Als ich noch in Neubau, im siebten Wiener Gemeindebezirk, in einem für diese Gegend untypischen Haus wohnte, erfuhr ich was das Verhüllen von Kopf, Gesicht und Körper, je nach Vollständigkeit und Blickwinkel des Betrachters, bedeuten kann: Ich war damals mit einer jungen, tschetschenischen Nachbarin in Kontakt gekommen, die sich wie einige andere Bewohner des Hauses in dessen Hof bei schönem Wetter zum Spielen, Tratschen und Kaffeetrinken einfanden. Es ergab sich fast zwangsläufig Kontakt, wenn man die Wohnungen, die zum Teil einen pawlatschenaähnlichen Zugang besaßen, verließ, und mitten in die spielenden Kinder stolperte, ein soziales Gefüge, das bereits, so kommt es mir jedenfalls vor, selten geworden ist: Man hilft einander, plaudert, spielt mit den Kindern und lebt infolge dessen nicht bloß neben- sondern auch miteinander: Das erwähnte Mädchen war ziemlich genau 20 Jahre jünger als ich und hatte einen Bruder, der an einer geistigen Behinderung litt; ich habe nie nachgefragt um welche es sich gehandelt hatte, weil es nicht von Belang war und er wie seine Schwester freuten sich über Gesellschaft, ganz gleich, ob es meine oder die anderer Kinder oder Erwachsener war. So stellte sich in unserem Hof häufig ein buntes und lautes Treiben und Tollen ein: Es wurde Federball und Fußball gespielt, Verstecken oder Fangen, es wurde Fahrrad gefahren, Blumen und Gemüse gepflanzt, gegossen und gepflegt; ein paar Mal wurde für die Kinder sogar eine Schnitzeljagd organisiert und ab und an gab es eine Einladung zum Abendessen, zu Kaffee oder Kuchen.
Von Zeit zu Zeit bemerkte ich, wenn ich in dem überdachten Vorlauf vor meiner Wohnung stand und auf die efeuberankte Mauer, die den Hof an der gegenüberliegenden Seite begrenzte, hinüber sah und mich in dem unbekümmerten Spiel der Amseln verlor, eine junge Dame, ich vermutete, dass es eine junge Dame war, die mit langen, wallenden Gewändern und einem Kopftuch gekleidet, durch den Hof in den hinteren Teil des Hauses spazierte; da ich etwas über ihr im Halbstock stand und sie stets ohne den Kopf zur Seite zu drehen an mir vorüber ging, blieb mir ihr Gesicht wie ihre Haare und ihre Figur, verborgen: Mir war es unmöglich sie den Bewohnern des Hauses, die ich fast alle vom Sehen kannte, zuzuordnen, noch wusste ich in welcher Wohnung sie wohnte; ich hätte ihr natürlich nachgehen können, aber das verbot sich von selbst. Einige Zeit lang blieb dieses kleine Rätsel bestehen, bis ich dahinter kam, dass es niemand anders als das tschetschenische Mädchen war, das sich außerhalb des Hauses, beim Einkaufen oder in der Schule, ganz anders kleidete, als ich es gewohnt war, wenn es sich im Hof aufhielt oder spielte. Ich war darauf nicht vorbereitet gewesen und hatte die beiden so unterschiedlichen Erscheinungen nicht zusammen gebracht, ja nicht bringen können: Auf der einen Seite ein schlankes, junges, in Jeans und T‑Shirts gekleidetes Mädchen mit langen, braunen Haaren, die es offen oder zu einem Pferdeschwanz zusammen gebunden trug und auf der anderen Seite eine Person, die sich verhüllte, deren Haar und Figur verborgen und verwischt waren, die sich auf diese Weise dem Erkanntwerden entzog und deren Gesicht ich von meinem Standort aus nicht sehen konnte. Ich war kurzzeitig einigermaßen verwirrt über diese Tatsache, hinter die ich so plötzlich wie unerwartet gekommen war: Mehr als die äußeren Unterschiede jedoch, hatte noch etwas anderes zu meiner Verwirrung beigetragen, das mir erst nach und nach bewusst wurde: Ich habe das Mädchen nie auf seine Kleidungsgewohnheiten hin angesprochen, ich habe allerdings auch nie einen Hinweis bemerken können, dass es die Kleidung, die es in der Öffentlichkeit trug, besonders schätzte, also auch privat, etwa beim Spielen im Hof, verwendete; auch ihr sonstiges Wesen – sie war fröhlich, freundlich, manchmal schüchtern-respektvoll, aber auch bestimmt und fast kämpferisch – schien dazu keinerlei tiefergehende Verbindung zu besitzen. — Später traf ich das Mädchen dann ab und an auf der Straße und wir lächelten einander im Vorübergehen zu: Nun wusste ich ja, wer es war.
Ich bin vor seit einiger Zeit umgezogen, in ein anderes Eck von Wien und viele der Bewohner von damals haben kurz davor oder danach das Haus verlassen; es war der Zufall der die Angehörigen etlicher Kulturen dort für einige Zeit zusammen und dann wieder auseinander geführt hatte; zu der tschetschenischen Familie habe ich keinen Kontakt mehr, doch ist mir die oben geschilderte Begebenheit in Erinnerung geblieben und sie ist immer wieder hervor gekommen, wenn sich dieses Thema in der öffentlichen Diskussion seine Bahn brach und Raum gewann.
So sehr es für mich damals befremdend war und noch heute ist, eine Hausbewohnerin und Bekannte in der Öffentlichkeit nicht (oder kaum) erkennen zu können und obwohl sich das für viele andere vermutlich ganz ähnlich darstellt: Die Perspektive eines Betrachters, eines Beobachters, eines Außenstehenden, der erkennen möchte und sei es nur, wer da vor ihm steht, ist nicht der entscheidende Aspekt, obwohl oder gerade weil er so unmittelbar eingängig ist; genauso verhält es sich mit zahlreichen Wortmeldungen, die mit dem Phänomen der Verhüllung in der öffentlichen Diskussion verbunden sind: Dass es etwa besser sei, wenn Frauen wenigstens verschleiert aus dem Haus dürfen; dass die Verhüllungsdebatten bloß Stellvertreter- oder Scheindiskussionen wären; dass dies von vielen Frauen gewollt sei und damit als selbstbestimmt und freiwillig aufzufassen wäre und das Kopftuch als ein bloß modisches Accessoire1; und auch die wohl richtige Feststellung, dass das Kopftuch ein Symbol der Islamisten sei, geht am Kern der Angelegenheit vorbei: Egal ob Kopftuch, Tschador, Hidschāb oder Burka, all diese Kleidungsstücke beschneiden, in Kombination mit oder als figurverwischende Kleidungsstücke, wenn sie konsequent getragen werden, die Individualität und die Wiedererkennbarkeit ihrer Trägerinnen in der Öffentlichkeit; nimmt ihre Zahl beständig zu, muss man von einer Uniformierung sprechen: Frauen sind damit nicht nur nicht mehr individuell erkennbar, sie werden einander äußerlich immer ähnlicher, nicht durch Haarfarbe, ‑form und ‑länge, nicht durch ihre Gesichtszüge oder ihre Mimik, die in Bruchteilen von Sekunden, Gemüt und Seele offenlegen können, unterscheidbar: Sie werden Kopftuchträgerinnen und Verhüllte, die sich vor allem durch Muster, Form und Farbe ihrer Kleidungsstücke unterscheiden, ihnen sind nicht nur ihre gegebenen (»natürlichen«) Erscheinungen genommen, sondern fast alle Möglichkeiten darüber hinaus Ausdruck und Erscheinung zu formen.
Wenn es einen unveräußerlichen Kern dessen, was wir als Moderne oder als moderne Gesellschaften bezeichnen, gibt, dann ist dies – neben allen ihren Schattenseiten, derer man sich bewusst sein sollte – das Individuum als Träger von Rechten, als selbstbestimmte Person und damit als Verantwortlicher und als leidensfähiges Subjekt: Die Gleichrichtung, die Unkenntlichmachung und das Verwischen von Individualität im öffentlichem Raum zielt auf den Kern unseres Verständnisses von Mensch und Gesellschaft, der nicht mit einem tatsächlichen oder vermeintlichem liberalen Individualismus zu verwechseln ist: Dass ich mich durch Eigenschaften in Raum und Zeit von anderen unterscheide, also nicht mit ihnen ident bin, begründet meine organismische Entität und meine Abgrenzbarkeit von anderen: Sie sind grundlegend dafür, wenn auch keine Begründung im strengen Sinn, dass weder ich, noch mein Nachbar, noch irgendein anderer Bürger ohne weiteres kollektiv haftbar oder vereinnehmbar sind und sollten deshalb auch nicht mit dem Tragen von knalligen Sportschuhen, Baseballkappen oder Piercings verwechselt werden2. – Welche Konsequenzen man auch immer daraus ziehen möchte, dass sich in unseren Gesellschaften ein Widerspruch von öffentlicher Erscheinung, von Verständnis, Recht und Gesetz auftut und verfestigt, eine gleichrichtende, uniformierende Tendenz, die in praktisch-empirischer Hinsicht einer modernen Auffassung von Gesellschaft entgegensteht, sie ist kaum zu bestreiten und es steht zu befürchten, dass sie nicht folgenlos, also äußerlich bleiben wird und dies auch bereits jetzt schon ist.
Ich erinnere mich in solchen Fällen häufig an eine Frau, die ein modisch aussehendes Kopftuch in einem kleinen Lokal in Istanbul trug: Die Dame saß mit zwei oder drei Personen an einem Tisch hinter mir auf der Dachterrasse vor dem dunklen Nachthimmel und hielt lachend und scherzend in der linken Hand eine Zigarette und in der rechten ein Krügerl Bier. -- Ich möchte gegen das Kopftuch als bloß modisches Stilmittel folgendes einwenden: Es gibt kaum etwas Sprunghafteres und Ungebundeneres als die Mode: Sie ist für kurze Zeit und immer neu, also ohne tiefgreifende Begründung, das Kopftuch aber, wird konsequent und immer getragen, nicht fallweise, anlassgebunden oder flapsig. ↩
Es sollen damit keineswegs überindividuelle, kulturelle Bindungen und Loyalitäten bestritten werden, allerdings ist deren Vereinnahmungen und etwaigen Zugehörigkeiten per se keinerlei rechtliche Relevanz zuzuschreiben. ↩
Sehr sinnfällige Darstellung, der Habitus der Tschetschenin in einem Hinterhof unterscheidet sich erkennbar von einem Auftritt in der sog. Öffentlichkeit. Die Psychologie dahinter ist einleuchtend, es assoziieren sich leicht Gegensatzpaare wie offen-geschlossen, bekannt-neu, sicher-gefährlich, etc.
Ganz klassisch ist der Hinterhof ein panoptischer Raum, alles ist einsehbar. Das Verhalten ist psychologisch vollkommen erklärlich, nur die kulturellen Definitionen des Westens stehen dem entgegen, wollen verändern, und verbieten sogar an Ort und Stelle.
Aber Halt!, höre ich die Einwände, was meinst Du denn mit »kulturell«. Kann man die Formation des Westens denn überhaupt als eine Kultur neben anderen begreifen, gehen unsere Definitionen nicht über den endemischen Kulturbegriff hinaus?!
Aber sicher, antworte ich, und zwar in beiden Fällen. Der Westen hängt wesentlich an non-territorialen Definitionen, seine Kulturform ist abhängig vom Grad der Ausbildung, dem Kontakt mit Industrien, dem persönlichen Besitz und die demokratische Gesinnung im Sinne der Meinungstoleranz, und dem Lebensgefühl in großen Städten.
Der Westen hat nichts mit offen-geschlossen, bekannt-neu, sicher-gefährlich zu tun. Deshalb reden wir ja von Kultur und nicht von Psychologie.
Sokrates: Dann überschreitet also die Kultur mit normativen Forderungen die Psychologie?!
Glaukon: Nun, ganz offensichtlich tut sie das. Wie könnte sie sonst kritisch eingreifen und Regeln aufstellen?!
Sokrates: Nun, nichts anderes aber wollte ich Dir beweisen.
Natürlich ist der Individualismus ein herausragendes Kriterium der Moderne. Die gesellschaftlichen Rückbezüge haben sich allesamt verflüssigt, wurden zur Privatsache gemacht. Aber manchmal frage ich mich, wie individualistisch »der Westen« wirklich ist. Ist Individualismus nicht eine Illusion? Man besteige einmal eine U‑Bahn einer Großstadt. 90% der Menschen beugen sich über ihre Smartphones. Worin zeigt sich hier Individualismus? Dass sie alle etwas anderes damit machen? Ihre Kleidung ist zwar individuell, folgt aber durchaus bestimmten Vorgaben, die man »Mode« nennt. (Es gab einmal eine Zeit, da »musste« man Jeans tragen; egal wie unbequem die auch waren. Andernfalls »drohte« der Ausschluss aus der Clique.) Was geschähe, wenn irgendein Popsternchen plötzlich das Kopftuch für sich »entdecken« würde? Es würde zum Modetrend werden. Für ein, zwei Halbjahre vielleicht. Aber immerhin.
In Deutschland wird zuweilen diskutiert, Schuluniformen nach angelsächsischem Muster einzuführen. Hintergrund ist, dass man die gesellschaftlichen Unterschiede, die sich in der jeweiligen Verwendung (oder eben Nichtverwendung) von teuren oder angesehenen Markenklamotten zeigt, unterdrücken möchte. Auf den Gedanken des Zusammengehörigkeitsgefühls kommt kaum jemand; eine Schuluniform hätte demzufolge ausschließlich nivellierenden Charakter.
Es gibt muslimische Exegeten, die die Körperverhüllung von Frauen ähnlich begründen. Interessant ist dabei, dass dies nur für Frauen gilt, d. h. man glaubt, Frauen beschützen zu müssen. Die Hierarchie Mann -> Frau wird damit ausdrücklich zementiert.
Der Polemiker Broder hat das mal sinngemäss dahingehend persifliert, dass er verschleierte Frauen bei uns nur dann akzeptiert, wenn seine Tochter gleichzeitig in Saudi-Arabien im Bikini über die Straße gehen dürfte. Das ist natürlich übertrieben, aber wenn ich auf der anderen Seite sehe, dass aus Rücksichtnahme vor den kulturellen Gepflogenheiten im Iran bei der Frauen-Schach-WM die Teilnehmerinnen sich an die lokalen Kleidungsvorschriften zu halten haben, dann frage ich mich schon, ob dieser Toleranzbegriff nicht überstrapaziert wird.
Der wichtigste Punkt scheint mir aber ein anderer zu sein: Warum glauben Menschen, die aus dem Nahen oder Mittleren Osten in »den Westen« kommen, dass ihre Bekleidungsvorschriften hier absolute Gültigkeit besitzen müssen? Oder, prägnanter formuliert: Warum fügen sie sich dem sozialen Druck innerhalb ihrer Gemeinschaft? Aber vielleicht ist es auch gar kein »Druck«, sondern passiert das alles »freiwillig«? Sind uns nicht in Wirklichkeit solche kulturellen »Vorgaben« auch immer ein bisschen unheimlich, weil wir sie bei uns nicht bemerken?
Schöne und aufschlußreiche Erzählung, aber ich bin mir nicht sicher, daß das sich stets von allen anderen unterscheidende Individuum mit seinen verbrieften Rechten, die es wahrnehmen soll (muß?), das Wesen jeder Art von »Moderne« ausmacht. Ich lebe in Japan, einer westlichen Gesellschaft, das Unterscheidungsbedürfnis scheint hier schwächer ausgeprägt zu sein, Uniformen werden sowohl in den Schulen als auch in Firmen, Fabriken und Büros getragen. Das finden alle normal, viele mögen es, wenige lehnen es ab.
Frauen mit Kopftüchern sehe ich hier ab und zu, Indonesierinnen, die das Kleidungsstück offenbar tatsächlich nur (?) aus ästhetischen Gründen tragen (die Mode lasse ich mal beiseite): bunt und offen, die übrigen Kleider betonen zuweilen die Körperform.
Wie weit es mit dem westlichen Individualverhalten im digitalen Zeitalter her ist, frage ich mich ähnlich wie Gregor Keuschnig. Und ich erlaube mir darauf hinzuweisen, daß in nicht so fernen Epochen westlicher Geschichte Uniformismus, Uniformen, Gleichschaltung, Einheitsdenken gang und gäbe waren. Modern oder nicht?
Was die islamischen Kulturen, vor allem in den arabischen Ländern, betrifft, so steht hinter dem Verschleierungszwang und den Verschleierungsdebatten das Verhältnis zwischen Mann und Frau als Macht- und Unterdrückungsverhältnis, wobei Sexualität wohl die Kernzone ausmacht. Wir sollten auf kritische Stimmen in bzw. aus diesen Kulturen hören. Kamel Daoud zum Beispiel, der in Algerien lebt. »Ist der muslimische Flüchtling ein Wilder?« fragt er mit Bezug auf die Ereignisse Sylvester vor etwas mehr als einem Jahr in Köln. »Nein«, lautet seine Antwort, »er ist nur anders, und es genügt nicht, ihn aufzunehmen, indem man ihm Papiere und eine Sozialwohnung gibt in der Hoffnung, damit das Problem gelöst zu haben. Man muß den Körpern Asyl geben, aber auch die Seele überzeugen, daß sie sich ändern muß. (...) Die Beziehung zwischen Mann und Frau ist der gordische Knoten innerhalb der ‘Welt Allahs’. Die Frau wird verleugnet, verworfen, getötet, verschleiert, eingesperrt oder besessen.« Wenn ich dem einen Satz hinzufügen darf: Nicht moralische Entrüstung ist die geeignete Antwort auf die Kölner Ereignisse, sondern verantwortlich gebrauchte Freizügigkeit. Die aber erwirbt man sich nicht im Handumdrehen, die Änderung der Seele dauert Jahre, wenn nicht Generationen.
Auch die westliche Seele hat sich verändert und tut es weiterhin.
@die kalte Sophie
In der Aufklärung bzw. der Moderne steckt ein Universalismus, der heute nach außen hin häufig der Bemäntelung westlicher Machtpolitik dient; innen, also in den Gesellschaften selbst, ist die Situation uneindeutiger, die Ansichten was man verlangen kann oder soll, wie Zuwanderung geregelt werden soll, gehen auseinander (zugespitzt ausgedrückt: Postmoderne innen, Imperialismus außen). — Dass Kultur einen universalistischen Anspruch tragen kann, ist nichts Neues, Christentum und Islam sind darin nicht anders (potenziell Religionen für alle Menschen); warum ein solcher Anspruch existiert und auch durchzusetzen versucht wird, hängt mit der Kraft der eignen Überzeugungen zusammen, mit moralisch-ethischen Implikationen und sicherlich mit dem Machtanspruch der daran gekoppelt ist (die berühmte Fackel ist ja nicht bloß ein Leuchtmittel, man kann damit genauso gut ein Haus in Brand stecken).
@Gregor und Leopold Federmair
Ich habe versucht den (zu recht kritisierten) Individualismus wie er überall in Erscheinung tritt, von dem zu trennen was ein Individuum grundsätzlich ausmacht, nämlich bestimmte, in Summe einzigartige Eigenschaften in Raum und Zeit. Letztlich muss es in der Praxis Auswirkungen haben (ich beobachte das auch an meinen eigenen Wahrnehmungen), wenn jemand eingeschränkt oder gar nicht mehr – wiederum praktisch gesprochen – als Individuum identifiziert werden kann und zwar für ihn selbst wie seine Mitbürger. Ich sehe darin eine (mehr oder weniger stark) ausgeprägte Uniformierung und Entindividualisierung, also: Anonymisierung: Recht, Verantwortung und Leidensfähigkeit sprechen wir aber Individuen zu, das meinte ich mit dem Widerspruch.
@Gregor
Dass kulturelle Angewohnheiten nicht abgelegt werden, hat wohl mit der Festigkeit von Überzeugungen und mit deren Tiefenverankerung zu tun, auch mit Ansprüchen, s.o. Dazu kommt, wie Bassam Tibi z.B. schon vor vielen Jahren geschrieben, dass der Westen schwach (oder unsicher) geworden ist und von seinen eigenen Überzeugungen – der kulturellen Moderne – ablässt (meine Wortwahl). An die Freiwilligkeit glaube ich im Großen und Ganzen nicht, denn das Kopftuch wird ja immer getragen, oft mit einer Art Haube darunter, die dafür sorgt, dass kein Haar hervorschaut (meine Oma trug auch ein Kopftuch, aber nur wenn sie in die Kirche ging). — Unheimlich ist uns vielleicht die Offensichtlichkeit (boshaft könnte man sagen: wir haben Angst vor der Verbindlichkeit).
@Leopold Federmair
Die europäischen Bewegungen jener Epochen, die Sie ansprechen, waren – im Übrigen genauso wie der Fundamentalismus und Dschihadismus nahöstlicher Prägung – immer ein Amalgam: Antimodern bezüglich Uniformierung und Gleichschaltung, modern in ihrer Affinität zu Technik und Verfahrenslogik. — Unsere westlichen Gesellschaften sind mit ihrem nicht Zusammen‑, sondern Nebeneinanderleben, ihrer Vielgestaltigkeit, ja Beliebigkeit und ökonomischen Grundbestimmtheit eine Zumutung: Damit muss man mal zurecht kommen und das wirft einen eher dorthin zurück, wo man steht oder herkommt (Sinnstiftung). Allerdings sind diese Dinge nicht offensichtlich, offensichtlich ist der Wohlstand unserer Gesellschaften, vielleicht offensichtlicher als er tatsächlich ist (auf der Straße liegt er nicht, der Sozialstaat wird knausriger). Ich verstehe jeden, der sich sein Leben ökonomisch verbessern und in den Westen ziehen will, aber ist das als Einstellung ausreichend? Man kann auch gegenfragen, ob der ökonomische oder sozialversicherungstechnische Nutzen den mache mit Zuwanderung verbinden, ausreicht. Und unabhängig davon: Wenn die Prozesse Jahre dauern, was ich auch so sehe, dann bedeutet das doch, dass wir Zuwanderung drastisch einschränken müssten, um Stabilität zu erreichen und zu retten, was noch zu retten ist. Es bedeutet weiter, dass wir Fluchtursachen vor Ort beseitigen helfen müssten, mit dramatisch gesteigertem Aufwand und jegliche illegale Intervention, die den eigenen Interessen dient, eingestellt werden müsste. — Gelingt das nicht, werden wir in noch viel stärkerem Maße neben einander leben, die Gesellschaft wird noch stärker fragmentiert werden, weil es kaum mehr kulturelle Querverstrebungen geben wird (sie sind jetzt schon gering). Die ökonomische Herrschaft dürfte dann übermächtig werden.
@metepsilonema, letzter Teil von Kommentar 4:
Bin einverstanden, vor allem ist ökonomischer Wohlstand als einziges Ziel nicht ausreichend (die im Wohlstand leben haben natürlich leicht reden...).
Auch den Universalismus würde ich nicht grundsätzlich aufgeben wollen. Ich denke nur, daß man immer wieder neu bedenken und gegebenenfalls definieren muß, was universelle Gültigkeit haben soll und was nicht. Ist Demokratie westlichen Zuschnitts – die im Westen immer weniger funktioniert – tatsächlich so ein Wert? Jeder ist aufgerufen, Antworten zu finden. Unverhandelbar sind m. E. der Respekt vor dem anderen, vor dem anderen Denken, Unantastbarkeit des Lebens (deshalb auch gegen Todesstrafe), grundsätzliche Gleichberechtigung in diversen Lebensbereichen, Akzeptanz der Unterschiede, übrigens auch der sog. Exzellenz, Möglichkeit der Selbstbestimmung – und manches mehr. Einige dieser Punkte sind für den zwischengeschlechtlichen Umgang von besonderer Bedeutung.
Noch etwas: Das Bestreben, Zuwanderung regulieren, ist berechtigt, aber zunächst ist zu prüfen, woher die Ströme kommen und wie groß die Dringlichkeit ist. In den Ländern um Syrien halten sich Millionen Flüchtlinge auf (Libanon, Türkei an erster Stelle, viel mehr als in den europäischen Ländern), diese Leute haben in den meisten Fällen einfach keine andere Wahl, als zu fliehen. Auch wenn es die Gesellschaft der Aufnahmeländer destabilisieren kann – will man die Türen schließen? Zäune und Mauern errichten?
Manche dieser »westlichen Werte« sind nur auf den ersten Blick »universal« bzw. essentiell. Wir schränken sie je nach Bedarf (fast hätte ich geschrieben: nach Belieben) immer dann ein, wenn es uns passt. Beispiel: »Unantastbarkeit des Lebens«. Daher ist man gegen die Todesstrafe. Aber was ist mit Abtreibung? Auch dort ist Leben entstanden. Um uns dieser Zwickmühle zu entziehen, haben wir einen rechtlichen Rahmen geschaffen, der definiert, wann Leben lebenswert ist und wann nicht. Das befriedet zwar nach außen die Gesellschaft, ist aber nicht ohne Heuchelei. (Statt Abtreibung hätte man auch das Militär nehmen können, in dem ja ebenfalls die Unantastbarkeit des Lebens zur Disposition steht – und zwar die Unantastbarkeit des Lebens des »Feindes«.)
Auch die unendliche Diskussion um die Vollverschleierungen von Frauen in öffentlichen Räumen ist vermint. Einerseits kann man das als Herrschafts- und Diskriminierungsymbol ächten. Andererseits sind es genau die politischen Kräfte in Deutschland, die sich über jedes nicht gesetzte Binnen‑I echauffieren, die hier plötzlich tolerant sind.
Die Krise dessen, was wir »Westen« oder »Demokratie« nennen, hat m. E. mit den Spagaten zu tun, die immer schwieriger werden. Beispiele: Wenn Demokratie die Herrschaft des Volkes ist – was passiert, wenn das Volk mehrheitlich demokratiefeindliche Institutionen und Parteien wählt, die am Ende dann die Demokratie abschaffen? Weiter: Wenn wir Flüchtlinge aufnehmen sollen – wo liegt die Grenze bzw. gibt es überhaupt eine? Derzeit sollen insgesamt 60 Millionen Menschen auf der Flucht sein. Will man die alle in Europa aufnehmen? Das ist unmöglich – so berechtigt deren Weggang auch sein mag. Überhaupt nicht geklärt ist die Frage des Status. Sind es Asyl-Suchende (also auf Zeit) oder Emigranten (auf Dauer)? Wer legt das fest?
Das nächste Problem ist dann das, was die Politik dann immer fordert: »Fluchtursachen beseitigen«. Schöne Idee, aber würde ein Eingreifen in die nationale Souveränität der Länder, aus denen die Menschen fliehen, nicht als neuer Kolonialismus gebrandmarkt? Hinzu kommt ja, dass viele Länder, aus denen die Menschen fliehen, gar nicht mehr als existieren (»failed states«) bzw. von korrupten Potentaten regiert werden. Jede Hilfe fließt dort in die Taschen dieser Leute.
Vielleicht liegt auch ein Problem darin, dass unsere verrechtlichte Welt, die alle möglichen Eventualitäten abdecken möchte, irgendwann an ihre Grenzen stösst. Daher sind die »einfachen Lösungen« so attraktiv geworden (sei es bei den Recht- und Linkspopulisten wie auch im islamischen Fundamentalismus).
@Gregor K.
Nur zwei Punkte: Da ich Achtung und Schutz von Leben als Wert sehr hoch ansetze (aber auch nicht absolut setze), bin ich auch in der Abtreibungsfrage sehr sensibel. Wenn es irgendwie geht, möchte ich Abtreibungen vermeiden. (Im »modernen« Japan, dessen Bevölkerung schrumpft, werden mit größter Leichtigkeit zigtausende Abreibungen vorgenommen, ohne daß sich jemand erregt.) Andererseits scheint es mir doch notwendig zu definieren, ab welchem Zeitpunkt, welcher Entwicklungsstufe wir menschliches Leben als Leben einer Person definieren. Sonst kommt man dahin, Samen und Keime schützen zu wollen.
Zweiter Punkt: Ursachenbeseitigung in Ländern wie Syrien, Irak... Ich glaube nicht, daß man in absehbarer Zeit in diesen Ländern zu befriedigenden Lösungen kommen wird. Es wäre schon ein Fortschritt, die ärgsten Greuel einzudämmen, da und dort friedliches Zusammenleben zu ermöglichen. Utopien, Ideen von Idealzuständen, helfen da sowieso nicht weiter. Vergessen darf man auch nicht, daß sich die Situation im sog. nahen Osten durch die militärischen Eingriffe von USA und Nato ab den Neunzingern so verschärft hat. Einen islamistischen Terrorismus dieser Art gab es vorher nicht. Wir tragen Verantwortung, auch wenn das viele politische Führer nicht wahrhaben wollen.
@Leopold Federmair
Zu 1: Ja, genau das meine ich. Eine Gesellschaft muss Regularien finden, eben damit man am Ende nicht noch Samen und Keime schützen muss. Aber diese Regularien sind immer nur auf eine gewisse Zeit bezogen. Die Maßstäbe ändern sich. Was heute noch unmöglich ist und vielleicht sogar hart bestraft wird, ist in 25 Jahren konsensuell. Homosexualität war vor 30 Jahren strafbar – das kann man sich heute nicht mehr vorstellen. Wie wird es in 30 Jahren mit der Pädophilie aussehen?
Zu 2: Die Ursachenbeseitigung bezog ich weniger auf die Länder des Nahen und Mittleren Ostens. Hier ist klar, dass die Kriege der jüngsten Vergangenheit eine Mitschuld tragen. Klar ist auch, dass man von seiten des Westens immer die entsprechenden Potentaten unterstützt hat. Sie sorgten für »Stabilität«. Die Ausnahme war 1991, als man die irakische Invasion Kuwaits in einer großen Koalition mit u. a. auch anderen arabischen Staaten beseitigte. Der Keim des islamistischen Dschihadismus war die Invasion Afghanistans durch die UdSSR und die blödsinnige Unterstützung der Dschihadisten durch die USA. Vollkommen eskaliert ist das alles 2003 durch den Verbrecher George W. Bush.
Meine Äußerung bezog ich eher auf Länder wie Eritrea, Nigeria, Somalia oder auch die Maghreb-Staaten. Von hier fliehen die Menschen in Scharen und wollen alle nach Europa. Nigeria ist in Wahrheit ein sehr reiches Land (Erdöl-Einnahmen), aber katastrophal regiert. Im Norden gibt es marodierende Horden (Boko Haram) und der Staat schaut zu. Eritrea ist eine Diktatur, die den Menschen keinerlei Perspektive bietet. Somalia existiert praktisch nicht. Die Verantwortung des Westens für diese Entwicklungen erachte ich für marginal. Der Kolonialismus kann nicht mehr als Argument für die Versäumnisse der politischen Kaste in Afrika der letzten 30, 40 Jahre herhalten. (Das es machtpolitische Dimensionen der einstigen Imperialmächte gibt, die bis heute nachwirken – Beispiel Sykes/Picot im Nahen Osten – ist allerdings unstrittig. Und auch »unsere« Wirtschaftspolitik verschärft Konflikte.)
@Leopold Federmair
Heikel wird der Universalismus, wenn es um andere Staaten geht: Sind unsere Vorstellungen entscheidend genug, um uns in die Angelegenheiten anderer Staaten einzumischen (etwa militärisch)? Können wir das von machtpolitischen Interessen trennen? Wie sehen die Überlegungen für das Danach aus? Bringt man mitunter mehr Leid und zerrüttete Strukturen (dysfunktionale Staaten)?
Wenn, dann sehe ich die repräsentative Demokratie in einer Krise, nicht die Demokratie, die sicherlich nicht einfach auf den Rest der Welt übertragen werden kann. Vielleicht gibt es Varianten, die besser funktionieren.
Was Syrien betrifft, haben wir unsere Humanität entdeckt, als die Menschen vor unseren Grenzen standen; man hätte sicherlich, gemeinsam mit Assad und Russland, die meisten Flüchtlinge vor Ort in Lagern, die wie Städte funktionieren, in denen die Menschen ihren Berufen gemäß einen Platz finden, unterbringen können und diejenigen in den Westen gebracht, für die das notwendig gewesen wäre, z.B. aus medizinischen Gründen, aus psychischer Notwendigkeit, usw. Man hätte sich politisch die Finger schmutzig machen müssen, aber die UNO und das Rote Kreuz hätte Assad akzeptiert, wenn Russland mit im Boot gewesen wäre. Es hätte sich kaum jemand auf den Weg von Syrien nach Europa machen müssen, es hätte einige Tote weniger gegeben und die Aufnahme bei uns wäre koordinierter abgelaufen.
Wichtig ist auch sich an den Sturz Mossadeghs durch die CIA und den britischen Geheimdienst zu erinnern, die Geschichte des Irans wäre wohl anders verlaufen und das Ansehen des Westens ein andere (aber das Erdöl war wichtiger).
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@mete Ich bin ein Anhänger der Aufklärung, wie jeder Wissenschaftler. Doch hat die »Gemeinde« doch eine gewaltige Schräglage erreicht, nachdem sie die Möglichkeiten der »Gegenmacht« entdeckte.
Heute beachte ich kaum noch Interventionen, die sich auf die Aufklärung berufen. Die wesentliche Differenz besteht offenbar zwischen Wissenschaft und Politik, oder pointiert: zwischen Wissenschaft und Demokratie.
Es wäre ja wunderbar, wenn sich das Tryptychon Wissen-Macht-Diskursivität wirklich bestens ergänzen würde, aber ich habe das nie beobachtet. Respektiert man das Wissen und die Diskursivität, dann fehlt die Macht (Postmoderne), verabsolutiert man die Diskursivität, verzerrt man die Macht zur ewigen Gegenmacht oder »Kontrollmacht« (Stichwort: freie Presse). Ich würde wirklich nicht behaupten, dass der Westen eine gelungene Formation ist. Keine Wertung, aber eine gewisse Enttäuschung.
@Gregor K.
Nigeria, Somalia..., auch (Süd-)Sudan, und vergessen wir nicht, was vor über 20 Jahren in Ruanda geschah. Ratlosigkeit. Hier von der Schuld des Kolonialismus zu reden, ist billige Ausrede, man täuscht sich über die Ratlosigkeit hinweg. Aber eben, was tun? Einmischen, nicht einmischen? (Metepsilonemas Frage)
Alle »Interventionen« des Westens hatten geostrategische Bedeutung. Frankreich intervenierte nach 1960 ja ‑zigfach in ihren ehemaligen Kolonien in Afrika (eine entsprechende Wikipedia-Seite ist scheinbar verschwunden). Entweder wollte man den Status quo aufrecht erhalten (in dem man ein Regime stützte, dass einem wohlgesonnen war und sei es nur nach der Devise »Der Feind meines Feindes ist mein Freund«) oder eine Entwicklung sollte verhindert werden. Seltener gab es aktive Regimestürze (wie beispielsweise Bush 2001 in Afghanistan und 2003 im Irak). Nahezu alle diese Einmischungen nach 1945 erzielten mittel- bis langfristig genau das Gegenteil dessen, was sie bewirken sollten. Das gilt sowohl für Geheimdienstoperationen (Iran/Mossadegh bspw.) als auch für Militäreinsätze. Meist kam es noch schlimmer, da die »Strategen« Clausewitz nicht gelesen hatten (und der, der ihn gelesen hatte, ignorierte ihn): Man kommt leicht in einen Krieg hinein, aber sehr schwer wieder heraus.
Militärische Interventionen immer ein Ausdruck des Versagens von Politik, die sich zumeist nur auf ökonomische und geostrategische Interessen konzentriert. Anders sind Allianzen des Westens beispielsweise mit einem Land wie Saudi-Arabien nicht verständlich.
Immer wieder wird betont, dass das bipolare Zeitalter, also die Konfrontation im Kalten Krieg zwischen der UdSSR und den USA, vorbei sei. Konflikte wie Syrien zeigen, dass das nur begrenzt stimmt. Sobald Nuklearmächte in einer Region differierende Interessen haben, ist die Wahrscheinlichkeit einer kriegerischen Eskalation – früher Stellvertreterkrieg genannt – sehr gross. Die Bush-Kriege 2001 und 2003 sind nur scheinbar eine Ausnahme: Hier hatten die Russen ähnliche Interessen (Afghanistan) bzw. keine (Irak). Daher konnte schnell ein militärischer »Sieg« errungen werden, der am Ende allerdings die Länder in noch grösseres Chaos stürzte.
Derzeit konzentrieren wir uns auf die verworrene Lage in Nah- und Mittelost. Sehr viel interessanter (und auf Dauer gefährlicher) geht es jedoch in Asien zu, wenn die unterschiedlichen Interessen der von Trump geführten US-Regierung auf die chinesischen Großmachtansprüche treffen.
@die_kalte_Sophie
Vielleicht ist das Triptychon als Wissenschaft-Politik-Öffentlichkeit (Diskursivität) besser bestimmt; die tatsächlichen Machtzentren können ja disloziert sein.
@Gregor
Bei den Geheimdienstoperationen spielten oft ökonomische Interessen eine bedeutende Rolle, z.B. der Sturz von Árbenz (Guatemala) bei dem der CIA mit der United Fruit Company paktierte; ein anderes trauriges Beispiel ist der Kongo (die Ermordung Lumumbas), aus dem das Uran für die Bomben auf Hiroshima und Nagasaki stammte. Aus diesen und ähnlichen Gründen, ist mir die Litanei von der liberalen Weltordnung mittlerweile einfach zuwider.
In der Wikipedia scheinen zumindest bei bestimmten Themen im Hintergrund regelrechte Kriege abzulaufen um unliebsame Ansichten draußen zu halten oder einen bestimmten Spin zu transportieren, inklusive unangemessener Sperren.
Manchmal denke ich mir, dass etliche Politiker zur Zeit des kalten Kriegs vernünftiger waren als ihre Kollegen heute (es ist schon absurd, dass Russland vorgeworfen wird, militaristisch und undemokratisch zu sein und etliche Senatoren und Wissenschaftler in den USA genau vor diesen Entwicklungen vor Beginn der NATO-Osterweiterung gewarnt haben, von vergleichbaren Parallelen in den USA einmal abgesehen).
Stimmt, Asien darf man nicht vergessen, es ist für uns nur weniger offensichtlich.
Bei aller Irrationalität des Vernichtungspotentials durch die Hochrüstung waren die Handelnden im Kalten Krieg eben auch Realpolitiker. Auf beiden Seiten gab es keine (religiösen) Jenseitshoffnungen, die mit dem Status quo spielten. Die Ausnahme war wohl Castro während der sogenannten Kuba-Krise, der Chruschtschow drängte, gegen die USA hartzubleiben und damit einen Atomkrieg zu riskieren. Dabei wollte dieser am Ende nur die vorher installierten US-Raketen in der Türkei loswerden, die in der historischen Betrachtung dieses Vorfalls meist »vergessen« werden.
Die NATO-Osterweiterung war von seiten des Westens mit einigen informellen Versprechungen untermalt worden, an die man sich dann später nicht mehr erinnern wollte.
@ mete und »Vielleicht ist das Triptychon als Wissenschaft-Politik-Öffentlichkeit (Diskursivität) besser bestimmt; die tatsächlichen Machtzentren können ja disloziert sein.«
Das habe eigentlich implizit angenommen. Die Macht in meinem Tryptychon ist eigentlich nur jener Anteil »akkumulierte Macht«, die nötig ist, um einen demokratischen Prozess zu betreiben, der notwendig ist, ein Amt zu besetzen oder eine parlamentarische Entscheidungen herbei zu führen.
Die »Lehrer« und die »Polizisten« lasse ich mal unter den Tisch fallen. Die gibt es immer.
Demokratien habe viele Mitstreiter, die Bündnisse sind aber disloziiert. Das ist eine demokratische Grunderfahrung, die Partikularität und Parteiennähe.
Seit geraumer Zeit glaube ich, dass exakt diese Verteiltheit der Grund dafür sein könnte, warum es »das Wissen« und »die Diskursivität« so schwer haben, nicht von der Macht im engeren Sinne vereinnahmt zu werden. Gerade die Verteiltheit der Macht macht sie sozusagen vereinnahmungspflichtig.
Ich stehe mit diesen Annahmen relativ allein auf weiter Flur, sie widersprechen zuunächst allem, was sich der Westen so gerne zugute hält. Ich habe aber eine Schwäche für Anti-Thesen. Sie sind so anregend.
Stellen wir uns doch mal die provokante Frage: Wo ist mehr ungeteilte unbelastete Wahrheit möglich (im Sinne des reinen Denkens), in einer Diktatur oder in einer liberalen Demokratie?!
Mit Nietzsche: Wo wird man die Wahrheit höher schätzen?!
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