Er wisse nicht, sagte ein Freund vor etlichen Jahren in einer Diskussion über den Nationalsozialismus, was er damals für ein Schwein gewesen wäre: Seine Worte fielen mir in den vergangenen Tagen rund um die Diskussionen über den Akademikerball der FPÖ, die damit verbundenen Demonstrationen und gewalttätigen Ausschreitungen wieder ein: Es blieb das einzige Mal bislang, dass sich jemand in meinem Beisein oder auch öffentlich nicht nur derart radikal, sondern überhaupt selbst das Misstrauen ausgesprochen hatte: Noch immer nötigt mir dieser Satz eine Menge Respekt ab und ich hätte ihn in der Vergangenheit nicht auszusprechen vermocht: Heute hingegen erscheint es mir beinahe billig ihn nachzusprechen, obwohl es das, so es ernst gemeint und mit Nachdruck geschieht, keineswegs ist.
Die, in der Tradition der Aufklärung stehende, Reflexivwerdung des Subjekts, seines Handelns und Denkens, ist neben der Kritik als solcher, ein unverzichtbares Element zur Wahrnehmung autoritärer oder totalitärer Spuren: Erst das Wissen um die eigene Anfälligkeit und damit: Fehlbarkeit verhindert, im Kontrast, mitunter einem Ideal gegenüber, dass man sich (unbemerkt), trotz (womöglich) bester Absichten, demjenigen nähert, das man eigentlich ablehnt oder zu verhindern trachtet: Die Reflexivwerdung bedeutet eine zumindest formale Disposition der eigenen Ansichten und Grundsätze, und ist damit der Grundbedingung jedes ernst gemeinten Diskurses nicht unähnlich.
Autoritäre und totalitäre Systeme verdanken ihre Existenz und ihre Ausbreitung auch diesem fehlenden Misstrauen und selbst im öffentlichen Diskurs unserer Demokratien lassen sich Spuren genug finden, vor allem dann, wenn es um Hoheit und Aufmerksamkeit geht oder den (vermeintlichen) Sieg über den politischen Gegner. Dabei sollte dem Argument eigentlich die größere Rolle und der Überzeugung, der Moral und der Gesinnung eine – bestenfalls – kleine, der zeitlichen Reihe nach gesehen, zukommen: Dies vor allem weil Argumente nachvollziehbar und prüfbar sind, und unabhängig Personen oder Autoritäten gegenüber, ja mehr noch: Legitimität nach außen hin erlangt man in öffentlichen Angelegenheiten nur durch Offenheit (formale Angreifbarkeit) und Nachvollziehbarkeit (Solidität) einer Argumentation1 : Alles andere ergibt sich im Ergebnis daraus und nicht umgekehrt.
In den Diskussionen der vergangenen Tage stellte sich die Frage nach der Gewalt als ein Mittel der Politik einerseits, aber auch ganz grundsätzlich andererseits: Bei den Bürgern und in den Medien, bei Beteiligten und Unbeteiligten, manchmal rhetorisch, um die Proteste insgesamt zu diskreditieren, und aus der Situation Kapital zu schlagen, vor allem aber weil man seit einigen Jahren derartige Dimensionen nicht mehr erlebt hat2. Manche Wortmeldungen waren eindeutig und verneinend, andere zauderten, mäanderten und untergruben, rhetorisch nicht ungeschickt, eben jene Basis des öffentlichen Diskurses. — In ihrer grundsätzlichen Struktur und Absicht sind sie wohl der hauptsächliche Grund warum mir die Selbstzuschreibung »Antifaschismus« immer fremd geblieben ist, wie ein Versprechen, das nicht zu halten im Stande ist, was es zu sein vorgibt3.
Der Bundessprecher der Jungen Grünen, Cengiz Kulac, verwies in einer Art Replik an die Kritiker einer für die Proteste zur Verfügung gestellten Homepage und einer damit im Zusammenhang stehenden unklaren Abgrenzung vom gewalttätigen Teil der Demonstranten darauf, dass man am Holocaustgedenktag etwas anderes tun sollte, als den Antifaschismus zu kriminalisieren: Hier finden gleich zwei Scheinargumente Anwendung: Zuerst ein Strohmannargument und dann ein autoritärer Verweis auf eine nicht zu hinterfragende Gegebenheit (den Holocaustgedenktag). Ähnliches tun Fundamentalisten, wenn sie als Rechtfertigung auf die Bibel oder den Koran verweisen (dort steht geschrieben, daher...). Janine Wulz, vormals Vorsitzende der österreichischen Hochschülerschaft, »argumentierte« ganz ähnlich: Es sei »extrem problematisch«, dass die Jungen Grünen in ein kriminelles Eck gedrängt würden und man der FPÖ in die Hände spiele. Wieder wird ein Strohmann gebaut und auf mildernde Umstände (»den Bösen«) als Rechtfertigung verwiesen (entkräftet wird die Kritik freilich nicht, bloß verhüllt). Analog bezeichnet sie die Vorwürfe an anderer Stelle als »total absurd, sie sollen dazu dienen, den Diskurs gegen Antifaschismus weiter anzufeuern« (immerhin gelingt es ihr die gewaltbereiten Demonstranten als Schwachköpfe zu bezeichnen).
Julia Spacil, Sachbearbeiterin im ÖH-Referat für antifaschistische Gesellschaftskritik, antwortet auf die Frage ob sie sich von Gewalt distanziere: »Selbstverständlich bin ich für eine Gesellschaft ohne Gewalt, worunter ich auch strukturelle verstehe. Dafür setze ich mich ein. Diese unsägliche Gewaltdebatte und die ständige Aufforderung, sich zu distanzieren, führen aber zur Spaltung des antifaschistischen Protests in gute und böse Demonstrantinnen. Sich auf Zuruf der FPÖ zu distanzieren lässt sich auf ihre Strategie ein, vom Ball als Treffen der extremen Rechten abzulenken. Ich habe den Demonstrationszug von der Universität Wien aus begleitet, dessen Aktionskonsens klar ist: Von der Offensive gegen Rechts wird keine Eskalation ausgehen. Das ist eine politische Entscheidung, hinter der ich mich wiederfinden kann.« Als (teilweise) Entschuldung wird durch den Begriff der strukturellen Gewalt auf die Gesellschaft verwiesen; der Antifaschismus wird, als »sakrosankt« ausgewiesen, er darf unter keinen Umständen gespalten werden (wiederum ein Strohmann); das Böse wird benannt und damit die moralischen Gebote und Zugehörigkeiten; eine Reflexion von Fehlern der unterschiedlichen Gruppierungen oder des Ganzen wird, obwohl man sich als solches versteht, verweigert, Begründung bleiben außen vor. Eine nahezu idente Strategie verfolgte Natascha Strobl (Offensive gegen Rechts) in der Diskussionsrunde »Im Zentrum»4.
All diese Strategien sind keine Spezialität des Antifaschismus’, sie haben fast überall Eingang in den öffentlichen Diskurs gefunden: Ganz in diesem Sinn sind die üblichen Distanzierungsspielchen, die (oft unterstellend) eine bestimmtes Gesinnungsbekenntnis fordern und eine Einordnung in ein Gut-Böse-Schema ermöglichen, ein Entweder-oder, das in der Realität oft gar nicht existiert. — Vielleicht sind manche der Protagonisten des öffentlichen Lebens schon zu weit in diesem System gefangen und bemerken nicht mehr worauf es ankommt: Es spricht Bände über die kritischen Garanten unserer Demokratie, Journalisten, die zwar bei jeder Gelegenheit Einschränkungen der Pressefreiheit bejammern, aber diese rhetorischen Strategien nicht dechiffrieren.
ein Mindestmaß an Genauigkeit darf selbstverständlich auch nicht fehlen ↩
die sich vermutlich in anderen Ländern, auch Deutschland, dramatischer ausnehmen ↩
jedenfalls im Gewicht der öffentlichen Aussagen, gewiss wird die Allgemeinheit dieser Feststellung nicht allen Nuancen gerecht ↩
alle angesprochenen Personen waren meines Wissens nicht an gewalttätigen Akten beteiligt, es geht hier nur um die Äußerungen und Argumente die in der Öffentlichkeit vorgebracht werden ↩
Ich kenne mich jetzt nicht so gut in Österreich aus, aber hätte es von dem »Akademikerball« auch nur ansatzweise einen solch großen medialen Hype gegeben, wenn die Proteste nicht derart vehement gewesen wären? Diese Frage stellt sich mir auch, wenn in irgendwelchen deutschen Städten 40 oder 50 Neonazis demonstrierend herumlaufen und von der Polizei eskortiert werden, weil es vielleicht die 10- oder 20fache Menge von Gegendemonstranten gibt. Dann braucht nur ein Funke überzuspringen – und die an sich lächerliche Neonazi-Demo wird überregional in den Medien gespiegelt.
Eine schwierige Sache, denn andererseits ist der Spruch, den Anfängen zu wehren, durchaus relevant. Und man möchte ja auch vielleicht nicht unbedingt vor seiner Haustür eine solche Demonstration haben. Zu bedenken ist aber: Rechtsradikale Gruppierungen brauchen Öffentlichkeit, um sich dort darstellen zu können. Sie erhalten diese Öffentlichkeit in der Regel nicht in »normalen« Medien; ihre Vertreter sitzen sich nicht Talkshows, werden nicht zu relevanten gesellschaftlichen Themen befragt. Sie müssen also, um sich eine gewisse Präsenz zu sichern, Affekte erzeugen. Dies gelingt am besten mit Aktionen, die dann in den Medien berichtet werden. Im Landtagswahlkampf von Nordrhein-Westfalen 2012 hat die rechtsextremistische Partei »ProNRW« durch spektakuläre Aktionen medial einen Coup gelandet: Die anschließenden Ausschreitungen und Straßenkämpfe mit salafistischen Extremisten, die durch das Zeigen der Mohammed-Karikaturen ihre religiösen Gefühle verletzt sahen, führte immerhin dazu, dass die Partei sich als Hüterin der Meinungsfreiheit gerieren konnte. Hätte es die Ausschreitungen als Reaktionen auf die Provokation der »ProNRW«-Partei nicht gegeben, wäre es nicht zur (über)regionalen Aufmerksamkeit gekommen. Genutzt hat es übrigens nichts: Bei den Wahlen bekam man 1,5%, drei Jahre vorher 1,4%.
Das Beispiel soll zeigen, wie schwierig der Sachverhalt sein kann, wenn es keine eindeutigen Zuweisungen von Gut und Böse gibt. Beim »Antifaschismus« ist das ja eher anders: Gut und Böse sind klar geordnet und unter gewissen Umständen gilt Gewalt als eine Art Tugend; in den 1970er Jahren diskutierte man über einen Unterschied von Gewalt gegen Menschen oder gegen Sachen.
Die Distanzierungsspielchen sind daher tatsächlich wirklich eher lächerlich. Die Frage abzutun mit der Bemerkung dass damit der Diskurs gegen den Antifaschismus »angefeuert« würde, ist natürlich nur eine rhetorische Volte. Übrigens genau so, als stelle man die Polizei als Verteidiger von Faschisten dar. Wortgeklingel.
Um vom »Akademikerball« ein bisschen wegzukommen: Von außen vernehme ich eine extreme Furcht bei der österreichischen Linken, dass die FPÖ spätestens bei der nächsten Wahl nicht nur in der Regierung sitzt, sondern sogar den Kanzler stellen könnte. Es ist für mich ja lange schon ein Alarmsignal, dass die sogenannte »Große Koalition« nur noch ganz knapp die Mehrheit stellt – was sich dann ja im vergangenen Jahr erschreckend zeigte. Die Spaltung innerhalb der rechten Partien in Österreich scheint sozusagen entschieden zu sein; das BZÖ ist marginalisiert und deren Anhänger werden zur FPÖ gehen. Der Milliardär Stronach wird bei der nächsten Wahl auch keine Rolle mehr spielen (ich hatte neulich eine Interview-Sendung mit Stronach gehört: erschreckend, was da kam, nämlich rein gar nichts, nur Kaffeehausparolen und Schmäh).
Die Furcht vor der FPÖ als demnächst stärkster politischen Kraft dürfte meiner Meinung nach real sein (trotz vernichtender Niederlage in Kärnten). Das zeigt aber auch, dass die diskursive Auseinandersetzung mit den Thesen und Programmpunkten der FPÖ schon jetzt praktisch als gescheitert betrachtet wird.
Ich habe noch einen Link zur Geschichte des Balls in den Text eingefügt, was ich vorhatte, dann aber vergessen habe. Der Ball wurde bis vor wenigen Jahren vom Wiener Korporationsring (WKR; eine übergeordnete Organisation diverser nationaler Studentenverbindungen, nicht nur, aber Großteils Burschenschaften) veranstaltet, bis die Betreibergesellschaft, die für die Vermietung der Räumlichkeiten in der Hofburg verantwortlich ist, den Vertrag nicht mehr verlängert hat; die FPÖ sprang als Veranstalter ein und der Ball heißt nun Akademikerball. Man hat den Ball als rechtsextremes Vernetzungstreffen bezeichnet (z.B. hat Marine Le Pen den Ball 2013 besucht); heuer kann man mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass kein prominenter rechter Politiker aus dem Ausland zugegen war (jedenfalls nach der Berichterstattung und den Angaben der Veranstalter). Die Hofburg ist natürlich eine repräsentative Adresse, die benutzten Räumlichkeiten zählen jedoch nicht zu den offiziellen. Lange Zeit hat der Ball niemanden interessiert (der Fokus lag auf dem Opernball). Manche wollen den Ball an einem anderen Ort haben, andere ihn zu Gänze verhindern. Der Rechtsstaat sichert allen (unbescholtenen) Bürgern Versammlungsfreiheit zu, ein hohes, zu achtendes Gut. Das wäre in Kürze die Lage der Dinge. Hinzu kommt auch, dass ein gemeinsamer Gegner, das uneinheitliche (zersplitterte) politisch linke Lager zumindest kurzfristig einigt. Dass der Ball zumindest seitdem ihn die FPÖ veranstaltet auch eine politische Dimension hat, ist nicht von der Hand zu weisen.
Wie Du schon schreibst: Kaum jemand würde den Ball beachten, gäbe es den medialen Hype nicht (ich stimme Deinen Ausführungen zu); was man vor der Haustüre (oder in der Hofburg) haben möchte in Ehren, aber in einer Demokratie gibt der Rechtsstaat den Rahmen vor (so sehr es auch ärgern mag) — Proteste und Demonstration sind natürlich genauso legitim.
Mit dem Tod von Jörg Haider war die Spaltung im Prinzip erledigt, seine Nachfolger verfügten bei weitem nicht über sein politische Talent. Insofern verwundert die Stärke der FPÖ. Oder man erklärt sie als Schwäche der anderen: Die Arbeiter laufen längst in Scharen zu den Blauen über, ein Rezept hat die SPÖ noch nicht gefunden; etliche Konservative können mit der ÖVP nichts mehr anfangen und wählen in der Not auch Blau (die ÖVP schwächelt in den Städten, ist keine klassisch konservative Partei mehr, hat aber keine »moderne Form des Konservatismus« gefunden, an der Spitze sieht es auch nicht rosig aus und die Partei ist heterogen [konservativ, liberal, Wirtschaft, Bauern, Arbeitnehmer] und eher dezentriert.)
Was fehlt ist aber eine politische Antwort jenseits der Phrasen: Haider trat gegen die große Koalition auf, Strache braucht bloß keine Fehler zu machen. Das zeigt aber auch, dass die diskursive Auseinandersetzung mit den Thesen und Programmpunkten der FPÖ schon jetzt praktisch als gescheitert betrachtet wird. Sie ist zu wenig versucht worden, bzw. hat man den Schwerpunkt auf anderes verlagert; und man scheint nicht zu verstehen, dass die Wählerschaft der FPÖ nicht homogen ist (meiner Einschätzung nach).
Wer Stronachs Engagement vom Fußall her kannte, wusste was kommen würde (mittlerweile hat er sich zurückgezogen). Aber: Er und die Neos zeigen, dass das Bedürfnis nach etwas Neuem vorhanden ist (tot ist das politische Interesse noch nicht).
Pingback: Vom Misstrauen sich selbst gegenüber. Anmerkungen zum Antifaschismus. | Makulatur
Die Große Koalition als Regelregierung hat vermutlich einen Mehltau erzeugt, der das politische Interesse in alle möglichen Richtungen streut: FPÖ, Stronach aber eben auch Neos – von rechtsaußen bis libertär ist alles vertreten. Das ist im Prinzip nicht schlecht. Kärnten hat ja auch gezeigt, dass die FPÖ durchaus auch wieder Wahlen verliert, wenn erst einmal der Protestbonus aufgebraucht ist und der schnöde politische Alltag einzieht.
Ein großer Fehler wäre es bei künftigen Wahlen die FPÖ und vor allem ihre Wähler per se zu dämoniseren statt die Programmatik der Partei auseinanderzupflücken. Neulich habe ich gehört, wie es dem Front National in Frankreich gelingt, sich als außerhalb des Systems stehend zu gerieren und aus dieser Position heraus pauschal die Systemparteien anzugreifen. Das ist natürlich absurd, weil der FN in Frankreich seit langem Teil des »Systems« ist, das er eigentlich angreift. Er wird damit aber zur Alternative – und zwar längst nicht mehr für Dumpfbacken und Ewiggestrige.
Kärnten ist insofern ein gutes Beispiel, weil nicht ein moralisches Verdikt, sondern schlicht ein politisches Fiasko in Rechnung gestellt wurde.
Das moralische Verdikt hat auch noch andere Effekte: Es bindet die Wähler stärker an die Partei (die haben sich aus welchen Gründen auch immer entschieden), werden aber dämonisiert es entsteht mitunter eine »jetzt erst recht Haltung« (bei Umfragen schneidet die FPÖ meist schlechter ab, als bei Wahlen, weil sich ein Teil der Wähler nicht deklariert). Man kann davon ausgehen, dass in politischen Diskussionen, privat oder halböffentlich (der nicht unbedingt zu Recht berüchtigte Stammtisch), bestimmte Themen und Parteien eher gemieden werden, was dazu führt, das keine Argumente ausgetauscht oder keine Programm zerpflückt werden, wie du schreibst (man schweigt und in der Wahlzelle macht man sein Kreuz ohnehin dort wo man es will). — Keine wünschenswerte Entwicklung, aber sie bezeugt eine gewisse Hilflosigkeit.
Warum gibt es bei euch eigentlich keine entsprechende Partei? Haben CDU/CSU diese (potenziellen) Wähler aufgefangen? Liegt es an den Entwicklungen oder Mentalitäten der Nachkriegszeit?
Dass es in Deutschland keine Partei wie FPÖ oder den FN gibt, hat m. E. drei Ursachen: Zum einen die von Dir angesprochenen Entwicklungen der Nachkriegszeit, die Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen. Dann, etwas was womöglich wenig genannt wird, die sozial-liberale Koalition, die 1969 begann und der es gelang, die linke außerparlamentarische Opposition zu großen Teilen in die SPD und damit in den politischen Prozess einzubinden. Die FDP entsorgte gleichzeitig ihre rechten Mitglieder, die in der CDU/CSU ihre neue politische Heimat fanden. Somit entstand eine sehr große Polarisierung auch innerhalb der Bevölkerung. Strauß’ Diktum, rechts von der CSU dürfe es keine Partei geben, hat ja sehr lange geklappt: Für die, wie es heute heißt, rechts- bzw. nationalkonservativen Mitglieder gab es durchaus Einfluss über bestimmte Personen. Man fand sich wieder. In der CDU hatten diese Leute aber nie mehr als nur Feigenblattfunktionen; Kohl konnte mit ihnen nichts anfangen, brauchte sie aber bei den Wahlen.
Ende der 80er brachten die »Republikaner« dieses Gleichgewicht ein bisschen durcheinander. Sie und alle anderen Parteien, die rechtspopulistisch agitierten (die Hamburger »Schill«-Partei bspw. oder auch die eindeutig rechtsextremistische DVU) konnten auf Landesebene ab und an reüssieren, zerlegten sich aber schnell selber und waren damit für ihre Wähler unattraktiv.
Konkret gibt es in Deutschland die sogenannte »Allianz für Deutschland«, AfD, die mit euro(pa)-skeptischen Thesen Wahlkampf macht. Erstaunlich war ja, dass sie bei der Bundestagswahl 4,7% erreichten und damit nur knapp unter der 5%-Hürde blieben. Bei der Europawahl dürfte das womöglich anders aussehen.
Wenn ich von österreichischer Politik höre, komme ich mir immer so Ignoranz vor – aber ich interessiere mich auch eher für Kürbiskernöl.
Den Betrachtungen kann ich, in ihren Bemühungen um Genauigkeit und Klarheit, gut nachfühlen – zumindest versuche ich es auch für die wenigen Dinge der Wirklichkeit die ich mir noch mit der Spatelspitze zuführe
Die Allianz für Deutschland (AfD) ist eine echte ALTERNATIVE!!
Spaß beiseite, ich wollte nur Gregor korrigieren, denn die AfD nennt sich tatsächlich: Alternative für Deutschland.
Leider habe ich die Entwicklung der FPÖ nicht verfolgt, ich hielt es für eine lokale Erscheinung. Inzwischen sehe ich ganz Europa auf der »Fahrt ins Blaue«. Ich bin sehr überrascht darüber. Sogar Schadenfreude kommt glgl. auf: jahrzehntelang hat in D. die Geschichtspädagogik die Zukunft vor der Vergangenheit beschützt, und siehe da, es war kein Irrtum. Irgendwann schwingt das Pendel zurück. Geniale Seher, diese Anti-Faschisten...
@Gregor
Bei uns wird in diesem Zusammenhang auch auf die Zuschreibung, dass Österreich erstes Opfer Hitlers gewesen sei, hingewiesen, die dann zur verspäteten Thematisierung der Täterschaft vieler Österreicher geführt hat (m.E. muss es da aber noch andere Gründe geben; zunächst war die FPÖ ja eine liberale Partei).
@phorky
Österreichische Politik ist (meist) provinziell, insofern kann ich die Ignoranz durchaus nachvollziehen.
@die_kalte_Sophie
Die FPÖ war in Österreich nie ein regionales Phänomen und europaweit sind vergleichbare Parteien auch nicht unbedingt neu, lediglich deren Anzahl ... der Rückschlag des Pendels (ich halte die Metapher für nicht ganz korrekt) ist m.E. zu einem Gutteil politisch verschuldet; zu einem weiteren sind die abwägenden, vernünftigen Stimmen zu wenig zu hören (Europapolitik etwa, besteht fast nur aus »dagegen« oder »dafür«; ein »Sowohl-als-auch« wäre wichtiger).
Kurzer Einwurf vom »provinziellen« (weil ich das eigentlich nicht mehr hören kann): Wenn man immer weiter ins Detail geht, wird schnell alles provinziell. Ob New York oder Kärnten, ob Shanghai oder Bremen. Es ist ja gerade das »Globale«, das »Kosmopolitische«, was die Leute eher verschreckt und in den Provinzialismus zurücklockt. (Neulich erzählte mir jemand, der in New York war sinngemäss: NY sind nicht die USA. Ich glaube, dass das stimmt.)
@Gregor
Das Wort ist abgegriffen, stimmt, aber es passt dennoch gut (ins Detail muss man da gar nicht gehen). Es kann natürlich sein, dass mein Eindruck falsch ist, aber jeder eurer Ministerpräsidenten erscheint mir kompetenter als unser Bundeskanzler (es hängt wohl auch damit zusammen, dass Deutschland ein anderes Gewicht hat, in Europa und der Welt, wirtschaftlich und politisch).
Der Kosmopolitismus ist m.E. nur die andere Seite derselben Medaille (aber es stimmt freilich, dass vereinheitlichende Tendenzen, Moden, Entwicklungen, etc., eine [Rück]besinnung zu anderen Identitäten hin, befördern — es entsteht die Angst »unterzugehen«).
jeder eurer Ministerpräsidenten erscheint mir kompetenter als unser Bundeskanzler
Das glaube ich nicht. Ministerpräsident in D ist eine Tätigkeit, die sehr oft als Sprungbrett in die Bundespolitik benutzt wird. Eine Art Trainingslager sozusagen. Faymann war das nicht – meines Wissens. Merkel übrigens auch nicht; aber Schröder, Kohl und Brandt. Nicht unterschätzen darf man auch die Zuarbeiter, die oft im Verborgenen agieren.
Bei Kommentar #8 kann ich mich anschließen:
ich habe das auch lange Zeit gar nicht gemerkt, was sie herausstreichen: eine engagierte Politik aus der Mitte, aus einem (evtl. unrepräsentierten) bürgerlichen Zentrum fand gar nicht mehr statt. Dazu reicht es nicht, Zivilität und Geschichtsbewusstsein zu feierlicher Stunde aufzutragen, ein politischer Wille kann sich nur in aktuellen Aktiva manifestieren.
Wir haben uns alle ein bisschen einlullen lassen, vermute ich. Jedenfalls ist ein vager politischer Wille historisch wohl zum Scheitern verurteilt. Das können wir zur Stunde lernen. Ich wusste das nicht, ich habe wie alle den »Prozess« sehr passivisch gedeutet. Europa und sein Werden-Lassen!
Das ist hübsch in die Hose gegangen.
@die_kalte_Sophie
Add to myself.
Habe gerade eine Klasse Replik auf Biller gelesen, das müsst ihr Euch reinziehen:
Danke für den Link. Aber ich habe mir eigentlich vorgenommen weder Biller noch die Repliken auf ihn zu lesen. Ob ich das bei vielleicht irgendwann erhöhtem Alkoholkonsum kurzfristig revidiere, bleibt offen. Hier noch eine Replik von Wittstock..
...und im Perlentaucher, aber die Thereads überschneiden sich wohl..
@ Gregor
Danke sehr, versteh ich gut. Kann man nur mit vorgehaltener Hand drüber reden, sonst denkt Biller noch, dass wir ihn ernst nehmen. Das wäre nicht gut für ihn. ;-)
Anja Seeliger ist ein kluges Mädchen, die sieht das komplett richtig.
Ich sag mal so: die Auswahl der Autoren ist wohl klassen/milieu-konform, aber die Krise ist landestypisch. Ich vermag das eine nicht mit dem anderen in Verbindung zu bringen. Die Subsumption »Kapitalismus« und der versteckte Vorwurf an die mediokren Nutznießer ist einfach nur schwach. Die Krise ist selbstredend gesellschaftlichen Ursprungs, aber schwer zu diagnostizieren. Ich hab mir Jahre lang den Kopf zerbrochen und nur Teilergebnisse errungen.
@die_kalte_Sophie
Wir sind im komplett falschen Thread (ich glaube, ich beame ab #13 die Kommentare irgendwann hier hin), aber noch zwei kurze Bemerkungen: Zum einen glaube ich nicht, dass die deutschsprachige Literatur in der Krise ist, zumindest nicht mehr als vielleicht die britische, spanische oder italienische. Dass es Deutschland im Verhältnis zur Bevölkerung weniger arrivierte Schriftsteller gibt wie bspw. in Österreich oder der Schweiz – das wäre eine interessante Ursachensuche wert!
@ Gregor
Erlaubnis zum Beamen erteilt, war mir schon bewusst.
»Landestypisch« sollte keine überhebliche Note sein, ich bin mir sicher, dass es trifftige Vergleich gibt. Aber die sorgfältige Verbergung von Schwächen, sei es im literarisch-produktiven Sektor oder anderswo, kommt mir schon sehr »funktionärs-typisch« vor.
Ich seit ein paar Tagen eine neue Hypothese für den Gleichmut ggü der Mittelmäßigkeit, und die ist nicht kritisch zu verstehen. Jede Generation der Literaten setzt sich natürlich umfassend mit den gesellsch. Bedingungen auseinander, aber die gesellsch. Veränderungen sind inzwischen so schnell, dass es keine Resonanz bzw. Mehrwert-Effekte von Generation zu Generation gibt. Alle 20 Jahre muss man von vorne anfangen, und das schränkt die Chancen auf einen größeren Erfolg sehr viel stärker ein, als die verlängerte Lebenszeit kompensieren könnte. Eine differenzielle These, wie man merkt!