Al­le Rä­der ste­hen still,
    Wenn dein star­ker Arm es will.

    Wir an­de­re den­ken [mu­tig] nach.

  13. Pas­send zum 1. Mai, die­ser Kom­men­tar, lie­ber h. z. Dan­ke da­für,

    Karl Schil­ler trat 1972 aus der SPD aus und en­ga­gier­te sich im Bun­des­tags­wahl­kampf 1972 für die CDU (acht Jah­re spä­ter trat er der SPD wie­der bei – um Hel­mut Schmidt zu stüt­zen). Die­ser wur­de aber mit der Ent­span­nungs­po­li­tik von Brandt/Scheel ge­führt und nicht mit wirt­schafts­po­li­ti­schen The­men. Im Ta­rif­kon­flikt 1974 – nach der ge­won­ne­nen Wahl – setz­te die Ge­werk­schaft für den Öf­fent­li­chen Dienst der SPD-Re­gie­rung ge­wal­tig zu und er­reich­te nach ei­nem kur­zen, aber als hef­tig emp­fun­de­nen Streik 11% mehr Lohn und Ge­halt.

    Die Wirt­schafts­po­li­tik in Deutsch­land war schon im­mer In­du­strie­po­li­tik. Er­hards Re­kurs auf den »Wohl­stand für Al­le« war na­tür­lich in Zei­ten des öko­no­mi­schen Nie­der­gangs nach 1945 fast zwin­gend er­folg­reich. Schil­ler wuss­te um die Fra­gi­li­tät des »Wohl­stands« bzw. des­sen Gren­zen und ver­such­te mit der »kon­zer­tier­ten Ak­ti­on« Ar­beit­ge­ber und Ar­beit­neh­mer auf lang­fri­sti­ge Stra­te­gien mit Hil­fe der Po­li­tik zu ver­pflich­ten. Das ge­lang kurz­fri­stig.

    Die Un­ter­zeich­ner des von Ih­nen an­ge­spro­che­nen Ma­ni­fests, die 1992 vor ei­ner Zer­reiss­pro­be der EU warn­ten, sind bis auf sehr we­ni­ge Aus­nah­men nicht mehr in öf­fent­lich wahr­nehm­ba­re Äm­ter ge­kom­men. Sie wa­ren durch ih­re Op­po­si­ti­on dis­kre­di­tiert. Ihr »Ver­ge­hen« be­stand dar­in, den Eu­ro als öko­no­mi­sches Pro­jekt zu be­fra­gen. Das war er aber nie. Es stan­den im­mer po­li­ti­sche Aspek­te im Vor­der­grund. Vom ehe­ma­li­gen deut­schen Bun­des­bank­prä­si­den­ten ist ja die Fra­ge an Kohl über­lie­fert, wie das mit der Kon­ver­genz ge­hen soll. Kohls Ant­wort dar­auf lau­te­te sinn­ge­mäss: »Das ist doch nicht mein Pro­blem.«

    Der EU-Wahl­kampf in Deutsch­land (an­de­re kann ich nicht be­ur­tei­len) of­fen­bart in ei­nem er­schrecken­den Ma­ße, wie blut­leer nicht nur das »Pro­jekt« der EU zu sein scheint, son­dern vor al­lem wie lö­sungs­los die po­li­ti­schen Prot­ago­ni­sten sind. Oh­ne in der DDR so­zia­li­siert wor­den zu sein, er­in­nert vie­les an Durch­hal­te­pa­ro­len. Das, was man in öf­fent­lich-recht­li­chen Me­di­en in D von Jour­na­li­sten zur EU hört, ist von ei­ner der­ar­ti­gen Tri­via­li­tät, dass es je­den Men­schen mit ei­nem IQ > 80 be­lei­digt. Tat­säch­lich wird doch die Ab­schaf­fung bzw. Ein­gren­zung der Roa­ming-Ge­büh­ren als Er­folg der EU aus­ge­ge­ben. Und – so un­längst in der ARD – das so­li­da­ri­sche Zu­sam­men­ste­hen der Eu­ro-Zo­ne zu Grie­chen­land. Über die Ur­sa­chen die­ser Kri­se: kein Wort.

    Die letz­ten fünf Jah­re mit dem Kom­mis­si­ons­prä­si­den­ten Jun­cker wa­ren für die EU ei­ne Ka­ta­stro­phe. Statt ei­ne Re­form der EU-Gre­mi­en vor­an zu trei­ben, ver­wal­te­te er mehr schlecht als recht den Sta­tus quo. Ein To­tal­aus­fall; das per­so­na­li­sier­te Ver­sa­gen.