Medientheorie rührt an das mediale Unbewußte von sozialen Großkörpern, die seit dem 18. Jahrhundert als Populationen von Nationalstaaten verfaßt sind, zumeist in Formatierungen von zehn Millionen bis 300 Millionen Menschen und mehr. Im Blick auf diese übergroßen Gebilde statuiert die unbeliebte Theorie: Der aktuelle mentale Zusammenhang solcher niemals physisch versammlungsfähigen Riesenkollektive kann nur durch Massenmedien von hoher Penetrierungswirkung gewährleistet werden, sofern diese den Stoff, aus dem die geteilten Sorgen sind, auf täglicher Basis generieren und umverteilen. Massenkommunikation organisiert das permanente Plebiszit gemeinsamer Sorgen und liefert auch gleich die Ablenkung von diesen mit.
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[Sloterdijk geht auf die Reaktionen auf seinen Essay »Regeln für den Menschenpark« ein]
Ich wußte jetzt, daß Massenmedien, eben weil sie sind, was sie sein müssen, primär nicht informieren, sondern zeichenbasierte Epidemien erzeugen, ich wußte, daß die Menschenrechte des Originals gegen die Gewalt der Paraphrase nicht zu schützen sind, ich wußte, daß es auf massenmedialer Ebene nie um Argumente geht, vielmehr um die Einspritzung mentaler Infektionen…
Quelle: Peter Sloterdijk, »Reflexionen eines nicht mehr Unpolitischen«, Suhrkamp-Verlag, 2013 [E‑Book]
...nur: waren die wortreligiösen Einflüsterungen, die kulturell-gefühlten Überlegenheitsansprüche je so anders?
Irgendwer zitierte letztlich Ayn Rand, in dem Sinne, dass die kulturelle Produktion bestrebt sei sich selbst zu reproduzieren – ist vielleicht gar nicht mehr so fern von Luhmanns autopoietischen Systemen, zu denen die Literatur auch gehören würde? Was ich meine: legt das nicht nahe, dass unsere Kultur schon immer »viral« war? Goethe ist geblieben, obwohl er erst mit einer Inkubationszeit von 100 Jahren ausbrach. Kafkas Überleben wird allein durch exponentiell gewachsener Bücherwände psychoanalytischer Sekundärliteratur sichergestellt. Vielleicht wird demnächst dann ja mal ein Autor abgelehnt mit der Begründung seine Schriften hätten einen zu niedrigen Reproduktions-Wert (R=0.86).
Das mit dem Reproduktionswert ist eine listige Pointe.
Die medialen Einflüsterungen haben in der Gegenwart ganz andere Auswirkungen als ein »viraler« Goethe im 19. Jahrhundert. Einem Jahrhundert übrigens, in dem das Buch zum massenkompatiblen Objekt wurde. Massenmedien im Internetzeitalter sind noch einmal eine andere Katagorie als in den 1960ern oder 1970ern. Hier standen sie tatsächlich noch mit »dem Buch« im Wettbewerb.
Sloterdijks Befunde über Medien und ihre mehr oder weniger erzeugten Erregungen (die in seinem Werk überall verstreut sind) bekommen gerade in den Zeiten der Pandemie noch eine eskalierende Dimension. Journalisten, Schriftsteller, Künstler – sie nutzen die Gelegenheit, den durch das Internet eingeleiteten »Abschied von den Priestern« (ein Bonmot aus dem Netz) rückgängig zu machen. Wo einst Mönche das Wissen der Welt verwalteten und nach ihrem Gusto interpretierten, sind sie es nun, die die einzig wahre(n) Lehre(n) verkündigen. Jegliche Skepsis wird sofort denunziert.
Beschützt Sloterdijk nicht eine Chimäre?! – Ich habe womöglich nicht aufmerksam genug gesucht, aber mir scheint, eine sachdienliche Medientheorie zu den inzwischen erheblichen Kalamitäten der westlichen Informationsgesellschaften liegt einfach nicht vor. Das mag auch mit dem Stil des akademisch akzeptierten »Theoretischen« zu tun haben, dem Sloterdijk ja nur konspirierend aber nicht linientreu folgt. Ja, ein bisschen Medientheorie auf der Basis eines klaren Rationalitätskonzept (ehedem »Vernunft«) wäre wirklich angenehm...
Und hätten wir eine gute Theorie, könnten wir behaupten: Sogar unsere Sorgen haben jetzt schon Sorgen.
Womöglich ist Sloterdijk nicht ganz der passende Mann, er ist seiner Natur nach ja ausgesprochen konziliant. Man musste ihn förmlich in die Arena schubsen, mit Intrigen und Polemik. Als Denker kommt er mir (habe S. lange vernachlässigt) immer noch total unwahrscheinlich vor. Er schreibt an einer Zeitmauer, verlagert sämtliche Lasten auf das Individuum und bildet keine Zukunftsperspektive, wie sie beispielsweise im Amerikanischen Pragmatismus zum Standard gehört. Typisch deutsch, aus den existenziellen Zumutungen werden Gedanken, die keinerlei politische Konsequenzen zeitigen, und sei es auf existenzieller Ebene (»Demokratie, ich hasse Dich!«). Das Gefilterte bleibt in der Schwebe, wie in einem leeren Aquarium... Sollen sich kultivierte Demokraten in medialer Enthaltsamkeit üben, sich dem neuen Normal des »saumäßig schlecht Regiert-Werdens« stoisch beugen?!
Schon richtig, dass Sloterdijk keine konzise Medientheorie vorlegt. Ich glaube, dass nach Luhmann nicht mehr viel gekommen ist außer vielleicht Byung-Chul Han. Von Reckwitz habe ich allerdings zu wenig gelesen. Wenn es stattdessen eine gute Medienkritik geben würde, könnte man das verschmerzen. Aber das ist ja auch nicht der Fall. Die meisten Medienkritiker gefallen sich als Gesinnungsgaukler und bleiben in ihrer Blase.
Medientheorien tun sich schwer, weil sie dem Journalismus und damit den Journalisten, also den Objekten ihres Forschungsgegenstands, nahestehen. Eine Aufarbeitung des Mediengewitters während dieser Pandemie beispielsweise dürfte ich nicht mehr erleben – falls es so etwas jemals geben wird. Es ist eher zu befürchten, dass eine Heroisierung des Journalismus weiter voranschreitet.
Es ist nicht allzu schwer, eine gute Medienkritik zu formulieren. Die kognitionspsychologischen Konzepte wären vorhanden, etwa priming, nudging, catastrophizing, blame society, etc. Aber »Kritik« gibt es ja nur noch als »unbarmherzigen Blick« auf den politischen Gegner, also die Tricks der Anderen im Internet. Dabei ist der kritische Mehrwert natürlich gleich Null, es geht nur ums Gewinnen. Ich frage mich, in welchem Maße die (politischen) Medien unser Daseinsgefühl bestimmen, immerhin darf man von einer veritablen Zukunftsskepsis sprechen, vorallem bei den älteren Generationen... Was natürlich ein »jüdischer Witz« ist, aber es ist auch etwas drann... Dass die Zukunft im Allgemeinen wenig Gutes bringen wird, aber die persönlichen Erwartungen dennoch optimistisch ausfallen, ist ein gut belegbares Umfrageergebnis. Die kollektive und die individuelle Perspektive fallen auseinander, was rein logisch betrachtet schon erstaunlich ist.
@Gregor Keuschnig: In Sloterdijks Zitat kann ich die Wunde der alten Menschenpark-Skandalisierung nachfühlen. Damals wurde er angefeindet von moralisierendem Feuilletonisten, das seinen Text nach inkriminierbaren Wörtern abscannte, ohne ihn lesen zu wollen. Dieser berechtigte Ärger schwingt immer noch nach – und dass er diejenigen, die da vordergründig die Keule der Moral schwingen, als die Feinde der Menschenrechte ausmacht: verständlich.
Allerdings – deshalb meldete ich mich wohl zu Wort – empfand’ ich das Sloterdijksche Instrumentarium (»Gewalt der Paraphrase«, »mentale Infektion«) als etwas ungenügend, um damit z.B. auf heutigen sozialen Medien loszugehen. Da las ich von Ihnen selbst genaueren Formulierungen und Zeitgeistbeschreibungen. – Das war wohl mein ursprünglicher Impuls, mich überhaupt zu Wort zu melden.
Ja, die Verwundungen aus der »Menschenpark«-Rezeption hielt (hält?) Jahrzehnte. Von seinem Duktus kann Sloterdijk natürlich nicht lassen. Meine These ist, dass er an präzisen Formulierungen nicht unmittelbar interessiert ist bzw.seine Fabulierlust mit ihm durchgeht.
»Mentale Infektion« finde ich in Bezug auf Medien gerade ziemlich aktuell. Dass Sloterdijk keine konzise Medienkritik vorbringt, ist bedauerlich. Aber er möchte vermutlich nicht sein philosophisches Umfeld verlassen. Dass damit seine Texte in einer Zeit des »Querlesens« bei Feuilletonisten Überforderung verursachen, nimmt er wohl inzwischen hin.