Anfang der 90er Jahre beobachtete der Schriftsteller Bodo Morshäuser einen Prozess gegen vier junge Männer, die eine Frau bestalisch ermordet hatten und mindestens teilweise dem rechten Milieu zugeordnet wurden. Morshäuser fuhr nach Kellinghusen, traf auf Skinheads, Xenophobe und sozial gescheiterte Existenzen. Er fand im Verfassungsschutzbericht von 1986 einen Hinweis auf den Ort. Es gab / gibt eine Neonazi-Szene. 1987 kam es zu einem Treffen in Kellinghusen, zu dem die rechtsradikale »FAP« aufgerufen hatte. (Die »FAP« wurde 1995 vom Bundesverfassungsgericht verboten.) Morshäuser berichtet von einer Polizeieskorte für die Rechtsradikalen und spärlichen Gegendemonstrationen.
Interessant ist die in solchen Fällen zu beobachtende Dichotomie, die als repräsentativ bis zum heutigen Tag angesehen werden kann. Morshäuser macht im Diskurs um Rechtsextremismus Verharmloser und Übertreiber aus. Beide Seiten treiben ihr idiotisches Meinungsspiel, das eher ein Vorurteilsrecycling ist. Jeder will sich vor dem Problem und vor der Gegenseite ins Recht sowie die Gegenseite ins Unrecht setzen. Handlungsimpuls ist nicht, das Problem zu lösen, also erst mal zu benennen – was schon schwierig ist, weil Teil des Problems sofort auch die sind, die mit diesen verfluchten zwei Meinungen aufkreuzen, jener Scheindifferenz, die sie für die Differenz halten.
Im konkreten Fall rubrizierte Morshäuser Polizei und Politik in die Gruppe der Verharmloser. Sie hatten falsche gute Gründe, über die rechtsextreme Erneuerung zu schweigen.. Die Übertreiber agierten rhetorisch überzogen, nennen den faschistisch, der nur dabei ist, Tabuzonen zu entdecken (und auf eine stößt). Die Verharmloser meinen, man könne die Gefahr herbeireden. Die Übertreiber sagen, man könne die Gefahr herbeischweigen.
Bodo Morshäusers Essay »Hauptsache Deutsch«, dem diese Zitate entnommen sind, ist von 1992. Erstaunlich, wie die aktuellen Geschehnisse rund um die sogenannte »Zwickauer Neonazi-Gruppe« ähnliche Strukturen im medialen Diskurs erkennen lassen.
Auch hier gab es Verharmloser, wie die jahrzehntelang unkoordiniert, sich scheinbar in einer Art perversen Wettbewerb gegenüberstehenden (sogenannten) Ermittlungsbehörden. Die Mordserie an türkische und griechische Imbißbudenbesitzer führte alleine durch die Tatsache, dass sie in unterschiedlichen Bundesländern verübt wurde, zu einem scheinbar unüberwindlichen Kompetenzgerangel und zu einer desaströsen Kommunikation der Dienste untereinander. Hinzu kommt der scheinbar umfassende Einsatz von sogenannten V‑Leuten, die wie unkoordinierte Spione in die Szene eingeschleust werden, wobei merkwürdigerweise ihre rechtsextreme Gesinnung nicht befragt wird. Diese Vorgehensweise trägt indirekt mit zur Verharmlosung bei.
Die Diskussion um die beispielslose Mordserie wird jedoch derzeit eindeutig von den Übertreibern dominiert. Der »Spiegel« titelte reißerisch von einer »Braunen Armee Fraktion«. Die Mörder werden als »Terroristen« bezeichnet, was in zwei Punkten der gängigen Definition von Terrorismus widerspricht. Zum einen ist die politische Botschaft zweifelhaft bis nicht erkennbar. Die Mörder sind Rassisten, aber ein wie auch immer strukturiertes politisches »Programm« wie weiland die RAF (und sei es auch noch so blödsinnig) ist nicht bemerkbar. Auch der wichtigste Punkt des Terrorismus, Angst und Schrecken in der Bevölkerung durch möglichst ausführliche Publikation der Terrorakte zu erzeugen, ist nicht gegeben. Nils Minkmar weist zu recht darauf hin, dass die Morde »als Botschaft an andere Gesinnungsgenossen« zu verstehen waren. Eine Verortung der Mörder und deren Helfer als »terroristische Vereinigung« dürfte strafrechtlich schwer aufrecht zu erhalten sein. Das Rubrum »Terrorzelle« ist eine mediale Aufbauschung, so reißerisch wie dumm und eine unzulässige Trivialisierung des Begriffs des Terrorismus.
Morshäuser berichtet in seinem Essay von einer Diskussion in einem Ostberliner Jugendklub 1990. Ein Mann fragt, ob es nicht besser wäre, rechtsradikale Parteien nicht zu verbieten. Zwar wird dem Mann konzediert, die wichtige Frage gestellt zu haben; die Antworten aber sind zögerlich bis abweisend…Daß man Rechtsextremen erst zuhört, bevor man »gegen sie angeht«, auf diese Idee kommen die »Linken« hier nicht. Ihr Weltbild scheint so unerschütterlich zu sein, daß sie längst Bescheid wissen über Nährböden und andere Erdformen, die ihren politischen Gegnern helfen; um dann darüber zu jammern, daß Rechte es verstünden, sich zusammenzuschließen…
Fast hilflos immer wieder die Nebelkerze, die bevorzugt von der Politik, die jahrelang nichts zur Bekämpfung des Rechtsextremismus getan hat, gezündet wird. Es ist die Rede vom Verbot der NPD. Die Verbotsforderung ist ein wohlfeiler und billiger Terminus. Man klopft sich selber auf die Schulter und geht dann zur Tagesordnung über. Ein NPD-Verbot ist jedoch weder möglich noch zielführend, wenn es um die Bekämpfung von Rechtsextremismus geht. Zum einen ist die Durchsetzung der NPD mit V‑Leuten noch stärker als 2003, als das Bundesverfassungsgericht das Verbotsverfahren verwarf. Der Glaube, man könne die V‑Leute einfach abziehen, in den Vorruhestand schicken wie ausgedientes Personal und danach zügig die Partei verbieten, ist lächerlich. Zum anderen ist eine radikale und rassistische Gesinnung nicht per Ukas verbietbar. Auch Vorschläge, die NPD auf legalem Weg finanziell auszutrocknen, dürften zum Scheitern verurteilt sein. Es sei denn, man ändert das Verfahren zur Parteienfinanzierung fundamental. Dass im übrigen Geld nicht alles ist, hat das Scheitern der ebenfalls rechtsextremen DVU gezeigt, die trotz ihres Millionenmäzens Frey glücklicherweise nicht auf Dauer reüssieren konnte.
Die Forderung nach einem NPD-Verbot ist Ausweis von Hilflosigkeit. Politiker zeigen damit, dass sie nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, den Kampf gegen den Rechtsextremismus mit politischen und diskursiven Mitteln zu führen. Das wäre ein steiniger Weg, der nicht ohne finanzielle Aufwendungen realisierbar ist. Auf Dauer sollte man sich aber fragen, ob es nicht sinnvoller ist, soziale und politische Maßnahmen gegen Rechts- wie Linksradikalismus zu finanzieren oder lieber zwielichtigen V‑Leuten das Geld in den Rachen wirft, die ihre Unzuverlässigkeit mehr als nur einmal bewiesen haben.
Im medialen Raum flirren inzwischen längst auch die gängigen Pauschalübertreibungen. Mely Kiyak zitiert aus einer Studie, in der rund ein Drittel der deutschen Bevölkerung dem Satz « Die Bundesrepublik ist durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet« zustimmen würden. Dabei addierte sie der Einfachheit halber »überwiegende« und vollständige Zustimmung. Die Statistik über diejenigen, die über ein »geschlossenes rechtsextremes Weltbild« verfügen sollen, zitiert sie nicht. Sie findet sich 22 Seiten weiter – in der gleichen Studie. Es sollen 2010 in der Gesamt-Bundesrepublik 8,2% gewesen sein (ein Anstieg nach 2008 7,6%; im Vergleich beispielsweise zu 2004 – 9,8% – immer noch weniger).
Merkwürdig an der Studie generell: Obwohl man behauptet, eine repräsentative Befragung durchgeführt zu haben, ist der Grad der Befragten mit Hauptschulabschluss exorbitant höher als in Wirklichkeit (43,7% zu 32,1%), die Zahl der befragten Abiturienten dagegen nicht einmal halb so hoch wie im Bundesdurchschnitt (7,3% in der Studie [Seite 70]; 17% in der Bevölkerung).
Kiyaks Furor mag in Anbetracht der Verbrechen verständlich sein, ist aber ein typisches Beispiel für die Rhetorik der Übertreiber: »Noch sind keine hochrangigen Politiker in Demut und Scham vor die Opferfamilien getreten und haben um Verzeihung gebeten.« Der Kontrapunkt ist derzeit weniger populär. Alexander Wallasch vertritt ihn: »Wer sich für diese Verbrechen schämt (noch dazu stellvertretend für ein ganzes Land) anstatt seine Kraft darauf zu konzentrieren, sie mit aller Härte zu verfolgen und als das zu verurteilen, was sie sind: Schwerkriminell, der gibt Anlass für Scham.«
Kiyak möchte die deutsche Gesellschaft in toto für die Morde mitverantwortlich machen. Sie spielt mit der Kollektivschuldthese und verlangt »aufrichtige Rücktritte« von Politikern, als seien diese die Urheber für die Verbrechen oder hätten sie mindestens billigend in Kauf genommen.
Im bereits erwähnten Essay von Morshäuser wird dokumentiert, wie die unter staatlicher Anleitung angewachsene Normaldiskriminierung türkischer Bürger in der Bundesrepublik in den 70er Jahren sukzessive voranschritt. »Zuzugssperre« (1975), Visumpflicht (1980), »Rückkehrprämie« (1983) – nur einige der politischen »Maßnahmen«. Es werden Äußerungen der damaligen Ministerpräsidenten Wallmann und Stoiber zitiert (letzterer befürchtete, dass die Gesellschaft »durchraßt« werde).
Opfer und Täter seien durch die Sprache »symbolisch ausgebürgert« worden, meint Andrea Dernbach im »Tagesspiegel«. Die Bezeichnung »Döner-Morde« geißelt sie – berechtigterweise – als menschenverachtend. Zu untersuchen wäre jedoch, ob es sich um einen offiziell legitimierten Begriff handelt oder nicht (was ihn nicht besser macht). Stattdessen verwendet sie diesen Begriff, um Ermittlungsbehörden, Politikern und Journalisten pauschal zu unterstellen: »Die ‘Döner’-Toten gehören nicht ‘zu uns’. Sie sind die Anderen, die Fremden.«
Dernbach stört sich aber auch an der Bezeichnung »Nazi-Trio« und denkt dabei an »an die trottlige Panzerknackerbande aus Donald Duck oder an Donalds drei niedliche Neffen.« Die Gesellschaft würde mittels dieser Begriffe die Täter ebenso aus ihrer Mitte verstoßen wie die Opfer. Aber was soll sie sonst tun?
Die Probleme werden nicht dadurch gelöst, dass man in der Abwägung zwischen Verharmloser gegen Übertreiber dem Übertreiber aus emphatischen Gründen zustimmt.
Zum Katalog in dieser aufgeheizten Stimmung, die zum großen Teil durch das stümperhafte Verhalten der Ermittlungsbehörden befördert wird, gehört die Forderung nach einer »diskriminierungsfreien« Berichterstattung. Ich warte noch auf die Auswirkungen dieser Ideen, fürchte jedoch, dass ich den türkischen Gemüsehändler, der stolz seine türkische Fahne auf der Kasse stehen hat, unter dem Vorwurf des Rassismus in Zukunft nicht mehr »türkisch« nennen darf. Die Sprachpolizei wird auch dort eingesetzt werden, wo sie nichts zu suchen hat.
Auf eine fatale Art und Weise spielt man ungewollt den Verächtern eines demokratischen, multinationalen Staates in die Hände. Auch sie schwärmen von einer »reinen«, heterogenen Entität; sie mögen keine Differenz, wollen alles begradigen.
Ich bekenne mich jedoch zur Differenz. Ich mag sie. Ich möchte, dass eine Sprache in den Medien die Diversität einer Gesellschaft nachzeichnet und nicht aus diffuser, übervorsichtiger Angst, die auch eine gewisse falsch verstandene Scham ist, verschweigt. Ich möchte nicht eine sterile Sprache oktroyiert bekommen, nur weil Rassisten eventuell etwas falsch verstehen könnten. So selbstverständlich es inzwischen türkischstämmige Kommissare im »Tatort« gibt, so selbstverständlich sollte es auch sein, dass ein Türke einmal der Täter ist, ohne dass man vor der Häme von ein paar Schwachköpfen Angst hat. Und ich möchte bei der Fahndung nach Verbrechern nicht immer nur den Hinweis auf eine fremde Staatsbürgerschaft hören.
Morshäuser war unzufrieden mit den gängigen Deutungs- und Erklärungsmustern, die über den Rechtsextremismus kursieren: Ich habe das Gefühl, alle erzählen mir das gleiche. Im allgemeinen ist soziologischer Konsens, dass es bei Rechtsextremen und Neonazis um Verlierer der Modernisierungsschübe der 60er und 80er Jahre handelt. In beiden Fällen gab es Wahlerfolge für rechte Parteien (die NPD kratzte bei der Bundestagswahl 1969 an der 5%-Hürde), was als Beleg herangezogen wird. Morshäuser fehlt der Hinweis auf den deutsche[n] Zusammenhang, der doch bei keinem anderen Thema so offenkundig ist.
Der Schlüssel für den fahrigen, von Affekten geprägten und offensichtlich wirkungslosen Umgang mit dem Rechtsextremismus liegt in der immer noch vehement gepflegten Dichotomie zwischen »rechts« und »links«. Der negative Nationalismus links hat dem Nationalismus rechts zu seiner Ortung verholfen. Genauer betrachtet borgen beide Gruppierungen mehr oder weniger verdeckt von Ideologien der Ungleichheit. Dabei ist der negative Nationalismus im Bewußtsein eines »Linken«…so tief verankert, daß er ihn ebenso wenig merkt wie ein »Rechter« seinen Nationalismus. Versuche, eine vermittelnde Position einzunehmen, scheitern. Jeder wird zum Feind, wer die Feindbildruhe stört. Diese Feindbildruhe hilft nur den im Stellungkrieg Erstarrten.
Jahre später versucht der grüne Politiker Robert Habeck einen linken Patriotismus zu formulieren – eng angelehnt an Habermas’ Verfassungspatriotismus und ohne Pickelhaube. Linker Patriotismus ist ein »rationaler Gesellschaftsvertrag« mit einer »emotionalen Ansprache, eine[r] gemeinsamen Idee«, damit ein »Pathos der Zusammengehörigkeit« entstehen kann, in dem das Gemeinwohl wieder neu entdeckt wird. Die Resonanz blieb dünn; zu dünn. Dabei bietet Habecks Entwurf – bei allen Schwächen im Detail – die Möglichkeit, Begriffe wie Gemeinwohl und Gesellschaft positiv und neu zu verorten und in eine neue, demokratisch-pluralistische Gesellschaftsordnung zu überführen. Wichtige politische Kategorien werden neu bestimmt und von ihrem leicht tümelnden Hautgout befreit.
Der weiland in der DDR verordnete Antifaschismus entlud sich zu Beginn der 90er Jahre in pogromartigen Ausschreitungen (Hoyerswerda; Rostock-Lichtenhagen). Zwar ist der Rechtsradikalismus kein typisch ostdeutsches Phänomen, aber westdeutsche und ostdeutsche Rechtsextremisten unterscheiden sich in der Intensität der Feindbilder. Morshäuser machte mindestens 1992 bei ostdeutschen Rechtsextremisten ein schärferes und radikaleres Feindbild aus. Die Entwicklungen geben ihm recht. Wer von »Rechtsterrorismus« spricht, sollte sich vielleicht auf den Terror in den euphemistisch genannten »national befreiten Zonen« konzentrieren, statt sich in wohlfeilem Verbots-Gequatsche zu ergehen. Die Bürger dort hätten sicherlich ganz gerne mal Herrn Friedrich, Herrn Lammert, Herrn Gabriel oder Frau Roth zu Besuch. Oder einfach genügend Polizei, die für die Wiederherstellung eines demokratischen Gemeinwesens sorgt. Wie wäre es damit?
Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem Buch »Hauptsache Deutsch« von Bodo Morshäuser.
Ein seltsam widersprüchlicher Beitrag, wenn auch gutgemeinter Artikel. Einmal könne man die V‑Leute nicht einfach abziehen, dann wird gefordert, kein Geld mehr den V‑Leuten. Ja was denn nun. Zudem sind meines Wissens die V‑Leute keine »Spione« oder Undercover, sondern sind Rechtsextrme aus der Szene, die angeworben wurden.
Hajo Funke, Prof. der Polititwissenschaft, hat den sofortigen Rückzug der V‑Leute gefordert, zumal mit dem Geld weitere rechtsradikale Aktionen unterstützt oder Ausrüstung angeschafft wurde.
Zumindest eins würde man mit einem Verbot, so es denn käme, erreichen, dass die Neonazis nicht mehr öffentlich die Opfer verhöhnen und die Polizei ihre Aufmärsche und Versammlungen schützen müsste.
Was sind politische oder soziale Maßnehmen gegen Rechts? In Meck-Pom sind sowohl Grüne als auch andere Parteien nicht gerade mit Mitgliedern gesegnet. Die Kirchen fallen ebenfalls aus. Wer soll die Sozialarbeit machen? Die Sportvereine? Man schaue nach Rostock oder Dresden.
Arbeitsplätze und Angebote als Ersatz für fehlende Arbeitsplätze oder soziale Einrichtungen, natürlich, da gehe ich mit. Aber mit Aufklärung erreicht man ebensowenig wie bei der damaligen RAF. Nebenbei, bei der RAF von einem Programm oder von ernstzunehmenden Ideen zu sprechen, halte ich für abwegig, zumal, wenn man damit die Rechten noch der Programm- und Ideenlosigkeit überführen möchte.
Kann es nicht sein, dass, abgesehen von diesem Mordkommando, es in einer Gesellschaft von 80 Mill immer ein paar Hundert Idioten geben wird, gegen die die Gesellschaft oder die Politik/Parteien nicht viel machen können?
Was ist denn mit den Krawallen zum 1. Mai oder wenn es im Kiezviertel zu bestimmten Terminen rund geht? Was war mit den brennenden Fahrzeugen in Berlin, nichts hört man mehr. Wird nicht mehr ermittelt?
Wo waren denn die schlauen Medien? Warum hat niemand im Umfeld der Polizistin recherchiert, als bekannt war, sie kommt aus Zwickau?
Der Verfassungsschutz hat versagt, er wird auch wieder versagen, solange die Kriminellen von rechts und links sich abschotten und in bestimmten Regionen/Kreisen als unauffällige Bürger/Außenseiter leben. Damit werden wir leben müssen, da helfen auch keine anklagenden Essays, die nachher alles vorher gewusst haben.
Auch die Vorschläge, Herrn Lammert solle sich vor Ort sehen lassen, halte ich nicht für fair und zielführend. Gerade Lammert hat sich stets für Immigranten und andere Minderheiten eingesetzt. Ebensowenig halte ich die Forderung nach mehr Polizei für eine erfolgversprechende Idee. Meist werden die Taten dann ausgeführt, wenn die Polizei nicht dabei ist. Und gerade der Mord in Heilbronn beweist doch, dass Polizei allein auch nicht hilft.
Kritisieren kann man leicht, wirklich hilfreiche und sinnvolle Vorschläge habe ich noch von niemandem gehört. Die momentane Hektik und der politische Aktionismus werden in einigen Wochen vorbei sein, die Misere/Arbeits-/Ausbildungssituation der jungen Leute in Meck-Pom, Sachsen-Anhalt, Sachsen, Thüringen, Brandenburg bleibt noch ein paar Jahre.
Ihre Lektüre meines Beitrages ist ungenau. Der Einsatz von Polizei und Ordnungshütern bezog sich auf die sogenannten »befreiten Zonen«. Ob sich Herr Lammert von seinem geheizten Abgeordnetenbüro aus für irgendwelche Migranten mit schön formulierten Reden eingesetzt hat, interessiert mich nicht. Dass es solche »befreiten Zonen« gibt, ist die Schande.
Ich weiss auch nicht, wie Sie auf die Kausalität kommen, dass eine miserable Arbeits- und Ausbildungssituation ursächlich für Rechtsradikalismus steht. Mindestens einer der Mörder stammte zum Beispiel aus relativ gutem Haus. Dass alle Neonazis per se dumm und perspektivlos sind, ist ein Klischee.
Ich vermag auch keinen Widerspruch darin zu entdecken, Geldzahlungen an V‑Leute einzustellen (ich lese über absurd hohe Zuwendungen; keine Ahnung, ob die stimmen) und gleichzeitig die Unmöglichkeit zu sehen, danach ein Verbotsverfahren aus dem Hut zu ziehen. Sehr viele Angaben auf die sich das Verbotsverfahren beziehen könnte, wären wohl noch von V‑Leuten. Der Vorgang ist unmöglich durchzuziehen. Interessant fände ich Michael Sprengs Ansatz, die Partei mit den öffentlichen Aussagen ihrer Funktionäre in Strafverfahren zu verwickeln. Ein zugegeben steiniger Weg (wieder einmal), aber wenigstens sauber und ohne parteiische V‑Leute. Letztlich sind V‑Leute ein Ersatz für seriöse Ermittlungen. Dabei wissen die Ermittler nicht, welche Angaben ihnen verschwiegen werden. Das hat m. E. sehr viel mit einer Spionagetätigkeit gemein.
Dass gut gemeinte Essays nicht helfen, mag Ihre Meinung sein. Vermutlich stimmt es auch. Alleine mag ich mich Ihrem Fatalismus der Ausweg- und Sinnlosigkeit von allem nicht – noch nicht – anzuschließen. Ich frage mich dann übrigens, warum Sie sowas überhaupt lesen.
Als ich so 17, 18 war (Mitte 1980er), das war zu den großen Zeiten der FAP in Oberhessen und der Wetterau, war ich, durch seltsame biographische Verstrickungen und Zufälle, einige Monate lang Teil der rechten Skin/Hool-Szene dort. Das Faszinierende war, neben dem unglaublich hohen Skandalisierungspotenzial gegenüber meinen brav-linken Gesellschaftskunde- und Deutsch-Lehrern, die Erlebnis-Intensität, die Gewalt, Schmerz, Wut und Furcht ermöglichen. Das war, zumindest am Anfang, nur ganz lose mit neo-nazistischer Gesinnung verbunden. Das schien mir nur ein weiteres, intensivierendes Moment zu sein. Es war eigentlich egal, gegen wen man antrat, ob türkische Disco-Gang, US-amerikanische Soldaten oder andere Hools oder die Polizei – Hauptsache, Action. Drogen, v.a. Aufputschmittel haben dabei eine wichtige Rolle gespielt. NPD / DVU und Polizei haben von zwei Enden her versucht, diese marodierenden Gruppen unter Kontrolle zu bekommen. Das ist ihnen auch ganz gut gelungen: Die einen wurden echte Neo-Nazis und gingen in ein ganz bürgerliches Leben, ein paar wirklich charismatische Leitfiguren drifteten völlig in Gewalträusche ab und landete im Gefängnis, einer auch auf dem Friedhof, und Leute wie ich bekamen einen Schrecken vor sich selbst und fanden mehr oder weniger gut wieder in die »Normalität« zurück.
Ich vermute, diese Intensitätserfahrung spielt noch immer eine wichtige Rolle auf dem Weg in neo-nazistische Gruppen – und gegen die schlichte Lust an der Gewalt kann man sehr schlecht anargumentieren.
Zu der Neo-Nazi-Szene in Ostdeutschland: Leider ist in vielen Orten die Polizei, v.a. die lokale, keine Hilfe gegen Nazis, sondern Teil des Problems: schlecht ausgebildet, tendenziell selbst rechts-autoritär, rassistisch und in vielen Fällen einfach Feiglinge. (Zumindest in der Gegend in Mecklenburg, in der ich mich ein bisschen auskenne.)
@Doktor D
Sehr interessant. Hatten Sie Kühnen kennengelernt?
–
Was Sie zur Polizei sagen: Mag stimmen, ja. Aber der Staat muss dann eben dementsprechend handeln.
@ Gregor Keuschnig
Warum gleich beleidigt, wenn Widersprüche angesprochen werden. Dass Sie unfair argumentieren, zeigt doch Ihr Vorwurf des beheizten Büros von Lammert. Hätte ein unbeheiztes Büro etwas verhindert oder nützte es einem Opfer?
Sie gehen nicht darauf ein, dass V‑Leute als Rechtsextreme angeworben wurden. Man wusste genau, dass sie weiterhin dieses Gedankengut besaßen . Nach Aussagen einiger Ex-Rechtsextremer, wusste auch die Gruppe stets um die Rolle des V‑Mannes und man sprach die Informationen an den Verfassungsschutz ab und kassierte. Zum Teil 6stellige Beträge! Das ist ein Skandal.
Allein ursächlich, sicher nicht, aber dass die aussichtslose Arbeits- und Ausbildungssituation viele Jugendliche in Kontakt zu Rechtsradikalen kommen ließ, belegen viele Untersuchungen. Was wären denn sonst Ihre angemahnten sozialen Aktionen?
Dass ein Mitglied aus gutem Hause war, ist ein doch kein ernstzunehmer Einwand, wir sind doch hier nicht bei Poppers Falsifikation. Es wird auch irgendeinen netten Rechtsradikalen geben.
Ich teile doch Ihre Wut und Empörung über den Rechtsradikalismus, ich kann nur nicht wie Sie sofort die Schuldigen ausmachen und gute Ratschläge geben, die das Problem angeblich lösen werden oder doch zumindest die Situation sehr verbessern.
Dass bei einer Bevölkerung von 80 Mill. immer ein paar Hundert oder auch paar Tausend ideologisch verblendete und hasserfüllte Menschen vorhanden sein werden, muss ich glaube ich nicht groß belegen. Schauen Sie mal in die früher als so liberal geltenden Länder wie Dänemark, Norwegen, Finnland oder in die Niederlande.
Idioten war zugegeben als flapsige Charakterisierung gemeint, nicht als Feststellung der Intellektualität der Rechten. Normalerweise hätten Sie das normalerweise auch so kommuniziert, aber Sie haben sich halt geärgert.
Tut mir leid, wenn ich Sie gekränkt haben sollte. Ich ging davon aus, dass jemand, der gegen viele kräftig austeilt, auch ein wenig einstecken kann.
Ja, aber nur ganz oberflächlich. Er war da grade aus dem Gefängnis entlassen und litt schon unter den ersten schwereren Symptomen seiner HIV-Erkrankung – und ich war schon wieder auf dem Weg der Besserung. (Ich verstehe diese Episode immer als eine Form temporären Wahnsinns bei mir.) Gerade die Politisierung bzw. der Versuch, die Leute zu organisieren und gezielt einsetzen zu können, hat für viele meiner damaligen Kumpane die Sache uninteressant gemacht. Es gibt ja nur wenig deprimierenderes und spießigeres als Neo-Nazi-Politveranstaltungen – und dabei war Kühnen schon ein guter Redner, sehr unbürgerlich und er hatte, zumindest erinnere ich das so, jenseits seines Antisemitismus, Antiamerikanismus und Rassismus ganz interessante soziale Ideen. (Mir ist klar, das Spießigkeit keine wirklich gute politische Kategorie ist, aber für mich und einige andere war das damals ein wichtiger Punkt.)
Die meisten NPD-/DVU-Menschen und ‑Verlautbarungen, die mir seither untergekommen sind, atmen den Geist wildgewordnener Hausmeister und Blockwarte – und so massen-attraktiv ist das vermutlich auch heute nicht. Außer in manchen verlorenen Regionen Mecklenburg-Vorpommerns und Brandenburgs sowie im Erzgebirge, wo die »National befreiten Gebiete«, schon in der Bezeichnung schwingt für mich viel Angeberei mit, wo man sich als Kümmerer zu profilieren sucht.
Sie haben natürlich recht, dass es Aufgabe des Staates ist, da vernünftig und überzeugend Präsenz und Aktionsfähigkeit zu zeigen. In Mecklenburg-Vorpommern hat sich das auch nach einigen sehr unrühmlichen Auftritten deutlich gebessert, aber wenn man in manchen Städtchen mit der lokalen Polizeiwache zusammenarbeiten muss – das kann einen schon sehr wütend machen. Zum Verhalten des sächsischen »Verfassungsschutzes« und der sächsischen Polizei, die durch die aktive Behinderung und Kriminalisierung der Arbeit von Initiativen gegen Rechts, zur Opferbetreuung und zum Ausstieg faktisch und symbolisch den Aufbau von neo-nazistischen Strukturen unterstützt, fällt mir allerdings nichts mehr ein, außer der Forderung, dass sich darum endlich mal eine Untersuchungskommission kümmern sollte.
Nur drei Anmerkungen:
1. Ich habe den verlinkten Beitrag über den Terrorismus zwar nur kurz überflogen, aber ich denke, dass man vielleicht doch in den hier diskutierten Fällen von »Terrorismus« sprechen kann. Die Taten waren politisch motiviert, sie hatten symbolischen Charakter, haben Unschuldige getroffen und sollten Andersdenkende einschüchtern. Alle anderen Kriterien erscheinen mir da eher zweitrangig.
2. Die Behinderung der Verfolgung derartiger Verbrechen durch die Polizei- und Justizorgane ist ein gutes Beispiel für die Sinnlosigkeit der deutschen Kleinstaaterei. Die Bildungspolitik ist ein weiteres und die Lähmung der deutschen Innenpolitik noch eins.
3. Dass es viele derartige Vorgänge vor allem in Ostdeutschland gibt, hat sicher mehrere Gründe. Mich macht es ziemlich traurig – ich sehe es an meinen älteren Bekannten und Verwandten – dass sich die DDR-»Piefigkeit« so lange hält. Im Nachhinein wundert es mich deshalb ziemlich wenig, wie lange sich nach dem Dritten Reich gewisse Ressentiments gehalten haben, trotz verlorenem Krieg und allem. Es ist wohl wirklich so, dass bestimmte Verhaltensweisen nicht mal mit denen aussterben, die sie selbst im Original gelernt haben, nein, auch Kinder und Enkel sind noch von dieser Denkweise infiziert. Die sozialen Verhältnisse im Osten sollten hingegen langsam als Erklärungsmuster ausgedient haben, denn in einigen Gegenden Westdeutschlands ist es nicht besser oder sogar schlechter.
@DoktorD
Über das »Kümmerer«-Tum gab es vorgestern einen Film bei »Frontal 21«. Irgendwo – »natürlich« im Osten – hatte die NPD ein Kinderfest organisiert – und alle gingen hin. Da wird es allerdings der NPD und den Rechten auch sehr einfach gemacht: Es fehlen Strukturen anderer Parteien und Organisationen. Da stösst dann die NPD in eine Lücke hinein. Das ist auf Dauer viel gefährlicher als die dumpfe Parolendrescherei. Die demokratischen Parteien versagen hier auf der ganzen Linie und treiben lieber Symbolpolitik.
@Köppnick
Naja, es ist – den gängigen Kriterien nach – kein Terrorismus, weil es keine nach außen gerichtete »Botschaft« gab. Der jetzt gefundene Bekennerfilm diente wohl eher der Rekrutierung nach innen. Dass ein Zusammenhang der Morde nicht so ohne weiteres herzustellen war, zeigt sich ja auch, dass in den Medien vorher kaum jemand diesen konstruiert hatte. Jetzt wissen’s alle besser und fordern, fordern, fordern.
Terror ist für mich eher die Usurpierung von Städten oder Stadtteilen durch Rechte. Auch hier versagen alle Institutionen.
Zur DDR-»Piefigkeit«. Ich glaube nicht, dass Rechtsextremismus unbedingt ein spezifisches DDR-Problem ist; das konnte man vielleicht noch bei den Ausschreitungen zu Beginn der 90er Jahre sagen. Ansonsten ist die rechte Szene auch in Westdeutschland seit Jahrzehnten präsent – wie alleine schon im Essay von Morshäuser nachzulesen ist. Die »Republikaner« zogen ab Ende der 80er Jahre (also noch vor der Wiedervereinigung) in diverse Länderparlamente ein ein, drohten bspw. 1990 im bayerischen Landtag einzuziehen (4,9%) und der CSU die Mehrheit streitig zu machen und waren von 1992–2001 im baden-württembergischen Landtag; mit 10,9% bzw. 9,1%! (Die NPD 1968–1972.) Eine Korrelation zwischen »arm« (bzw. Modernisierungsverlierer) und »rechts« ist da weit und breit nicht zu erkennen. Sie wird immer dann gerne verbreitet, weil man komplexe Erklärungsansätze – die auch Konsequenzen bedingen würden – scheut.
In Mecklenburg-Vorpommern sind auf der lokalen Ebene CDU und Linke/PDS ziemlich großflächig vertreten – und genau denen haben es viele Gemeinden zu verdanken, dass jahrelang vor der NeoNazi-Pest ganz ganz fest die Augen verschlossen wurde. Was oft heißt, dass es heute immernoch einiges an Zivilcourage verlangt, sich für die SPD oder die Grünen öffentlich wahrnehmbar zu engagieren. Cem Özdemir kann da einiges zu erzählen (der hat sich im letzten Landtagswahlkampf sehr eingesetzt). Eigentlich bräuchte man eine konzertierte Aktion aller demokratischen Parteien auf der lokalen Ebene, aber da herrscht dann oft eine Dumpfigkeit unter den CDU/PDS-Funktionären ... man könnte in die Tischkante beißen. Aber ich bin ziemlich zuversichtlich, dass es langsam besser wird, gehe aber auch davon aus, dass ganze Landstriche in Vorpommern und Brandenburg (Uckermark) schon von der politischen Landkarte der demokratischen Parteien verschwunden sind – weil sich der Aufwand für die paar Männekens am Rande der bewohnten Welt nicht lohnt. Und er werden ja auch immer weniger.
Zweierlei:
1) Vielleicht können wir versuchen zu einer Definition oder einem Verständnis von Extremismus/Radikalismus zu kommen (wenn wir beide Wörter einmal synonym verwenden)? Die Übertreiber, vor allem im medialen Diskurs, lassen gerne die Grenze zu links oder rechts verschwimmen, um eine ihnen fern stehende politische Haltung als ganze (moralisch) diskreditieren zu können: Beinhaltet Radikalismus/Extremismus Gewaltbereitschaft oder kann man eine bestimmte »moderatere Geisteshaltung« schon als solchen bezeichnen? Und was wären die Konsequenzen daraus?
2) Was wäre zu tun? Ist vorrangig ein Abwehrkampf, eine »Schlacht« zu führen oder gibt es andere Mittel und Wege? Stehen hier einander unversöhnliche Grundhaltungen gegenüber, die für eine liberale Demokratie eine Art Kampf gegen Windmühlen bedeuten, der aber unbedingt geführt werden muss? Oder handelt es sich bei Radikalismus/Extremismus um einen (vorsichtig formuliert) »Irrtum«, den man »aufklären« kann (was aber einen, den Radikalen gegenüber, überlegenen Standpunkt einschließt und allen damit einhergehenden Problemen)?
@metepsilonema
Zunächst hilft die Wikipedia-Definition nicht besonders weiter. Nicht jede extremistische politische Einstellung stellt gleich eine Gefahr der Demokratie dar. Liest man im Artikel weiter, kommt man aber auf den meines Erachtens entscheidenden Kern: Wichtig ist, ob das jeweilige politische Weltbild das demokratische Prinzip und deren Institutionen akzeptiert, also beispielsweise auch Niederlagen akzeptiert, die auf demokratische Wart und Weise zustande gekommen sind. Wenn dies nicht der Fall ist, sollte man von Extremismus sprechen.
Die Frage bleibt dann, ob man extremistische Gruppierungen (also auch Parteien) verbieten soll. Schließlich richten sie sich gegen die »FDGO«. Befürworter von Verboten argumentieren mit den Erfahrungen der Weimarer Republik: Die Gegner der Demokratie bedienen sich ihrer so lange, bis sie legitimiert sind und schaffen sie dann ab. Gegner argumentieren damit, dass man Ideologien nicht abschalten kann; ein Verbot ist häufig nur kosmetischer Natur.
Im Nachkriegsdeutschland gab es zwei grössere Wellen von Extremismus-Erforschungen. 1950 mit dem sogenannten Adenauer-Erlass und dann noch einmal 1972 mit dem Radikalenerlass.
In den 50er Jahren wurden zwei Parteien verboten: 1952 die SRP, eine sich nationalsozialistisch gerierende Partei, die bei den Landtagswahlen in Niedersachsen 1951 11% bekam. Schließlich wurde 1956 die KPD verboten. In den 70er Jahren fixierte man sich dabei ausschließlich auf den Linksextremismus (der Terror der RAF war noch virulent); Gefahren von rechts sah man damals nicht. (Der »Radikalenerlass« war eine Maßnahme der innenpolitisch sehr stark unter Druck geratenen sozial-liberalen Koalition, der von CDU/CSU vorgeworfen wurde, auf dem linken Auge blind zu sein. Er geschah aus vorauseilendem Gehorsam, dass der Linksextremismus nicht als Wahlkampfthema instrumentalisiert werden konnte.)
Ich weiss nicht, ob es damit getan ist, extremistische politische Ansichten als »Irrtum« anzusehen. Betrachtet man andere Länder stellt man fest, dass diese Form der Irrtümer längst salonfähig ist. Derzeit ist eine Welle rechtsextremistischer Parteien in Europa en vogue. Sie verknüpfen geschickt EU-kritische Einwände mit xenophoben Parolen. Interessant wäre die Frage, warum sie einen derartigen Zulauf bekommen. Hier spielen wohl Übersättigungsphänomene mit den »alt-bekannten« Parteien und deren Protagonisten eine Rolle. Und auch die aktuelle Ohnmacht gegenüber weltweit agierenden Finanzkonzernen. Sogenannte Globalisierungskritiker finden sich längst auch in der rechten Szene.
# 11
Auch auf die Gefahr hin, wieder in ein Fettnäpfchen zu treten.
»Niederlagen zu akzeptieren, die auf demokratische Art und Weise zustandegekommen sind.« Das ist Voraussetzung um kein Extremist zu sein!
Was ist mit dem Ermächtigungsgesetz von 1933? Obwohl es Verhaftungen von Kommunisten und anderen Politikern bzw. Abgeordneten gab, wurde es mit Unterstützung des Zentrums angenommen. Formal demokratisch legitimiert. Ich würde in diesem Fall allerdings den Gegenern des Gesetzes, also der SPD und den Kommunisten, deswegen keineswegs Extremismus vorhalten.
Sachlich richtig wird die Situation in den 50er Jahren beschrieben. Allerdings war das KPD-Verbot heftig umstritten und wäre später nicht mehr zustandegekommen. Man muss sich nur die damalige Richterschaft in der Bundesrepublik ansehen. Die meisten agierten auch im 3. Reich als Richter und kein Richter ist jemals deshalb verurteilt worden. Formal demokratisch legitimiert, aber für viele ein politisches Urteil.
Der Radikalenerlass war keineswegs nur vorauseilender Gehorsam, sondern auch der Versuch der SPD, die diversen Gruppen auf der Linken, von Stamokap bis Maoisten, soewie die Anhänger der DKP beim Marsch durch die Institutionen abzuwehren und Bündnisse auf lokaler Ebene mit der SPD zu verhindern. Fall Benneter etc..
Ich kann mich sehr gut an die damaligen Diskussionen erinnern. Für mich ein eklatanter Fehler der SPD. Dass man gleichzeitig versuchte, sich nach links abzugrenzen und damit der Parole von Geißler »Freiheit statt Sozialismus« den Wind aus den Segeln zu nehmen, ist richtig, hat aber trotzdem nichts genützt, denn es wurde doch ein solcher Lagerwahlkampf.
In den Endsechhziger Jahren wurde durchaus gegen rechts in den Medien geschrieben. Denn damals stand die NPD vor dem Einzug in den Bundestag, man bekam 1969 immerhin 4,3 %, und es gab immer noch die alliierten Rechtsvorbehalte. Die BRD war durchaus noch nicht souverän. Siehe auch damals die Diskussion um die Notstandsgesetze.
Extremismus ist immer eine Frage der Definition und ändert sich natürlich. Was in den fünfziger und zu Beginn der sechziger Jahre als extrem galt, ist heute demokratischer Standard bzw. demokratischer Alltag.
Wer sich an den Auftritt der Grünen in den Parlamenten in den 80er Jahren erinnert, entdeckt auch da einen gehörigen Wandel, wenn man heute sieht, wie gelassen man auf den Auftritt der Piraten in Berlin reagiert.
Das Problem mit den Rechten wird durch die Änderung ihrer Taktik zukünftig noch größer. Man tritt nicht mehr nur mit Glatzen und Springerstiefel auf, sondern arrangiert Kinderfeste, Nachhilfe- und Betreuungsaktionen, geht also konkret in die Region. Die Berichte im Fernsehen, u.a. Frontal 21, zeigten doch, dass die Besucher sich nicht daran störten, dass die NPD der Veranstalter war. Und dies nach Bekanntwerden der Morde.
Auch der Beitrag von Doktor D. zeigt doch, dass man sich bewusst von den linken Meinungen abgrenzen wollte, oft war es sogar egal, bei wem man sich engagierte, Hauptsache gegen die Mehrheit oder das »bürgerliche Milieu«.
Es scheint in der »Natur/Kultur« vieler Menschen zu liegen, dass man sich gegen Fremde oder andere abgrenzt. Diese Anderen können politisch, religiös oder kulturell definiert werden. Dass muss gar nicht mehr nationalistisch definiert werden. Siehe Frankreich mit den Franzosen afrikanischer Herkunft. In Marseille wählt, wer dazugehören will, Front national (FN), auch die Einwanderer.
Kann man wirklich auf die Vernunft hoffen?
@Gregor/Norbert
Ich glaube nicht, dass demokratische Systeme »richtige« Ergebnisse liefern oder »unfehlbar« sind – in Summe sind sie der Versuch gesellschaftliche Entscheidungen auf diskursiver Basis zu finden und zu legitimieren. Solche Systeme können selbstverständlich, von im Grunde antidemokratische Kräften, benutzt werden, um an die Macht zu gelangen und dann ihrerseits andere Systeme zu etablieren. Das ist eine Gefahr, der man sich stellen muss und die immer wieder kehren wird, auch weil die freiheitliche Grundordnung es verbietet schon derartige Meinungen (als solche) zu bekämpfen.
Aber dem Extremismus/Radikalismus sind grundlegend antidemokratische Züge eigen, das kann man festhalten, allein, weil er, schon per Definition, immer ein Randphänomen ist: Die radikale Gruppe muss ihre Ideen der Mehrheit aufzwingen. Aber stoßt man hier nicht auf einen zweiten Wesenszug, den der Gewaltbereitschaft, der auch ein Verstoß gegen ein bestimmtes Mensch und Weltbild ist? Theoretisch lässt sich eine Gewaltherrschaft auch auf Mehrheitsentscheidungen aufbauen: Unsere Demokratien versuchen dies zu verhindern in dem sie die Gewalten trennen und Minderheiten schützen.
Zum Fremden noch: Es liegt in der Natur des Menschen, sich gegen das Fremde zu stellen, wo es ihm begegnet, weil es das Eigene in Frage stellt; die Erfahrung von Fremdheit ist ein Erleben, das als solches einmal zu akzeptieren ist, nur sollte man sich die Reflexion darüber nicht ersparen. Warum ist etwas fremd? Wie begegne ich ihm?
Ich glaube das gilt (vielleicht gerade) auch für Einstellungen, die einem selbst fern liegen. Und es bringt mich dahin zurück, dass es vielleicht nicht ausreicht, diejenigen zu bekämpfen, die ihrerseits das Fremde bekämpfen.
@Norbert
Nein, Sie haben recht. Meine Formulierung war ungenau. Aber auch Ihr Hinweis auf das Ermächtigungsgesetz von 1933 ist unrichtig. Es ist nämlich tatsächlich formal nicht legitim gewesen, da die gewählten KPD-Abgeordneten (81) erzwungenermaßen nicht anwesend waren. Auch 26 SPD-Abgeordnete waren ausgeschaltet. Desweiteren hatte das Prozedere etwas putsch-artiges, da der Veranstaltungsort von Pöbeltruppen der Nazis umstellt wurde.
Nicht ganz unerheblich ist auch der Inhalt: Er enthielt Bestandteile, die weit über die ansonsten in der Weimarer Republik fast Usus gewordenen Notverordnungen hinaus gingen, bspw. die Zulassung von Parteien. So konnte man nun alle politischen Parteien außer der NSDAP verbieten – was natürlich auch geschah Dies stand natürlich in Widerspruch zur Weimarer Verfassung. Ein solches Gesetz ist in einer gefestigten Demokratie per se ungültig. Es ist vergleichbar, als schlösse A mit B einen Vertrag, C zu töten. Jedem ist sofort klar, dass ein solcher Vertrag nichtig ist.
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Natürlich können und dürfen demokratisch getroffene Entscheidungen befragt und abgelehnt werden. Aber es darf eben nur institutionell geschehen (hierzu zählen übrigens auch Demonstrationen). Ein interessantes Beispiel ist Stuttgart 21. Hier hatten sich jahrelang nur einige wenige um die Auswirkungen dieses Projektes gekümmert und gemahnt. Selbst bei den Grünen war dies kein Thema – abgesehen von einigen Lokalpolitikern. Erst als institutionell alles beschlossen war – formal wohl korrekt – und die Bautrupps zum Fällen der Bäume anrückte, wachten die Leute auf. Plötzlich wurde dies thematisiert. Ich werfe das den Protestlern nicht vor, wohl allerdings den Grünen in ihrer Gänze als Partei – sie hatte ihre Lokalpolitiker im Regen stehen lassen, als es noch Möglichkeiten zu Veränderungen gegeben hätte. Problematisch wird es nun, wenn die heute stattfindende Abstimmung über die Mittel des Landes von der Verliererseite (das Ergebnis soll ja offen sein) nicht anerkannt würde. Dies meinte ich mit der Akzeptanz von demokratischer Legitimation.
Immer wieder flammt in solchen Diskussion die Sorge um die »falschen« Entscheidungen auf, die in Demokratien fällen können. Sie ist verbunden mit einer grossen Skepsis gegenüber den Entscheidungen der Masse. Dieser Vorbehalt ist übrigens sehr alt; bereits in der Weimarer Republik waren die Vorbehalte gegenüber demokratisch getroffenen Entscheidungen sehr gross. Es ist auch kein spezifisch deutsches Phänomen – als das allgemeine Wahlecht im 19. Jahrhundert in England zur Diskussion stand, schien es den bis dahin agierenden Eliten als ein Unding, von Entscheidungen des Volkes abhängig zu sein.
Wenn man genau hinsieht, haben sich die Argumentationsmuster kaum geändert: Man glaubt, einen richtigen Weg gefunden zu haben und will diesen Weg unabhängig von kurzfristigen Meinungsströmungen in der Masse umsetzen. Wenn man böse ist, stellt man fest, dass auf diese Art und Weise die europäische Einigung in den meisten Ländern der EU umgesetzt wurde. Sie wurde als zu kostbar empfunden, um sie einer Wahl auszusetzen. Das Ergebnis ist nun, dass sich in vielen Parteien sogenannte rechtspopulistische Gruppierungen bilden und massenweise Zuspruch finden. Statt sich auf deren Argumente nun einzulassen und diese sukzessive zu entzaubern, werden sie – das ist einfacher – verteufelt. Dies führt jedoch zumeist nicht zum Abschwellen des Phänomens, sondern verleiht ihnen noch einen gewissen Märtyrerstatus.
Demokratie ist – hierüber kann kein Zweifel bestehen – immer auch ein »Risiko«. Wenn man das nicht möchte, muss man Alternativen benennen. Worin bestünde sie? Eine »gute Diktatur«? Ist das nicht ein Widerspruch in sich? Bitte um Vorschläge.
A schließt mit B einen Vertrag auf Kosten von C ist in BW gerade zweimal auf unerhörte Weise passiert. Zu glauben, dass Bahnprojekt wäre zum Wohle des Landes ersonnen worden, ist absurd. Daher kann man monieren, dass die Grünen dies zu spät erkannt hatten (konnten sie es überhaupt?), ändert aber nichts an der Tatsache, dass das politische System in solchen Fällen völlig versagt. Man erinnert sich vielleicht an die Anfangsszene aus Per Anhalter durch die Galaxis.
Es fehlt erstens Transparenz und zweitens das seit römischer Zeit bekannte System der Checks and Balances (Man schaue z.B. auf das System aus Sympathikus und Parasympathikus, auch technisch vielfach verwendet). Dies ist in der deutschen Verfassung aus bekannten Gründen unzureichend gelöst und bedarf dringender Änderung. Hätte bei S21 vollständige Transparenz (eine elementare Forderung an den perfekten Markt) über die Bedingungen und Finanzierung bestanden, wäre dieses Projekt unter bürgerlicher Kontrolle niemals zu Stande gekommen. Also, her mit dem Volkstribun!
Das gleiche gilt im wesentlichen für die Übernahme der EnBW-Anteile.
P.S. Ich habe gestern gehört, dass Projekte gegen Linksradikale mit bis zu 90% gefördert werden, die gegen Rechte aber nur bis maximal 50%. Ein Totalversagen!?
Auch den Kritikern der Art und Weise, wie die EU- und Euro-Verträge zustande gekommen sind, kann man wie den S21-Kritikern entgegen halten: formal alles legal und demokratisch legitimiert, hättet euch mal früher beschweren sollen. (Noch lieber aber natürlich wird EU-Gegner quasi Kriegstreiberei vorgeworfen, das finde ich ja immer ganz besonders konstruktiv.)
Aber zurück zum Thema: Seltsamerweise ähneln sich ja rechtsextreme und die üblichen Mainstream-Politik-Diskurse darin, dass ständig auf Wahrheit und Richtigkeit referenziert wird – und nicht darauf, dass demokratische Verfahren deliberativ sind und kein Theologie-Seminar, um die Wahrheit herauszufinden oder durchzusetzen. Diese Unfähigkeit, Differenz auszuhalten (selbst wenn man Teil der Mehrheit ist) und Konflikte politisch, d.h. für mich v.a. diskursiv, zu verhandeln, scheint mir, je länger ich mich selbst politisch interessiere und engagiere, das Hauptproblem unserer gegenwärtigen Situation zu sein. Um es völlig verkürzt, aber plastisch auszudrücken: In Deutschland haben immer noch viel zu wenig Spaß dran, sich wirklich heftig zu streiten, aber sehr viele gar kein problem damit, den anderen den Mund zu verbieten.
@Doktor D
Es besteht schon ein Unterschied zu einer kommunal- bzw. landespolitischen Entscheidung mit öffentlichen Anhörungen und dem EU- bzw. Maastricht-Vertrag bzw. ‑Verträgen. Letztere sind tatsächlich nur auf sehr abstrakter Ebene legitimiert; die EU-Kommission ist es ja nur sehr eingeschränkt. Hierin liegt m. E. ein Kernproblem der europäischen Integration: Sie ist aus einer diffusen Furcht vor der »falschen« Entscheidung der Bürger nicht ausreichend legitimiert worden. Volksabstimmungen zu entscheidenden EU-Fragen (Euro; Verfassung) gab es nur sehr vereinzelt und negative Ergebnisse wurden quasi durch eine erneute Abstimmung verändert (mit ein paar Schönheitskorrekturen).
Die Abstimmung über »Stuttgart 21« zeigt mir, dass ein Vorbehalt gegenüber sogenannter »direkter Demokratie« nicht so einfach von der Hand zu weisen ist. Entscheidend ist hier die Beteiligung der Bürger, die doch ziemlich erschreckend niedrig ist. Ich habe ähnliches bei kommunalen Entscheidungen in Düsseldorf festgestellt; fast immer wurde hier erst gar nicht das Quorum erreicht. Dabei wurde u. U. ein gewisses Thema medial sehr hoch angesiedelt – am Ende stellte sich dann jedoch zumeist Desinteresse heraus. Ähnliches befürchtet man wohl in der Akzeptanz grundlegender Fragen.
Ich stimme Ihnen zu, wenn Sie vom »Grundübel« sprechen, welches darin besteht, Differenz nicht mehr auszuhalten – auf beiden Seiten. Das scheint jedoch schon seine Basis in den Medien zu finden. Jede Diskussion bspw. innerhalb einer Partei ist gleich ein »Streit«, »Ärger« oder »Zoff«. Eine Wahl ist ein »Machtkampf«. Der Fetisch heißt »Geschlossenheit«. Das Ziel ist die Wagenburg, das klare Weltbild; gut und böse fein säuberlich sortiert.
Ich glaube nicht, dass das ein Phänomen der Zeit ist. Es wird nur deutlicher.
@GK: Der Vergleich war auch eher ironisch gemeint, wobei: Zumindest das baden-württembergische Landesparlament scheint relativ systematisch über die damals schon bekannten Budget-Sprengungen von CDU-Regierung und Bahn desinformiert worden zu sein. Da scheint sich mir auch eine gewisse paternalistisch-autoritäre Haltung gegenüber den kleinen Dubbeles zu zeigen, die halt net so recht wissen, was gut für sie ist. Die Regierung aber schon. (Kostenwahrheit hätte aber wahrscheinlich gar nix an der unbedingten Zustimmungswütigkeit der damaligen CDU/FDP/SPD-Fraktionen geändert.)
Ich fand die Beteiligung an der Abstimmung erstaunlich hoch (zumindest im Vergleich zu anderen Volksabstimmungen), aber vielleicht gebe ich mich auch mit zuwenig zufrieden.
Würden Sie die Konfliktscheue / Konsenssucht als typisches Merkmal der deutschen politischen Kultur sehen? Oder sitze ich da einem Klischee auf? Mir kommt die Frage in dem Sinn, da bei meiner eigenen Re-Demokratisierung die Erfahrung angelsächsischer Streitkultur (aber auch in der idealen Form als debating club an Unis) eine wichtige Rolle gespielt hat.
Dass die meisten Menschen Politik nur noch als mediales Spekatkel erfahren, ist m. E. ein weiteres Problem: Wenn man nicht selbst wenigstens ein paar Mal, und wenn auch nur in kleinen kommunalpolitischen Auseinandersetzungen aktiv war, hat man ziemlich unrealistische Vorstellungen, wie Politik passiert (quasi als Handwerk). Zu Verschwörungstheorien und zu dieser für mich wirklich abstoßenden Nörgeligkeit gegenüber Politikern, die uns ja alle für dum und blöd verkaufen, ist es dann nicht mehr weit. Seitdem ich politisch engagiert bin, ist mein Respekt vor und Verständnis Politikern deutlich gestiegen.
»Verständnis für Politiker« muss es natürlich heißen.
@Doktor D
Projekte wie dieser Bahnhof werden kostenseitig immer geringer veranschlagt, als sie es dann sind. Es ist jedoch nicht von der Hand zu weisen, dass hier ein gewisser Größenwahn bei den Bauherren Urständ feiert, der schwer nachzuvollziehen ist. Man muß allerdings bedenken: Mehdorn neigte immer schon zu exzessiven Bauten (Bahnhöfe in Berlin, Leipzig), die allesamt vollkommen überzogen waren. Wenn man dann durch so manche Ruhrgebiets- oder Eifelprovinz mit der Bahn gefahren war, sah man Minibahnhöfe, die man problemlos als Kulisse für einen Film hätte heranziehen können, der 1947 spielt.
Zur Konfliktscheuheit/Konsenssucht: Ich bin nicht sicher, ob es sich um ein spezifisch deutsches Phänomen handelt. Was ist mit Österreich – ein Land, dass seit vielen Jahren praktisch nur im Konsens existiert? Oder die Konkordanzdemokratie Schweiz? beides übrigens Länder mit starken rechtspopulistischen Parteien. Die politischen Debatten in Frankreich, Großbritannien und auch in den USA werden oft mit ungleich grösserer Schärfe geführt, wobei inzwischen die USA nicht unbedingt mehr das beste Beispiel abgibt. Vermutlich dominiert in deutschen Diskursen mehr als in anderen Ländern ab einer gewissen Stufe der Diskussion der persönliche Angriff zu Ungunsten des Arguments. Man kann immer wieder feststellen: Im Zweifel bekommt dann die Person das Fett weg. Das gilt im übrigen auch umgekehrt (auch wenn das seltener ist): Telegene bzw. medial begabte Persönlichkeiten werden eher hoffiert. Sie werden aber auch schnell wieder »entsorgt« – ja nach Lage und Zeitgeist.
Die Personalisierung von öffentlichen Diskursen trägt am Ende dazu bei, dass es thematisch eher lau bleibt und zu verhärteten Fronten führt, die oft genug mit der Sache nichts mehr zu tun haben.
Im Privaten hat man’s gerne harmonisch. Oft hört man – bei älteren Menschen – den Satz: Über Politik und Religion spricht man nicht. Darin liegt die Furcht vor Diskussion, vor dem Anecken.
In Österreich hat das m.E. einerseits historische (die Republik entstand aus einem Konsens der politischen Kräfte), andererseits machtpolitische Gründe (keine Partei gibt freiwillig ihre Einfluss und Machtsphären her: Man tauscht sie oder verzichtet wechselseitig).
Ein Konsens ist nichts grundsätzlich negatives, es hängt nur davon ab wie er zustande kommt; er bedeutet einen (gesellschaftlichen) Ausgleich, was langfristig wichtig ist (Gerechtigkeit) und sich mit den Argumenten des anderen auseinandergesetzt und sie verstanden zu haben.
Solange (hauptsächlich) argumentativ gestritten wird, ist nichts dagegen einzuwenden, alles andere kann mir aber gestohlen bleiben.
Natürlich ist ein Konsens nicht per se negativ. Es kommt nur darauf an, ob man einem vorauseilenden Harmoniebedürfnis gehorchend einen Konsens sozusagen »um jeden Preis« anstrebt.
Andererseits kann der Verzicht auf einen Konsens auch falsch sein. So werden beispielsweise in Großen Koalitionen bestimmte Politikfelder einfach ausgespart, weil sich bei den beiden Parteien keine Einigung erzielen lässt. Die Folge ist, dass notwendige Anpassungen nicht stattfinden, um den Koalitionsfrieden nicht zu gefährden. Oder es finden nur halbherzige, kleinere Korrekturen statt, die niemandem weh tun.
In den USA erleben wir in der radikalen Verweigerung der sogenannten »Tea-Party«-Bewegung die Entzauberung eines Diskurses: Bisher war man davon ausgegangen, dass es ein gewisses übergeordnetes Interesse gibt, welches über einen Kompromiß einen Konsens herstellt. Auf verblüffende Art und Weise wird dies nun ausgehebelt. Solche Formen der Radikalverweigerung sind tatsächlich demokratiefeindlich. Aber wie damit umgehen? In Europa würde man institutionell über Neuwahlen eine solche Situation versuchen zu regeln. In den USA ist das scheinbar nicht möglich.
Zusammenfassend vielleicht: Ein Konsens, der um seiner selbst Willen angelegt ist, birgt die Gefahr von Stagnation sozialer, politischer und ökonomischer Entwicklung. Man kann das sehr gut bei den Entscheidungen des Europäischen Rates erkennen; hier dominiert der Kompromiss bzw. Konsens bis hin zur homöopathischen Ausdünnung von Argumentationssträngen. Interessanterweise sind die Folgen bei der Konfrontation um jeden Preis ähnlich.
Schöner Zufall: Anlässlich von S21 und der neu entdeckten Liebe zur direkten Demokratie hat sich Stephan Trüby ganz spannende Gedanken über den Schweizer Konsensualismus, die SVP und die Volksbefragung in Permanenz gemacht: http://www.archplus.net/home/archiv/artikel/46,3731,1,0.html
Kleine Ergänzung: Bodo Morshäuser im Deutschlandradio Kultur: Die alten Erzählungen der Ehemaligen über die braune Mordserie – Die richtigen Fragen stellen – mp3, ca. 4:20 Min.
# 13 @metepsilonema
Natürlich bringen demokratische Systeme nicht immer richtige oder unfehlbare Entscheidngen zustande. Was sind das überhaupt, wer definiert, was richtig oder falsch ist. Jedenfalls istdas Ergebnis eines Diskurses auch nicht unfehlbar. Alle Seiten bringen doch nur die Argumente, die für sie sprechen und verschweigen die anderen. Andererseits we´ß ich auch keinen besseren Weg, als über Kommunikation und öffentlichen Diskurs. In Hamburg kamen zum Beispiel Partikularinteressen beim Volksentscheid über die Schulform durch. Das Ergebnis war ganz sicher nicht richtig im Sinne der Allgemeinheit. Schwieriges Thema.
Auch hier kann ich so nicht zustimmen. Als die Grünen begannen, hatten sie extreme oder radikale Vorschläge. Die Durchsetzung mit Gewalt wurde aber nur von einer Minderheit befürwortet. Wenn wir an die Vermummten oder Rechtsradikalen denken, dann mag die These von der Gewaltbereitschaft stimmen, aber generell habe ich damit Probleme. So waren Forderungen nach Gleichberechtigung der Frauen zu Beginn des Jahrhunderts bis zur Mitte radikal und extrem für die Männergesellschaft, aber wurden doch nie mit Gewaltaktionen vorgetragen.
Den Aussagen zum Fremden stimme ich zu, vermisse aber die Erkenntnis, dass uns dieses Problem nie verlassen wird, im Gegenteil, es wird in Zukunft immer wichtiger werden. Obwohl paradoxerweise die Menschen noch nie so informiert über andere waren als heute. Aber es geht eben vor allem auch um Interessen und häufig ums nackte Überleben.
# 14 @ G. K.
Da kann man streiten, ob die fehlenden Stimmen der Kommunisten etwas geändert hätten. Dass ich selbst diesen Vorgang als nicht demokratisch zustandegekommen ansehe , hatte ich geschrieben. Aber das Zentrum hat sich ohne Terror zu der Zustimmung entschlossen, weil man auf keinen Fall eine linke Regierung wollte.
Also so eindeutigundemokratisch war die Sache nicht.
Ebenso das mögliche Parteienverbot. Man lese einmal Carl Schmitt nach. Ich stimme dem nicht zu, aber es gab schon ernst zu nehmende Argumente.
Das Beispiel mit den Verträgen hilft nicht weiter, weil es das Problem nicht erfasst.
Ich stimme ausdrücklich zu, dass demokratische Entscheidungen nur instituionell geändert werden sollten. Aber ich plädiere auch für mehr Volksentscheide, obwohl hier die Gefahr besteht, dass sich partikulare Interessen durchsetzen. Aber auch im Parlament sind partikulare Interessen vertreten, siehe FDP.
Nein, auch ich weiß keine bessere Regierungsform. Aber ich sehe im Moment eine sehr schlimme Tendenz. Die Bevölkerung ist mit vielem unzufrieden, vor allem mit sozialen Problemen konfrontiert und straft deshalb die jeweilige Regierung unverhältnismäßig ab. So in Ungarn, in Großbritannien, jetzt in Spanien, so 2005 die SPD, nach Hartz IV. Ich befürchte, dass dadurch die Regierungen noch weniger zu notwendigen, aber unpopulären Entscheidungen kommen, weil sie die Macht erhalten wollen.
Wie man das verhindern kann, weiß ich nicht und mein Hang zum Fatalismus lässt mich nichts Gutes ahnen.
@Norbert
Was sind das überhaupt, wer definiert, was richtig oder falsch ist. Jedenfalls istdas Ergebnis eines Diskurses auch nicht unfehlbar.
Zustimmung.
Alle Seiten bringen doch nur die Argumente, die für sie sprechen und verschweigen die anderen. Andererseits we´ß ich auch keinen besseren Weg, als über Kommunikation und öffentlichen Diskurs.
Jein, ein ernst gemeinter Diskurs sollte das m.E. nicht. Oder, falls doch, dann könnte eine Hoffnung darin bestehen, dass die Vielzahl der zu hörenden Stimmen, den Interessierten die Möglichkeit bietet doch zu einem objektiveren Bild zu kommen. Die Frage wäre, inwieweit diese Stimmen überhaupt gleich berechtigt gehört werden können. Besseren Weg weiß ich auch keinen.
Extremismus/Radikalismus: Das ist genau das Problem, das ich gerne gelöst hätte. Mir verschwimmen in den medialen Diskussionen die Begriffe zu sehr, meist weiß man eben nicht, was darunter zu verstehen ist; meint rechtsradikal nur bestimmte Ideen oder auch Handlungsbereitschaft (Gewalt)?
Nein, die Problematik des Fremden wird uns nicht verlassen, aber sie hat mit Informiertheit wenig zu tun: Es ist ein Unterschied ob ich weiß, dass es Frauen gibt, die in anderen Ländern leben und Ganzkörperschleier tragen oder ob ich ihnen in der Nachbarschaft begegne. Die Erfahrung, die emotionale Berührung, das oder der Fremde, ist eine jeweils andere.
@ Metepsilonema
Noch einmal zur Fremdheit. Es ist auch ein ästhetisches Phänomen. Wenn etwas Fremdes schön, exotisch, ansprechend oder überraschend daherkommt, kann ich gut damit umgehen. Das Kopftuch bei einer schönen jungen Türkin wird mich überhaupt nicht stören, im Gegenteil. Doch das Kopftuch bei einer »unansehnlichen« alten Bettlerin stört mich dann auch noch. Obwohl ich weiß, dass diese Frau in einer anderen Gesellschaft sozialisiert wurde und sie also nicht für ihr Aussehen und Verhalten verantwortlich zu machen ist, kann ich mich meinen Gefühlen nie entziehen. Machmal schäme ich mich, oft verdränge ich meine Gefühle und widme mich schnell anderen Dingen.
@Norbert
Sie haben recht, Ästhetik spielt mit herein. Aber was ich eigentlich meinte ist die Erfahrung des Nichtdazugehörens, des Ausgestossenseins (sich ausgestossen fühlen), des Nichteingeladenseins, der Verstörung, Irritation, Destabilisierung, Unsicherheit, usw.
Sich für seine Gefühle zu schämen hat vermutlich wenig Sinn, obwohl ich das selbst auch tue – was ich für wichtig halte: Wer diese Erfahrung von Fremdheit kennt, der wird sie auch bei anderen voraussetzen und akzeptieren können und es wird ihm helfen ihr Verhalten verstehen oder nachvollziehen zu können.