Fünf: Das Haus des Wissens; Aufgaben und Ausbildung der Dichter, Philosophen, Priester und Hofschreiber.
Der Dichter im engeren Sinne heisst harauec, wörtlich „Erfinder“. Er „giesst die Geschichte in Verse“ (Garcilaso). Sein Aufgabenkatalog lässt sich aber nicht sauber abgrenzen zu anderen Berufen. Der amauta, Philosoph, komponiert ebenfalls, insbesondere Komödien und Tragödien für den Hof und für Festtage. Er fasst historische Geschichten und Fabeln in Prosa, gibt sie mündlich weiter und stellt die kollektive Erinnerung sicher. Der amauta ist jedoch zugleich Wissenschaftler und als solcher zuständig für Astrologie, Landwirtschaft, Masse und Gewichte und die Architektur. Die Priesterklasse, mit Hymnen, Gebeten, Anrufungen und Ritualen befasst, unterteilt sich in mehrere hierarchische Stufen, beispielsweise achi (Wahrsager) und omos (Magier). Den quipucamayoc könnte man vielleicht als Schreiber oder Buchhalter bezeichnen. Er führt die Annalen und Wirtschaftsstatistiken, hält aber auch Gesetzestexte, Anweisungen für Rituale, jährliche Berichte aus den Provinzen und literarische Erzählungen fest.
Sie alle durchlaufen eine strenge Ausbildung im yachayhuasi, „Haus des Wissens“. Das Studium dauert mindestens vier Jahre und umfasst neben einer breiten Allgemeinbildung unter anderem runa simi (Hochsprache und Provinzdialekte), Fremdsprachen, Geschichte, Religion und die Wissenschaft vom quipu. Das Haus des Wissens steht nur dem Adel offen, manche Berufe sind erblich. Öffentliche Beamte leben in Saus und Braus, und alle Gelehrten geniessen sehr hohes Ansehen in der Gesellschaft. Meist sieht man sie mit einem Rudel Schüler im Gefolge gemessen einherschreiten.
Sechs: Fiktion ist Fakt und umgekehrt; das Wenige, was man über die Epik weiss.
Mythen, Legenden, Märchen und Fabeln sind für den runa wahre Geschichten. Die Berge sind bevölkert von Geistern und Kobolden; allerdings kennt man in den Anden keinen „Teufel“, alle Wesen (bis auf den Sohn der Sonne natürlich) sind ambivalent. Es existiert keine Trennung zwischen Fakt und Fiktion und kein Konzept der Geschichte als Kette von Ursache und Wirkung. Da die Zeit ein zyklisches Phänomen ist, werden über Jahrhunderte hinweg keine kalendarischen Aufzeichnungen geführt (wohl aber eine ausgeklügelte Astronomie betrieben), und niemand zählt seine eigenen Lebensjahre. Geschichte(n) und Wirklichkeit werden durch den Akt des Erzählens gemacht; dementsprechend üben die Priester aber auch Kontrolle über die Bauern aus, und der Adel betreibt eine gnadenlose Zensur, bläht die Geschichte auf, idealisiert und verbiegt sie. Jeder sapa inka hält sich einen persönlichen Biographen, genauso wie jedes einzelne Dorf einen eigenen Vollzeit-Historiker beschäftigt, der die offizielle Geschichte so oft wie möglich vor möglichst vielen Ohren repetieren muss. Daher sind uns nur ganz vereinzelt „unpassende“ Geschichtselemente überliefert, nämlich von politischen Gegnern der Inkas.
Aus bereits erwähnten Gründen blieben kaum epische Werke aus vorkolonialer Zeit erhalten. Allerdings sind die Übergänge zwischen Lyrik, Epik und Drama sowie Musik, Gesang und Tanz (Oberbegriff: taqui, wörtlich „Gesang“) ohnehin fliessend, ebenso wie sich Sakrales und Profanes mischen (beziehungsweise im Denken der Inkas nicht unterschieden werden); keine der Gattungen hat sich je ganz vom Religiösen emanzipiert.
Es gab für die Epen im Wesentlichen zwei narrative Rezitationsformen, jeweils von Musik und Gesang begleitet und rhythmisch vorgetragen, möglicherweise sogar in Versen:
hucaripuni umfassen Heldenepen, Mythen, Legenden, die offizielle Geschichte und Loblieder auf den aktuellen sapa inka; hahuari cuycuna erzählen danteske Geschichten von den Vorfahren, Fabeln und bukolische Idyllen. Die „E‑Literatur“, wenn man so will, hiess hahua ricuy simi, „wunderbare Erzählungen“, und fürs gemeine Volk wurde „Unterhaltungsliteratur“ produziert, sausa sauca hahua ricuy cuna (man möchte ja schon zu diesem Gattungsbegriff schunkeln). Zwar war der Löwenanteil aller Dichtung dem Adel und den Beamteneliten vorbehalten, aber der Organisator eines kollektiven Arbeitseinsatzes in der Landwirtschaft, im Strassenbau oder zur Reparatur einer Wasserleitung (ayni, minga, mita; vergleichbar mit dem Gmeinwärchä auf den Sömmerungsweiden in den Schweizer Alpen) musste nicht nur für Picknick, Unterkunft und Werkzeug sorgen, sondern auch für Erzähler und Musiker zur Unterhaltung während der Arbeit.
Sieben: Das inkaische Drama; zwei überlieferte Stücke und der Dolmetscher Felipillo, ein Drama!
Auch das Theater unterschied zwei Stillagen. Tragödien erzählten von den Taten früherer Könige und Helden, von militärischen Siegen oder den Göttern, während sich die Komödien um Landwirtschaft, Haus und Familie drehten. Die Bühne war ein offener Platz unter freiem Himmel, manchmal mit einem künstlichen Wäldchen als Dekoration.
Das bekannteste erhaltene und bis heute gespielte Stück ist das Drama „Ollantay“; da es jedoch erst um 1800 aufgezeichnet wurde, ist nicht sicher, ob der Stoff vorspanisch oder kolonial ist oder ob er zur Kolonialzeit auf inkaischer Grundlage neu komponiert wurde. Eine Version muss zur Zeit der Conquista existiert haben, da in den frühen Texten vielfach auf die Ollantay-Motive angespielt wird.
Das Argument: Ollantay, General über das Ostviertel des Inkareiches, verliebt sich in Cusi Ccuyllur, die Tochter des sapa inka Pachakutiq (Regierungszeit 1438 – 1471). Wohl wissend, dass es nur danebengehen kann, hält Ollantay dennoch um die Hand der Prinzessin an. Pachakutiq führt dem hochgeschätzten General seine niedere Geburt vor Augen und putzt ihn ab. Daraufhin desertiert Ollantay mit einigen Getreuen, verschanzt sich im Osten und baut die (reale) Festung Ollantaytambo, wo er einen Putsch und die Übernahme des Reiches ausbrütet. Derweil platzt Pachakutiq vor Wut, als er feststellt, dass Cusi Ccuyllur schwanger ist, und sperrt sie im Frauenhaus ein. Dort kommt Ollantays Tochter Ima Sumaq zur Welt und wird der Mutter weggenommen. Eine Dekade später hat Ollantays Revolte noch immer nicht so recht Gestalt angenommen. Durch einen Verrat werden er und seine Gefährten überrumpelt und vor den sapa inka geschleift. Auf dem Thron sitzt inzwischen Pachakutiqs Sohn Tupaq Yupanqui. Die Abtrünnigen werden zum Tod verurteilt, in letzter Minute jedoch begnadigt und sogar mit militärischen Ehren dekoriert. Tupaq Yupanqui gibt dem General seine Schwester zur Frau, und Ollantay, Cusi Ccuyllur und Ima Sumaq sind endlich vereint.
Manche Interpretationen laufen darauf hinaus, dass hier politische Ereignisse aus der Regierungszeit Pachakutiqs (eine bis heute praktisch unantastbare Gestalt) erzählt werden, die aus der offiziellen Geschichtsschreibung gestrichen wurden. Was der Literatur in ihrer subversiven Funktion natürlich alle Ehre machen würde. Nicht nur deshalb schliesse ich mich dieser Interpretation an: als Liebesgeschichte taugt das ja nun gar nicht; Ollantay lässt die Geliebte zehn Jahre lang in Gefangenschaft schmoren! Wenn ich Cusi Ccuyllur wäre, könnte der mich mal…
Ein weiteres überliefertes Stück ist die „Tragödie vom Ende Atahualpas“. Es wurde erst 1871 niedergeschrieben, in den Chroniken finden sich aber Beschreibungen von Aufführungen in der Mitte des 16. Jahrhunderts. Das Drama ist stark monolog- und chorkommentarlastig und behandelt das Problem des gegenseitigen Missverstehens. Die spanischen Figuren sprechen nicht, sondern bewegen nur stumm die Lippen. Der Dolmetscher Felipillo redet Kauderwelsch, worauf die Inkas kommentieren, sie könnten „die seltsame Sprache“ nicht verstehen. Der Schluss drückt den Europäern indianische Ethik auf: der spanische König (im Stück „Spanien“ genannt) belohnt Pizarro nicht für den Sieg, sondern bestraft ihn für den Königsmord, indem er ihn, seine Nachkommen und sein Haus nach inkaischem Brauch verbrennen lässt.
Der Dolmetscher Felipillo ist übrigens historisch verbürgt und vielleicht – als Personifizierung eines gigantischen Missverständnisses – gar nicht unschuldig an der unerhörten Wendung der Geschichte in Cajamarca. Felipillo stammte aus einer einfachen Familie am äussersten Rand des Reiches. Er beherrschte nur einen bruchstückhaften Dialekt des runa simi, und sein Spanisch bestand aus Schimpfwörtern, die er von Soldaten gehört hatte. Ohne überhaupt zu verstehen, worum es in dem Gespräch zwischen Atahualpa und Pizarro ging, dolmetschte Felipillo einfach drauflos und machte zum Beispiel aus dem „dreifaltigen Gott“ kurzerhand den „Gott Drei-und-Eins-sind-Vier“. (Die Anekdote wurde von Garcilaso überliefert … und mir will nicht in den Kopf, dass sich kein besserer Dolmetscher fand.)
Ich habe den Text gerade nur überflogen, aber ich habe schon rausgelesen, dass so manche Frage von mit beantwortet wird. Habe mir die Seiten ausgedruckt und werde sie morgen nachmittag mit Genuss lesen :)
Ja, bis auf das Huarochiri-Manuskript wird eigentlich alles von Ihnen Erwähnte noch angesprochen. Dieser Enthusiasmus freut mich schon sehr. :-)
Es macht aber auch wirklich
Freude, Ihr Essay zu lesen.
Und es erinnert mich total an Zeiten in der Jugend, ach hört sich das furchtbar alt an, in denen ich absoluter Fan von den Indianern war, sei es für die aus Nordamerika oder den Inkas im Andengebiet. Es war auch lange ein Traum von mir, einmal in die Anden zu reisen, nicht nur der Menschen wegen auch wegen des Hochgebirgswandern. Aber die dünne Luft und das Klima, nicht meine Sache. Und da kommt nun eine so schöne Arbeit daher und dazu Andean-Music von youtube, damit kann ich mich auch ganz gut zufrieden geben.
http://www.youtube.com/watch?v=clIfpTr21HY&feature=related
@La Tortuga
Ich habe es geahnt, irgendwo bei unseren Bildbänden gibt es etwas von den Anden im Regal und siehe da: fündig geworden. Titel: »Land des Condors – Menschen und Rituale in den Anden« von Heiko Petermann und Fotos von Wolfgang Schüler. Anbei füge ich zwei Links ein, dort finden sie das Einbandbild des erwähnten Buches. Vielleicht kennen Sie es?
Der Fokus dieser Aufnahmen trifft meist archaische Rituale, der Fotograf versucht Menschen aufzunehmen, die in einer übermächtigen, feindlichen Natur versuchen zu überlegen. Sie sind ihm wahrlich gelungen.
petermann-heiko.de/index.php?option=com_content&view=article&id=107&Itemid=109&lang=de
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[Links inaktiv – G. K.]
Liebe lou-salome, schade, nein, ich kenne die Bücher nicht. Am besten kommen Sie einmal vorbei und bringen sie mit, und Sie sehen sich derweil meine Bücher an. Hmm, wir wollten uns doch sowieso in Kangerlussuaq treffen.
... Darf ich eigentlich einmal scheu fragen – es nimmt mich schon lange fürchterlich wunder und es passt irgendwie nie zu einer angesponnenen Diskussion, aber ich kann nicht sterben ohne es zu erfahren – ... sind Sie Rainer Marias langlebige/wiedergeborene/untote Geliebte?! (wenn das nicht indiskret ist?)
Oh, liebe Tortuga,
Sie bringen mich in die Bredouille, ich will auf keinen Fall diese Unklarheit im Raum stehen lassen, denn wenn Sie nicht sterben können, ohne es erfahren zu haben, dann kann ich doch weder weiterhin mein Haupt ruhig zum Schlafen ablegen, noch meinen Alltag so unbedarft bewältigen, aber ich hätte es so gerne für mich behalten.
Hören, nein, eher lesen Sie: Sie haben Sie mein Geheimnis ( fast )gelüftet! 99 Punkte!
Der letzte Punkt? Da ich weder eine untote Geliebte bin, noch eine langlebige oder eine wiedergeborene Lou-Salome, sondern ... . Tja, das wäre der letzte Punkt ;).
Und es würde mich sehr freuen, mal das Buch gen’ Schweiz zu tragen, die Bilder sind wirklich sehr eindrucksvoll! Aber sollten Sie mal im Stuttgarter Ländle sein, einfach melden, dann trinken wir hier n’en heißen Grog!
Lieber Gregor Keuschnig, da Tortuga ihren Blog „lahmgelegt“ hat, muss ich über den Ihrigen antworten, auch wenn es nichts direkt mit Buchbesprechungen zu tun hat. LG
... Jetzt haben Sie es aber noch schlimmer gemacht. :-) Ich verneugiere! Wer weiss, beim Grog vielleicht ... Ich muss es wissen!