Letzte Woche schickte mir Leopold Federmair neun Texte. Es sind Anmerkungen zu »legendären Sätzen« wie »Ich weiß, daß ich nichts weiß« oder aber das Motto dieser Seite hier »Denken ist vor allem Mut«. Federmair transformiert diese Sätze in die heutige Zeit und zeigt wie sie unter den Bedingungen des digitalen Zeitalters zu neuer und auch – zuweilen – anderer Bedeutung kommen. Ich würde diese Texte gerne in neun Teilen über zwei, drei Monate verteilt publizieren, zumal sie auch genügend Stoff für Diskussion bieten. Mit der Handvoll regelmässiger Kommentatoren könnten sich zusätzliche interessante Aspekte ergeben.
Fast zur gleichen Zeit wurde ich jedoch auf eine andere Sache aufmerksam, der ich bisher kaum Bedeutung beigemessen hatte. Ende Mai diesen Jahres tritt die sogenannte »Datenschutz-Grundverordnung« (DSGVO) der Europäischen Union in kraft. Bisher hatte ich dieses Datum als für mich eher irrelevant eingeschätzt. Ein bisschen googlen hier und dort zeigt mir allerdings, dass die Sachen nicht so einfach liegen. Es ist nämlich keineswegs so, dass dieses Verordnungsmonstrum nur die großen Internetanbieter trifft. Auch Blogs werden davon betroffen sein. Etwa, wenn es um diesen neuen Fetisch der Entäusserungskultur, das sogenannte »Recht auf Vergessen«, geht. Kommentatoren (meist Rechtsanwälte) interpretieren dies so, dass am Ende auch der Blogbetreiber es ermöglichen muss, dass jemand beispielsweise seine Kommentare jederzeit löschen können muss – ob nach drei Minuten oder eben auch in vier Jahren. IP- und E‑Mail-Adressen müssen ebenfalls irgendwann gelöscht werden. Oder es müssen eben Tools eingerichtet werden, die dies ermöglichen. Tools, die WordPress nicht im Angebot hat. Tools, die immer mehr Arbeit machen, weil sie nach Updates auch immer angepasst werden müssen.
Natürlich hat jeder das Recht seine Meinung zu ändern. Aber warum muss dann ein Kommentarstrang, in dem seriös diskutiert wurde und der Rekurs nimmt auf Kommentare anderer, auseinandergerissen werden? Kann man nicht einfach in einem anderen Kommentar schreiben, dass man heute eine andere Meinung vertritt? Und warum soll es plötzlich gesetzlich geregelt werden, ob ich eine Mail-Adresse eines meist mir unbekannten Kommentators wünsche oder nicht?
Aber wenn ich den Anforderungen dieser Verordnung nicht genüge drohen Abmahnungen – und es wird sicherlich eine Menge »Anwälte« geben, die im Juni mit ihren dementsprechenden »Gewinnmaximierungsprogrammen« beginnen werden. Setze ich mich dem aus? Schon die Impressumpflicht, die eine Adresse verlangte statt einer E‑Mail, stört mich. (Dass es immer noch Akteure gibt, die sich hier scheinbar folgenlos entziehen können, ist bemerkenswert.) Und auch dass ich bestimmte Analyseprogramme auf Anraten meines »Maschinisten« entfernt habe (Abmahngefahr: man konnte im Quelltext erkennen, wer sie – halb illegal scheinbar – verwendet), störte mich schon sehr. Warum soll ich, der mit Müh und Not 30, 40 Leser pro Beitrag erreicht, in vorauseilendem Gehorsam päpstlicher als der Papst sein? Dennoch habe ich es gemacht. Wer mich jetzt liest – ich habe keine Ahnung, es sei denn, es kommentiert jemand. Die neue Verordnung macht aus jeden Blogger jedoch erst einmal einen wütenden Datensammler. Ein bloßer Hinweis auf das, was man tut (und nicht tut) genügt nicht mehr. Paternalismus halt, angeordnet von Idioten, die keine Ahnung haben, was sie damit anrichten.
Mein Eindruck ist, dass die meisten Blogger die DSGVO derzeit kaum zur Kenntnis nehmen. Die Datenschutz-Erklärungen, die ab Ende Mai zwingend erforderlich sind, fehlen entweder oder befinden sich auf dem Stand von 2014 oder 2016. Die Grundstimmung scheint die der Ignoranz zu sein. Hier ist der Wunsch der Vater des Gedanken. Aber die Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat, sind vorbei. Vielleicht ist es eine gewisse Panik meinerseits, aber es besteht die Möglichkeit, dass diese VO das Bloggersterben erheblich beschleunigen wird. Denn wer will sich ernsthaft durch diesen bürokratischen Dschungel voller Fallen durcharbeiten wollen, nur um ein paar Texte im Netz schreiben zu dürfen?
Meine vorsichtige Andeutung auf Facebook und Twitter, dass ich womöglich meinen Blog schließen muss, wurde sehr zurückhaltend kommentiert. Dass sich nach mehr als 12 Jahren Schreiberei gerade einmal ein Dutzend Menschen zu einem Bedauern finden, legt den Schluss nahe, dass man vielleicht wirklich besser aufhören sollte.
Ich habe mich erst einmal entschlossen, mit der Publikation der Federmair-Texte in den nächsten Tagen zu beginnen. Dann sehen wir, dann sehe ich weiter.
Vielen Dank erstmal.
Ja, wir sehen weiter.
Ich hoffe immer noch auf eine simple Sicherheit durch wp! Eventuell vergeblich.
Gruß von Sonja
Sehr geehrter Lothar Struck!
In oben genannter Sache kann ich nur – im eigenen Interesse – wünschen und hoffen, dass Sie Ihren Blog nicht einstellen werden. Zwar lese ich nicht jeden Beitrag komplett; dennoch schätze ich Ihre enorme Sachkenntnis sehr und habe bereits etliche Bücher durch Sie entdecken dürfen, die mir ans Herz gewachsen sind. Sie sind einer der ganz raren Lesenden, die eine Buchbesprechung verfassen, nachdem sie das Buch auch wirklich gelesen haben. Ihre Beiträge sind einfach luzide, stets anregend und selbst dann, (oder gerade dann?) wenn ich nicht Ihrer Meinung bin, weiterführend. Es wäre zu schade, wenn wieder einmal eine solche Stimme verstummte! Ohne Sie hätte ich weder Florjan Lipus für mich entdeckt, noch Rainer Rabowski ... Außerdem wer könnte so kenntnisreich über Peter Handke schreiben, von dem ich vieles sehr schätze?
Bitte betrachten Sie diese Zeilen als Aufmunterung!
Selber biete ich nunmehr seit 12 Jahren zwei Literarische Salons an, in denen sich alle 14 Tage zehn bis 15 feste Teilnehmende treffen. Da die Kurse viel Vorbereitungszeit benötigen, ich zudem knappe 60 km zu den beiden Veranstaltungsorten fahren muss, nichts dabei »verdiene«, habe ich oft bereits gedacht, die Sache einzustellen. Gut, dass ich es nicht getan habe, den ich werde stets durch Leseeindrücke der Teilnehmenden bereichert. Auch das ist ein Mehrwert, jenseits der Frage, ob sich etwas rechnet ... Wir verarmen geistig, wenn nur noch allenthalben und allerorten Infotainement und Flachheiten serviert werden, die sich auch noch als große Literaturkritik gebärden.
Bitte geben Sie nicht auf!
Herzlich und hochachtungsvoll
Ihr Olaf Schrage
Herr Schrage, haben Sie lieben Dank für Ihren Kommentar.
Das eventuelle Aufgeben hat damit zu tun, dass mich den Gegebenheiten und Richtlinien, die auch für Webangebot wie Begleitschreiben gelten sollen nicht abfinden will. Mache ich es aber nicht, droht die Abmahnfalle, d. h. 700 oder 1000 Euro und das womöglich mehrmals.
Lassen Sie mich ein bisschen böse werden: Sie schreiben, dass meine Texte anregend für Sie seien, selbst dort, wo Sie nicht meiner Meinung sind. Aber gerade dies wäre für mich sehr interessant zu erfahren. Denn dafür habe ich doch ein Kommentarfeld eingerichtet. (Ich weiß natürlich, dass dafür oft genug Zeit und Muße fehlt. Es soll auch kein Vorwurf sein.)
Herr Struck,
der Hintergrund mit Abmahnungen in finanzieller Höhe war mir gar nicht klar. Das ist natürlich schwierig!
Zum Bösewerden: Mir geht’s oft schlicht so, dass ich meine Meinung nicht so entscheidend finde. Ferner fehlt mir bei dieser Art der virtuellen Kommunikation schon ein wenig das wirkliche Gegenüber. Was das bloggen angeht, so bin ich da auch sehr ungeübt. Keine Entschuldigung, den, der eine Sache anbietet, in dem Fall Sie, nicht mit einer Reaktion (Widerspruch, Gegenrede etc.) zu bedenken. Da haben Sie natürlich Recht.
Also Walle Sayer hätte ich jedenfalls ohne Ihren blog nicht kennen gelernt ...
In Sachen »andere Meinung sein« ist es bei mir weniger in Ermangelung von Zeit oder Muße, als eher eine gewisse Bequemlichkeit, die durch die Anonymität des Netzes noch gefördert wird, die dazu führt, dass ich »schweige«; ferner braucht’s manchmal auch eine Weile, das Gelesene zu verdauen. Dann aber ist oft die kurzsterbige Zeitkarawane bereist weitergezogen ...
So weit erst einmal...
Schon sprachlich ist das »Recht auf Vergessenwerden« Humbug, da man kein Recht auf etwas haben kann, das man gar nicht herstellen kann (etwas vergessen ist nichts, was man steuern kann, es ist etwas das passiert, fast immer gegen den eigenen Willen und nur zufällig mit ihm). Wenn man bestimmte Geschäftspraktiken nicht will, kann man sie verbieten oder entsprechende Vorschriften machen, wer seine alten Kommentare nicht mehr sehen kann, kann sie selbst löschen oder editieren, es ist allerdings unverständlich warum ein Betreiber einer Kommentarlöschung nachkommen soll, wenn ihn ein anderer geschrieben und er die Konsequenzen abschätzen konnte (so wie das für jede verbale oder schriftliche Äußerung in der Öffentlichkeit und im privaten Bereich ebenso gilt).
Dass ich diesen Ort hier sehr schätze weißt Du, ich brauche das, glaube ich, nicht betonen.
Ich fände es auch schade, wenn dieses Blog – in meinen Augen so etwas wie eine feste Institution – von der Bildfläche verschwinden würde. Es wäre ein herber Verlust für die Bloggerwelt.
Im übrigen habe ich Stimmen gehört, die zur Gelassenheit raten. Nicht-kommerzielle Blogs seien nicht betroffen. (Nachzulesen hier.)
Ich sehe dieses inzwischen rauf und runter beklagte Sterben nicht-kommerzieller Blogs nirgends, im Gegenteil. Ich sehe, daß es mehr »anarchische« Blogs gibt als je zuvor. Alleine auf WP. Suchen Sie nur mal innerhalb der bei WP gehosteten Weblogs nach irgendwas Harmlosem, beispielsweise »Wandern« oder »Spitzendeckchen« oder »Hausaufgaben«. Ganz zu schweigen von einem brisanten Suchbegriff wie »Knausgard«. Und das sind eben nicht kommerzielle Buchhändlerblogs, sondern zumeist Seiten, denen es um den Inhalt geht.
Ich will nicht behaupten, daß sich das alles zu lesen lohnt, aber das war ja auch nicht die Frage. Zu den nichtkommerziellen Blogs gehören eben auch die unzähligen Katzen‑, Hunde‑, Mäuse‑, Anakonda- und Stabheuschreckenblogs, die es so gibt. Die Strick- und Häkelblogs; die Abnehmblogs; die Kochblogs; die urbex-Blogs; und vermutlich gibt es zu jeder noch so abseitigen sexuellen Vorliebe hunderte. Von den Conlang-Seiten ganz zu schweigen. Reiseblogs, Sportblogs, etc ad nauseam.
Inzwischen hat wohl jeder halbwegs netzaffine Mensch mindestens mal für ein paar Wochen ein Blog ausprobiert. Die Hemmschwelle ist gesunken, die Bekanntheit des Konzepts Blog stark gestiegen. Als ich anfing zu bloggen, 2004 war das, mußte eine Sendung im WDR erst noch erklären, was Blogs überhaupt sind. Das ist heute undenkbar. Mein Feedreader ist jedenfalls so voll wie nie. Kommerzielles ist da nicht drunter. Und es kommen jeden Monat ein zwei neue dazu. Und das sind nur die Blogs, die zufällig mich interessieren.
Ich denke, der Eindruck eines Blogschwunds beruht auf etwas anderem. Wenn es früher im deutschsprachige Raum, sagen wir 10.000 nichtkommerzielle Blogs gab und 100 kommerzielle, heute aber 100.000 nichtkommerzielle und eine Million kommerzielle, dann gäbe es trotzdem zehnmal mehr »anarchische« Blogs heute – auch wenn die unter der Million kommerzieller Blogs schwerer zu finden wären. Das heißt, es ist gut möglich, daß die Zahl der kommerziellen wie der anarchischen Blogs sich vervielfacht hat. Nur ihre Ratio ist jetzt vielleicht eine ganz andere. Indessen vom Sterben der Blogs im allgemeinen zu sprechen, scheint mir verfehlt.
@solminore
Vielen Dank für Ihre Einlassungen. Sicherlich gibt es diese Häkel‑, Bastel‑, Abnahm- und sonstigen Blogs. Und es gibt auch viele viele deutschsprachige Buchblogs. Alles okay. Aber es gibt immer weniger Bereitschaft, sich in diesen Blogs auf etwas einzulassen. Es ist natürlich legitim und schön, wenn jemand seine Häkelresultate, sein neues Kochrezept oder ein Katzenvideo postet. Aber das meine ich nicht mit »anarchischem« Bloggen.