Vier Dys­to­pien und ein Rück­blick

Um die­se Bü­cher geht es:

Lau­ra Freu­den­tha­ler: Ar­son

Charles Fer­di­nand Ra­muz: Sturz in die Son­ne

Bov Bjerg: Der Vor­wei­ner

J. O. Mor­gan: Der Ap­pa­rat

Roy Ja­cob­sen: Die Un­wür­di­gen

En dé­tail:

Lau­ra Freu­den­tha­ler: Ar­son

Laura Freudenthaler: Arson

Lau­ra Freu­den­tha­ler: Ar­son

Be­reits beim Bach­mann­preis 2020 zeig­ten sich die Ju­ro­ren von Lau­ra Freu­den­tha­lers Pro­sa­stück Der hei­ße­ste Som­mer be­ein­druckt. Kei­ne ge­rin­ge­ren Re­fe­ren­zen als Mar­len Haus­ho­fer und In­ge­borg Bach­mann wur­den ge­nannt. Den Haupt­preis ge­wann dann die eher kon­ven­tio­nel­le Er­zäh­lung von Hel­ga Schu­bert. Drei Jah­re spä­ter liegt nun mit Ar­son so et­was wie die gan­ze Ge­schich­te, der gan­ze Ro­man, vor. Wo­bei man ein­zel­ne Sze­nen wie­der­erkennt, die je­doch zu­sam­men mit an­de­ren, neu­en Mo­ti­ven, ver­wo­ben wur­den

Da ist zu­nächst die Ich-Er­zäh­le­rin, ei­ne Re­por­te­rin, be­schäf­tigt mit »toxische[n] Al­gen­blü­ten von enor­men Aus­ma­ßen« und dem »Mas­sen­ster­ben von Fi­schen.« Sie scheint am Be­ginn ei­ner De­pres­si­on, kann nicht mehr schrei­ben, ver­misst ih­re Träu­me, hat statt­des­sen Wach-Hal­lu­zi­na­tio­nen, be­spricht sich mit ih­rer Freun­din An­drea, er­hält je­doch kei­ne Hil­fe, spä­ter so­gar Ab­leh­nung. Auch An­drea hat Pro­ble­me. »Lau­ter ver­letz­te Kin­der« heißt es ein­mal eher bei­läu­fig, aber tref­fend.

Sie lernt dann ir­gend­wann Ul­rich ken­nen, ei­nen Wis­sen­schaft­ler. Er be­schäf­tigt sich mit Wald­brän­den »seit er auf der Welt ist«. Es ist ei­ne am­bi­va­len­te Fas­zi­na­ti­on: »Schau­en, wo es brennt, und das Ad­re­na­lin ins Blut brin­gen, um zu at­men.« Und durch das schier un­un­ter­bro­che­ne, ge­bann­te Schau­en auf die über­all flim­mern­de Zei­chen, far­bi­ge Recht­ecke, »die sich in die­sem Maß­stab zu gro­ßen Flä­chen ver­bin­den und gan­ze Ge­gen­den, Land­stri­che, hal­be Kon­ti­nen­te be­decken« und Ta­bel­len mit un­zäh­li­gen Da­ten auf dem Com­pu­ter. Aber Ul­rich ist dar­über der Schlaf ab­han­den ge­kom­men. Er be­sucht ei­ne Schlaf­for­sche­rin. Die Be­geg­nun­gen zwi­schen ihm und der »Kon­sul­tan­tin« sind nicht oh­ne Kon­fron­ta­ti­on; Ul­rich ist ein schwie­ri­ger Pa­ti­ent. »Die Kon­sul­tan­tin ver­wen­det den Be­griff mis­con­cep­ti­on.«

Die Ebe­nen im Ro­man über­la­gern sich zu­se­hends. Hier Ul­rich mit Com­pu­ter und sei­nen Schlaf­ta­blet­ten, in den Fän­gen der von der Kon­sul­tan­tin ok­troy­ier­ten Schlaf-Auf­zeich­nun­gen (es gibt so­gar ei­nen sei­ten­lan­gen Aus­zug). Und dort die rast­lo­se Ich-Er­zäh­le­rin, mehr­mals den Wohn­sitz wech­selnd, zeit­wei­lig im Wald cam­pie­rend. Flir­ren­de Som­mer­hit­ze und zu­neh­men­de Was­ser­knapp­heit. Schließ­lich stürzt die Er­zäh­le­rin zu Bo­den, ver­letzt sich an den Lip­pen. Sie kann nicht mehr spre­chen. Die Schweig­sa­me und der Schlaf­lo­se, aus­ge­lie­fert in ei­ner sich apo­ka­lyp­tisch ver­än­dern­den Welt, die trotz al­ler Tech­nik nicht mehr kon­trol­liert wer­den kann: »Kein Mensch kann all die Mes­sun­gen über­blicken, nicht men­tal, und auch phy­sisch wä­ren sie nicht in ih­rer Ge­samt­heit dar­stell­bar«. Ein­mal lässt Ul­rich in der Nacht »sämt­li­che Drucker im In­sti­tuts­ge­bäu­de lau­fen« Am näch­sten Mor­gen ist das Zim­mer »dick mit Pa­pier be­deckt.«

Ul­rich wird zum an­thro­po­zä­nen Pro­me­theus, dem nicht mehr je­den Tag die nach­wach­sen­de Le­ber her­aus­ge­ris­sen wird, son­dern der schlaf­los, mit Brand­nar­ben am gan­zen Kör­per, vor sei­nem Com­pu­ter sitzt und die öko­lo­gi­sche Ver­nich­tung der Welt zu er­tra­gen hat. Zwar wird als Ur­sa­che Brand­stif­tung aus­ge­macht, aber die Brän­de ge­hen tie­fer als sonst, sie sind un­lösch­bar, der Wald »wird nicht nach­wach­sen, es ist ei­ne ur­alte Land­schaft, die hier un­ter­geht.« Ein un­er­klär­li­ches Phä­no­men. Pas­send da­zu ist die Er­zäh­le­rin zum Schwei­gen ver­dammt. »Ein we­nig kön­nen wir hier­blei­ben, lan­ge wird es nicht hal­ten«, so lau­tet der vor­letz­te Satz.

Lau­ra Freu­den­tha­ler ver­mei­det vie­le aus­ge­lei­er­te Kli­schees, die man häu­fig in Dys­to­pien fin­det. Statt­des­sen wird in ei­ner Mi­schung aus va­ger End­zeit­stim­mung, Krank­heit, De­pres­si­on und My­stik er­zählt, vor­ge­bracht in ru­hi­gem, bis­wei­len som­nam­bul an­mu­ten­den Sound. Der Ro­man ist fast ein ein­zi­ger, mo­no­li­thi­scher Block. Der Le­ser soll nicht auf­schau­en, soll, wie Ul­rich, wach, stets im Bild blei­ben. Es dau­ert ein we­nig, bis sich ein Sog ein­stellt, nicht zu­letzt weil die Er­zähl­po­si­tio­nen zwi­schen Ich-Er­zäh­le­rin und Ul­richs per­so­na­ler Er­zähl­in­stanz häu­fig wech­seln. Ei­ne her­aus­for­dern­de, aber loh­nen­de Lek­tü­re.

Charles Fer­di­nand Ra­muz: Sturz in die Son­ne

C. F. Ramuz: Sturz in die Sonne

C. F. Ra­muz: Sturz in die Son­ne

»Durch ei­nen Un­fall im Gra­vi­ta­ti­ons­sy­stem stürzt die Er­de schnell in die Son­ne zu­rück, strebt ihr ent­ge­gen, um dar­in zu zer­schmel­zen […]. Al­les Le­ben wird en­den. Es wird im­mer hei­ßer wer­den. Die Hit­ze wird un­er­träg­lich sein für al­les Le­ben­de.«

Das ist die Aus­gangs­si­tua­ti­on des Ro­mans Sturz in die Son­ne des schwei­ze­ri­schen Au­tors Charles Fer­di­nand Ra­muz. Man wähnt sich rasch in apo­ka­lyp­ti­sche Pro­gno­sen aus der Ge­gen­wart, aber Ra­muz wur­de 1878 in Lau­sanne ge­bo­ren und der Ro­man erst­mals 1922 in fran­zö­si­scher Spra­che in der Schweiz pu­bli­ziert. Jetzt hat der Lim­mat-Ver­lag die­ses Buch von Ste­ven Wyss neu über­set­zen las­sen – und der Be­trieb hat end­lich sei­nen »Kli­ma­ro­man« als »Neu­ent­deckung«.

Ra­muz ver­or­tet Sturz in die Son­ne in der ro­ma­ni­schen Schweiz, am Lac de Bret in Sa­voy­en. »Man leb­te un­ter der Schön­heit die­ses Him­mels«, heißt es zu Be­ginn die­ses Ab­ge­sangs. Die Nach­rich­ten wer­den zu­nächst von vie­len Be­woh­nern nicht ernst ge­nom­men. Si­cher, es ist seit Ta­gen (oder Wo­chen) un­er­träg­lich heiß und trocken, aber die Mel­dung kommt aus Ame­ri­ka und man weiß ja, »was das be­deu­tet«.

Ste­ven Wyss weist in sei­nem Nach­wort dar­auf hin, dass Ra­muz we­ni­ger von ei­nem Ro­man als von ei­nem »Ge­mäl­de« ge­spro­chen hat­te. Es kom­men un­ter­schied­li­che Stim­men zu Wort; man­che mehr­mals, ei­ni­ge nur kurz, an­de­re län­ger. Der Ton wech­selt vom sach­lich-küh­len Ich-Er­zäh­ler zum pre­di­ger­haft-bi­bli­schen bis zum nüch­ter­nen Be­richt; es fin­den sich Selbst­re­fle­xio­nen, phi­lo­so­phi­sche Über­le­gun­gen oder ein­fach nur Na­tur­er­zäh­lun­gen. Erst nach und nach wird den Be­woh­nern klar, dass sie in­fol­ge ei­nes nicht mehr auf­zu­hal­ten­den Er­eig­nis­ses ster­ben wer­den. In dem po­ly­pho­nen Chor der Stim­men wer­den nun die ein­zel­nen Be­wäl­ti­gungs­me­cha­nis­men er­zählt. Da­bei fällt rasch das, was man Zi­vi­li­sa­ti­on nann­te, zu­sam­men. Es gibt Plün­de­run­gen, Mor­de aber auch Frei­to­de. Über­all ent­ste­hen »Re­pu­bli­ken«, »wie in al­ten Zei­ten, als Dör­fer noch von Mau­ern und Grä­ben um­ge­ben wa­ren.« Ein Ap­fel­bäum­chen pflanzt nie­mand, aber ein al­ter »Korb­er« be­kennt im­mer­hin trot­zig: »Ich wer­de bis zum En­de wei­ter­ma­chen, was auch pas­siert.«

Ste­ven Wyss er­klärt, war­um der Ro­man in ei­ner münd­li­chen Spra­che, mit teil­wei­se fal­scher Gram­ma­tik ge­schrie­ben wur­de: Weil es so im Ori­gi­nal steht und Ra­muz dies so woll­te, um die au­then­ti­sche Sprech­wei­se der Leu­te wie­der­zu­ge­ben. Im­mer­hin ge­noss der Au­tor in sei­ner Zeit li­te­ra­ri­schen Ruhm und wur­de mehr­mals für den Li­te­ra­tur­no­bel­preis vor­ge­schla­gen.

Im Un­ter­schied zu den be­kann­ten Welt­un­ter­gangs-Block­bu­stern gibt es bei Ra­muz, ob­wohl das En­de nicht aus­er­zählt wird, kei­ne Ret­tung. Die Aus­wir­kun­gen der ver­än­der­ten Gra­vi­ta­ti­on – Erd­er­wär­mung, Was­ser­knapp­heit, so­zia­le Ver­wer­fun­gen – kann man par­al­lel zur Kli­ma­kri­se der Ge­gen­wart le­sen. Be­mer­kens­wert, dass Ra­muz auf Sen­sa­ti­ons­ele­men­te und Pa­thos fast voll­kom­men ver­zich­tet. Der Ro­man lässt ei­nem ge­ra­de des­halb lan­ge nicht los.

Bov Bjerg: Der Vor­wei­ner

Bov Bjerg: Der Vorweiner

Bov Bjerg: Der Vor­wei­ner

Ein biss­chen er­in­nert Bov Bjergs Set­ting zu­nächst an Or­wells 1984. Da ist von ei­nem »Rest­eu­ro­pa« die Re­de (ver­mut­lich ist Deutsch­land da­mit ge­meint), »nor­ma­len Men­schen« und der »Nie­der­schicht«. Na­he­zu al­le eu­ro­päi­schen Län­der sind fai­led sta­tes, un­ter­ge­gan­gen in Über­schwem­mun­gen oder Krie­gen. Ent­spre­chend sind die Flücht­lings­wel­len, die in meh­re­ren Ret­tungs­ak­tio­nen von Rest­eu­ro­pa (zu­letzt von »Zor­ro Zau­der­zwerg«) im Zaum ge­hal­ten wer­den sol­len. Wer kann hält sich ei­nen »Vor­wei­ner«, der ein­zig da­zu da ist, sei­nen »Be­sit­zer« nach des­sen Tod an­stän­dig und öf­fent­lich­keits­wirk­sam zu be­trau­ern. Da­für lebt er wie ein Fa­mi­li­en­mit­glied, wird be­kocht und man müht sich um sein Wohl­be­fin­den. Man kocht ihm so­gar sein für an­de­re na­he­zu un­ge­nieß­ba­res Lieb­lings­ge­richt. Der Nach­teil: Sei­ne An­we­sen­heit er­in­nert von nun an stän­dig an den Tod. Und das, ob­wohl der Tod aus dem öf­fent­li­chen Le­ben weit­ge­hend aus­ge­blen­det wur­de. Was sich zu­nächst in ei­nem Kör­per­kult zeigt, der 70jährige durch ent­spre­chen­de Ope­ra­tio­nen ei­nen Kör­per von 20jährigen ver­schafft. Fried­hö­fe sind weit­ge­hend an­ony­mi­siert und Be­er­di­gun­gen wer­den nur noch on­line über­tra­gen und hei­ßen Zer­streu­ungs­fei­er (im dop­pel­ten Sinn). Hier zei­gen die Vor­wei­ner dann ih­re jah­re­lang vor­be­rei­te­te Kunst. Spä­ter wer­den sie dann er­ben.

Vor­wei­ner wer­den aus den Flücht­lin­gen der zer­fal­le­nen Staa­ten re­kru­tiert; Nie­der­schicht­ler kom­men nicht in­fra­ge. Ins­be­son­de­re die ge­schätz­ten Vor­wei­ner aus dem Ge­biet um den Golf von Gui­nea sind knapp und na­he­zu un­be­zahl­bar. Ei­ne der bei­den Haupt­fi­gu­ren, An­na, ei­ne ehe­ma­li­ge Kunst­hi­sto­ri­ke­rin und Ku­ra­to­rin, die nach dem über­ra­schen­den Frei­tod ih­res Man­nes noch ein­mal auf­blüh­te, ist um die 70 und sucht ei­nen Vor­wei­ner. Sie muss nach lan­ger Su­che mit dem Nie­der­län­der Jan Vor­lieb neh­men. (Klei­ner Tipp: Kei­nen Öster­rei­cher neh­men!) Jetzt gibt es für sie noch zwei Wün­sche: Kar­tof­feln ern­ten und da­bei im Sand wüh­len (das Ern­te­re­sul­tat ist dürf­tig) und ein Schwein schlach­ten und nackt in den to­ten, aus­ge­nom­men Kör­per ein­stei­gen, um noch ein­mal neu ge­bo­ren zu wer­den. Das Er­leb­nis ist ir­gend­wie ent­täu­schend, die Re­gres­si­on will sich nicht so recht ein­stel­len. Am En­de wird sie schließ­lich fest­stel­len: »Es gibt kei­ne Er­lö­sung«. Zwi­schen­durch er­wischt An­na ih­ren Vor­wei­ner, wie er am Te­le­fon um sei­ne ver­stor­be­ne Mut­ter trau­ert, und fast ist die Höl­le los.

An­nas Toch­ter, Ber­ta, ei­ne »Klick­beu­te­rin«, Ver­käu­fe­rin frei er­fun­de­ner Mel­dun­gen, die als im­mer­glei­che Poin­te die Schreie trau­ern­der Per­so­nen ha­ben, lebt in Ber­lin und ver­gnügt sich mit ei­nem Piz­za-Bo­ten aus der Nie­der­schicht. Sie ist für sich Ich-Er­zäh­le­rin; An­nas Er­leb­nis­se wer­den von ei­nem all­wis­sen­den Er­zäh­ler über­nom­men, der den Le­ser auch über die Ge­ge­ben­hei­ten die­ses Rest­eu­ro­pa auf­klärt. Die Ka­pi­tel wech­seln zwi­schen den bei­den Haupt­per­so­nen un­re­gel­mä­ßig hin und her.

Bergs Ro­man ist über wei­te­re Strecken mehr Slap­stick und Sa­ti­re als Dys­to­pie. Die ge­sell­schaft­li­chen Aus­wir­kun­gen die­ses Rest­eu­ro­pa wer­den nicht ent­wickelt. War­um al­le Or­te au­ßer Ber­lin den Prä­fix »Neu« tra­gen (»Neu­ham­burg«) muss man sich sel­ber zu­sam­men­rei­men. Ei­ne Iden­ti­fi­ka­ti­on mit An­na und/oder Ber­ta ge­lingt nicht. Ei­ni­ges ist wirk­lich lu­stig, et­wa der Ru­in der Schweiz, weil in den Tre­so­ren die Gold­fäu­le die Re­ser­ven wert­los mach­te, Schloß Neu­schwan­stein als Not­auf­nah­me­la­ger für Flücht­lin­ge, die ex­zes­si­ve Schil­de­rung vom Sex mit dem Piz­za-Kar­ton oder die An­spie­lun­gen auf den Be­trof­fen­heits- und »Gottesaugen«-Journalismus. Erst am En­de ent­wickelt sich aus der Sa­ti­re für ei­ni­ge we­ni­ge Sei­ten ei­ne bit­ter­bö­se Pa­ra­bel auf die ak­tu­el­le Flücht­lings­pro­ble­ma­tik.

J. O. Mor­gan: Der Ap­pa­rat

J. O. Morgan: Der Apparat

J. O. Mor­gan: Der Ap­pa­rat

Auch die Fi­gu­ren im 2022 im Ori­gi­nal er­schie­ne­nen Ro­man Der Ap­pa­rat (im Ori­gi­nal: Ap­pli­ance; deut­sche Über­set­zung von Jan Schön­herr) des 1978 ge­bo­re­nen schot­ti­schen Au­tors J. O. Mor­gan bie­ten dem Le­ser we­nig Iden­ti­fi­ka­ti­ons­po­ten­zi­al. Das ist al­ler­dings be­ab­sich­tigt, denn in den elf Ka­pi­teln wird je­weils über an­de­re Prot­ago­ni­sten er­zählt, die kei­ner­lei Ver­bin­dung mit­ein­an­der ha­ben.

Mor­gans Ap­pa­rat macht das, einst in den Star-Trek-Fol­gen mit ei­ner Mi­schung aus Fas­zi­na­ti­on und Schau­der als »bea­men« be­staunt wur­de. Ob­jek­te oder Per­so­nen konn­ten von ei­nem Ort zum an­de­ren »trans­por­tiert« wer­den, was den Ef­fekt hat­te, dass die Per­so­nen, die »weg­ge­be­amt« wur­den sich vor den Au­gen des Zu­schau­ers auf­lö­sten – um dann we­ni­ge Se­kun­den spä­ter am ge­wünsch­ten Ort zu er­schei­nen. nann­te man das ein biss­chen wis­sen­schaft­li­cher und der Ruf nach Scot­ty, dem Bord­in­ge­nieur, der das Bea­men vor­neh­men muss­te, war le­gen­där.

Was zu­nächst als sper­ri­ger Klotz in der Kü­che ei­nes In­sti­tuts­mit­ar­bei­ters ge­te­stet wur­de, ent­wickelt sich im Fort­gang der Sto­rys in die­sem Buch zu ei­ner im­mer wie­der aufs Neue op­ti­mier­ten, er­folg­rei­chen Tech­nik. Zu­nächst konn­te man nur Ge­gen­stän­de te­le­por­tie­ren (was bei Um­zü­gen prak­tisch war) und es stellt sich ein­mal frei nach Wal­ter Ben­ja­min die Fra­ge, ob ein re­pli­zier­tes Ge­mäl­de am En­de noch iden­tisch mit dem Ge­mäl­de vor der Über­tra­gung ist. Schließ­lich wird man Zeu­ge, wie ein Mann sich zu Test­zwecken den Ap­pa­rat aus­setzt; auch hier ist un­klar, ob es da­nach ei­ne Ver­än­de­rung gab. Spä­ter läuft das Sy­stem an­schei­nend gut. Ei­ni­ge Wün­sche er­fül­len sich nicht. So ist es nicht mög­lich, an Krebs er­krank­te Pa­ti­en­ten oh­ne ih­re Tu­mo­re so­zu­sa­gen ge­heilt zu te­le­por­tie­ren, weil der Ap­pa­rat im­mer al­les trans­for­miert und wie­der »zu­sam­men­setzt«. Die Prä­zi­si­on ist selbst de­nen ein biss­chen un­heim­lich, die in oder an der Her­stel­lung ar­bei­ten, wie ei­ne Jour­na­li­stin fest­stel­len muss, die ei­nen »MrJacks« in der Bar trifft. Er ist sel­ber von der Feh­ler­un­an­fäl­lig­keit über­rascht und ent­wickelt dar­über ei­gen­ar­ti­ge Theo­rien. Es ist ei­nes der in­ter­es­san­te­sten Ka­pi­tel im Buch.

Im­mer mehr setzt sich das Te­le­por­ter-Sy­stem durch, macht Rei­sen über­flüs­sig und wird schließ­lich auch in ei­ner »Home«-Version an­ge­bo­ten, in dem kom­plet­te Woh­nun­gen nebst Klei­dung ent­spre­chend zu­ge­rich­tet und zu ei­ner »tech­ni­schen Ein­heit ver­schmol­zen« wer­den. Ei­ne an­de­re Form des uns be­kann­ten »Smart Home«. Na­tür­lich gibt es ei­ni­ge Per­so­nen, die sich dem Ap­pa­rat und sei­nen Vor­tei­len wi­der­set­zen, aber die kom­men ir­gend­wann ein­fach nicht mehr mit ih­rem Au­to wei­ter, weil die Stra­ßen nicht mehr aus­ge­bes­sert wer­den. Und Flug­hä­fen die­nen nur noch als Kin­der­spiel­plät­ze.

Un­se­re di­gi­ta­le Ge­gen­wart kommt nicht vor. Mor­gan ist ir­gend­wann von den 1980ern di­rekt ab­ge­bo­gen ins Star-Trek-Bea­men. Hier­in liegt durch­aus ein Reiz die­ses Bu­ches. Auch die Form, in­dem man von­ein­an­der un­ab­hän­gi­ge Tex­te den Er­folg des Dings er­zäh­len lässt, ist ge­lun­gen. Ins­ge­samt er­scheint Der Ap­pa­rat als ei­ne Al­le­go­rie über schlei­chen­de Herr­schaft der Tech­kon­zer­ne der di­gi­ta­len In­ter­net­welt. Auch bei Mor­gan hat der Ap­pa­rat-Her­stel­ler ei­ne gro­ße Macht. Als ei­ne Frau ih­re Toch­ter als ver­misst mel­det und dies als ei­nen tech­ni­schen Feh­ler dem Un­ter­neh­men vor­wirft, weiß die­ses, sich zu weh­ren. Tech­ni­sche und phy­si­ka­li­sche De­tails wer­den al­ler­dings nicht er­ör­tert. Und lei­der gibt es auch kei­ne ex­pli­zit po­li­ti­sche Ebe­ne in die­sem Buch. Wer mit »Die« ge­meint ist, bleibt un­klar.

In der letz­ten Ge­schich­te be­ob­ach­ten zwei Wan­de­rer (!) ei­ne zu­fäl­lig an ih­nen vor­bei­flie­gen­de Ra­ke­te mit dem Ziel Mond. Dort will man end­lich an die Aus­beu­tung der Roh­stof­fe ge­hen, die drin­gend not­wen­dig sind, um neue Ap­pa­ra­te zu kon­stru­ie­ren. Die Tech­nik­gläu­big­keit der bei­den ist gran­di­os er­zählt. Am En­de re­den sie sich die Welt zu­recht: »Die müs­sen al­so neue Ma­schi­nen auf dem Mond bau­en, da­mit sie neue Mi­ne­ra­li­en run­ter­schicken kön­nen, um hier un­ten neue Ma­schi­nen zu bau­en, da­mit sie neue Leu­te auf den Mond schicken kön­nen?« Das Fra­ge­zei­chen ist nur rhe­to­risch.

Der Wachs­tums- und Fort­schritts­ge­dan­ke ist al­so das Bin­de­glied zwi­schen Mor­gans Ap­pa­rat und un­se­rem PC. In bei­den Wel­ten steht fest: Ein Zu­rück gibt es nicht. Die­se Es­senz, die ei­nem über den Um­weg der Lek­tü­re deut­lich ge­macht wird, er­scheint ei­nem dann plötz­lich un­heim­lich.

Roy Ja­cob­sen: Die Un­wür­di­gen

Roy Jacobsen: Die Unwürdigen

Roy Ja­cob­sen:
Die Un­wür­di­gen

Nicht im­mer braucht es Dys­to­pien, um den Schrecken in der Welt sicht­bar zu ma­chen. Manch­mal reicht ein Blick in die Ver­gan­gen­heit. So schreibt Ge­or­ges Si­me­non in ei­nem Nach­wort zu sei­nem 1948 erst­mals ver­öf­fent­lich­ten Ro­man Der Schnee ist schmut­zig: »[E]ine Be­sat­zung ist schlim­mer als der Krieg selbst, weil sie viel mehr Schmutz auf­wir­belt, weil sie Miss­trau­en und Hass er­zeugt, de­ren Stem­pel dem Volk für lan­ge Zeit auf­ge­drückt ist.« Si­me­nons Ro­man ist in ei­nem nicht nä­her be­stimm­ten Land an­ge­sie­delt; die An­klän­ge an die deut­schen Be­sat­zer Bel­gi­ens wäh­rend zwei­er Welt­krie­ge sind deut­lich. Auch Die Un­wür­di­gen des nor­we­gi­schen Schrift­stel­lers Roy Ja­cob­sen spielt haupt­säch­lich wäh­rend der deut­schen Be­sat­zung Nor­we­gens von April 1940 bis Mai 1945 (Über­set­zung: Ga­brie­le Haefs und An­dre­as Brun­ster­mann).

Im Zen­trum ste­hen Olav, Carl und Roar und ih­re Fa­mi­li­en, die in ei­nem Ar­bei­ter­vier­tel in Os­lo le­ben. Sie sind zu Be­ginn 15 oder 16 und bes­sern die spär­li­chen Ein­kom­men ih­rer El­tern durch Dieb­stäh­le und Ein­brü­che in leer­ste­hen­den Vil­len auf. Da­bei kommt der Schul­be­such oft ge­nug zu kurz. Olav, der un­aus­ge­spro­che­ne An­füh­rer, hat zwei Ge­set­ze: »Zei­ge nie, was du denkst, be­son­ders nicht Frem­den.« Und man soll, wenn man zu lü­gen an­ge­fan­gen hat, es »or­dent­lich« ma­chen. Die Drei ist wort­karg und schroff; man zeigt häu­fig of­fe­ne Ver­ach­tung. Carl »zog es vor, an­de­re zu be­dro­hen, wenn er et­was von ih­nen woll­te«. Er ist es, der sich an sei­nem Va­ter ab­ar­bei­tet, ihn der Feig­heit be­zich­tigt. Das wird er spä­ter re­vi­die­ren müs­sen. Es gibt noch ein­mal ei­nen fast un­be­schwer­ten Som­mer, aber da­nach ge­rät die Cli­que im­mer mehr in den Stru­del zwi­schen Heh­lern, Spit­zeln, Will­kür der Be­sat­zer und schein­ba­rer An­pas­sung, in dem ei­ni­ge für die Deut­schen ar­bei­ten, aber nur, um dem Wi­der­stand In­for­ma­tio­nen zu ge­ben. Olavs Va­ter, der »Eh­ren­mann des All­tags«, ver­schwin­det ei­nes Ta­ges spur­los. Die Ju­gend­li­chen wer­den, wie es ein­mal heißt, zu schnell er­wach­sen. Hier gibt es kei­ne aben­teu­er­li­che Käst­ner-De­tek­ti­ve- oder Vor­stadt­kro­ko­di­le-Welt, hier geht es um das blan­ke Über­le­ben. Nicht al­le wer­den dies schaf­fen. Das En­de des Krie­ges bringt nur sehr lang­sam Ent­span­nung; zu vie­le Kol­la­bo­ra­teu­re sind da­von­ge­kom­men. Schließ­lich gibt ge­gen En­de des Ro­mans noch ei­nen bru­ta­len Akt von Ra­che und Selbst­ju­stiz.

Roy Ja­cob­sen be­müht ei­nen weit­ge­hend chro­no­lo­gisch be­rich­ten­den, all­wis­sen­den, manch­mal et­was im Mär­chen­ton agie­ren­den Er­zäh­ler. Ei­ni­ges wirkt, als ha­be er ei­ne Ver­fil­mung an­vi­siert. Manch­mal wünscht man sich, dass Olav, Carl und Roar Hel­den von Knut Ham­sun ge­we­sen wä­ren (Carl legt ein­mal ei­nen ge­fälsch­ten Aus­weis mit dem Nach­na­men »Pe­der­sen« vor). Ir­gend­wann woll­te Ja­cob­sen dann ein­fach zu viel Zeit­ko­lo­rit lie­fern. Da­bei ist ihm der Sprung der ver­blie­be­nen Prot­ago­ni­sten in die Ge­gen­wart der 2020er Jah­re über­haupt nicht ge­lun­gen. Trotz der an­ge­spro­che­nen Selbst­ju­stiz-Sze­ne könn­te man sich Die Un­wür­di­gen al­ler­dings gut als Schul­lek­tü­re vor­stel­len.