Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar: Ingeborg Bachmann begann ihre Rede mit der Feststellung, dass es wunderbar sei, wenn der Schriftsteller bemerkt, dass er zu wirken vermag [...] umso mehr, wenn er wenig Tröstliches sagen kann vor Menschen, die des Trostes bedürftig sind, wie nur Menschen es sein können, verletzt, verwundet und voll von dem großen Schmerz, mit dem der Mensch vor allen anderen Geschöpfen ausgezeichnet ist.
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Vielleicht nur scheinbar »off topic« – mir aber ein Bedürfnis:
Die Wahrheit, die den Selbstmörder zum tödlichen Sprung ansetzen lässt, muss man unbedingt verschweigen.
Grossartig!
Und dass, obwohl ich die Bezeichnung »Selbstmörder« eigentlich nicht mag... Aber die Intention dieses Satzes ist eben großartig.
Herzlichen Dank!
Aber wäre sie, »die Wahrheit«, dann noch »wahr«?
Abgesehen davon, dass ich ihrer »Zumutbarkeit« immer und überall schon lange nicht mehr zustimme: Müsste sie, als ja stets zumindest gewusst unvollständige, um auch nur hinreichend wahr zu sein, ihre Zweifel und Fraglichkeiten nicht zumindest immer mit ausstellen?
Überspitzt formuliert: Kann sie sich um Selbstmörder, also um wie sie selber immer Unzureichende, denn kümmern ohne das Mindeste, nämlich den Anspruch auf sich selbst zu verlieren?
(Sogar zum Trost – und vielleicht am ehesten noch zu dem mir sehr einleuchtenden Camus’schen Trost – könnte man dann evtl. noch auf ganz anderen Wegen gelangen.)
Lieber en-passant,
ich verstehe zwei Aspekte nicht: Warum sollte sich die Wahrheit um den Selbstmörder kümmern müssen? Und wenn sie das doch tun sollte, dann doch als persönliche oder eine, die ihrer Zweifel und Fraglichkeiten bewusst ist.
Die anderen Wege würden mich sehr interessieren.
@Metepsilonema
Nein, nein, das meinte ich ja: Die Wahrheit – könnte man ihr etwas Selbst-Intentionales unterstellen -, dürfte sich eigentlich um den Selbstmörder nicht kümmern.
Während wir Menschen das in jedem Fall müssten – selbst wenn es uns in allem übersteigt. Und das deutet schon wieder auf das der Wahrheit letztlich eher eignende Relative: Das Unbedingte mag in seltenen Fällen für Menschen gelten – und dann wieder doch nicht, weil wir ja Menschen, also per se fehlbar sind. Während die Wahrheit – wenigstens so meistens ihr von uns unterstellt – auf das Absolute verweist – was sie aus sich aber eben nicht leisten kann (also absolute Geltung), da sie zuletzt immer eine den Umständen unterworfene bleibt. (Der Fehler ist wohl dieser Absolutismus selbst, das Entwder – Oder: Eine Zwangsstruktur, die den Realieen nicht mehr gerecht wird.)
Und das berührt letztlich auch Bachmanns »Zumutbarkeit«. Darin steckt ein moralischer Heroismus – der seine eigene Gültigkeit haben mag, aber so apodiktisch, zumindest heutzutage, eigentlich nicht mehr gelten kann. Tertium datur!
Überhaupt sehe ich Bachmann immer mehr, so sehr ich sie immer noch schätze, in ihrer Zeitverhaftetheit. Würde es etwa »wahre Sätze« geben, müssten wir mit über zweitausend Jahren an Geistesgeschichte nicht eigentlich schon zu ein paar von ihnen gekommen sein?
Ich sehe Wahrheit als eine Referenz, ohne die es unter Menschen, die auf Verbindlichkeit und Begründungspragmatik angewiesen sind, nicht geht.
Das Dritte aber – ist es vielleicht eben der Trost?
Danke.
Ja, es geht nicht ohne eine Art Wahrheit, weil wir eigentlich immer über uns selbst hinaus reichen wollen oder müssen (außer es gäbe nur eine einzige Monade). Selbst die Behauptung, dass es keine Wahrheit gibt, enthält eine. Vielleicht kann man sie als diskursive »Stimmigkeit« auffassen, als Orientierungshilfe in einer undurchsichtigen Welt – eben: Eine Referenz.
Ob das Dritte der Trost ist? Interessanter Gedanke.
@Gregor
Ich glaube Du hast es schon einmal erklärt, aber was stört Dich am Begriff des Selbstmörders? Der Mord?
@Metepsilonema
Ja, »Mord« ist in Bezug auf das eigene Ich ziemlich pejorativ emeint. Seit Jean Amérys Essay »Hand an sich legen« versuche ich diesen begriff zu vermeiden, weil er eben immer diese Schuldfrage stellt und beantwortet: Ein Mörder ist schuldig – also auch ein Selbstmörder. Man darf keinen anderen menschen töten, aber man darf durchaus sich selber töten. Ich bevorzuge daher »Freitod«, wobei es dazu kein sinnvolles Substantiv aus Sicht des Tötenden gibt; »Freitöter« klingt unsinnig.
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Amérys Essay hat mich sehr beeindruckt, weil er die Selbsttötung als freie Entscheidungsmöglichkeit sieht. Natürlich berücksichtigt er immer einen streng intellektuellen Standpunkt, d. h. einen krankhaftes Selbsttötungstrieb beleuchtet er nicht. Für ihn ist dieser Akt Ausdruck der Freiheit des Menschen (gegen Kant, der ja den Selbstmörder geißelte). Er ist Jahre später diesem Diktum gefolgt und hat dann Hand an sich gelegt.
Trost und Wahrheit
Ich finde diese Dichotomie interessant. Aber ich weiss nicht, ob es aufgeht. Nach dem Wegfall des »metaphysischen Trostes« (Nietzsche) entsteht im »modernen« Subjekt eine seltsame Leere. Man kann zeigen, wie parallel zum Bedeutungsschwund der Religionen die Technifizierung und der Glaube an die Naturwissenschaften fortschritt. Hinzu kam, dass die Ökonomisierung der Welt das Heil im Diesseits versprach – allzu verlockende Aussichten.
Vielleicht ist – um noch ein bisschen Öl in das Feuer um die Diskussion über Moderne und Postmoderne zu gießen – die Postmoderne die Epoche, die auch diesen diesseitigen Trost in der irdischen Religion des Fortschrittsglaubens nicht mehr entdecken kann. Gewissheiten taumeln in Abständen von Legislaturperioden. Die säkularen Welterklärungs- und Weltrettungsmodelle funktionieren nicht mehr. Es gibt nur noch Wahrheiten auf Zeit – wobei das Schlimme ist, dass wir diese Zeiten erleben. Irgendwann erscheint nichts mehr wahr – was die Produktion von Mythen und Verschwörungstheorien anfacht.
Was bleibt also als Trostgeber? Die Kunst? Die Literatur? – Ich halte diesen Gedanken für zweischneidig.
Nur als Hinweis...(auf sowas wie einen Gottesbeweis)
Ich bin längst kein »Gläubiger« der laufenden Ergebnisse der Neurologie (sie ziehen meist viel zu schnelle Schlussfolgerungen bzw. Spekulationen nach sich). Aber interessant ist wohl doch, dass es in Menschenhirnen eine Art physiologische Entsprechung zu einer Art metaphysischen oder einem transzendenten Vermögen geben soll.
Möglicherweise ist es ein Abfallprodukt der diskreten Hirnverarbeitung oder existiert es nur für Extremfälle (siehe etwa die Erlösungs- und Lichttunneleffekte bei klinisch Gestorbenen, die Möglichkeiten Schmerz auszublenden, zu einem Glauben, der Berge versetzt). Aber es deutet auf ein emergentes, ein per se vorhandenes Potenzial. Und damit – wiederum möglicherweise – auf ein Bedürfnis, ein Wirkungsmoment im Regelkreis, das bedient werden will oder unwillkürliche Effekte zeitigt, über deren Sinneffekte wir dann rätseln.
Wie gesagt, das würde sicher nicht alles erklären. Aber auch so manche Äußerung an menschlichen Bedürftigkeiten, im Glauben wie im postmodernen Alltag, erscheint dadurch womöglich in einem etwas anderen Licht – schon allein, dass wir nach allen Aufklärungen dieser Gottsache nicht entkommen. (Wie man hört, sind sogar manche alle Unvernunft leugnende Wissenschaftler »abergläubig«. Aber man sehe auch die starken Wirkungen der Warenästhetik-Profanien.)
Und wahrscheinlich müsste man auch alle Neurologie wiederum separieren von einer Qualität wie »Trost« – für die wird man sicher niemals eine lokalisierbare »Stelle« im Hirn finden wird. Manche Dinge sind eben »systemisch« oder schlicht apriorisch gegeben, sind Unhintergehbarkeiten unserer »Natur«.
Dass so viele so unterschiedlichen Wahrheiten so fanatisch verteidigt werden zeugt jedenfalls von einer starken Bedürftigkeit, die unsere Vernunft vielleicht zwangsläufig übersteigt? Die Abwesenheit von Erklärungen bezeugt jedenfalls nicht per se ein Nichtvorhandensein an Sinn. Nach dem Grundlegendsten muss man oft eben länger suchen. Auch in Genf, bei CERN, haben sie dafür Berge versetzt – und suchen und suchen...
ielleicht sind diese Bildnisse der Neurobiologie auch wieder nur Krücken? Schließlich lieferten auch schon tote Lachse entsprechende »Hinweise«.
Der Mensch ist womöglich nicht in der Lage, die »Abwesenheit von Erklärungen« einfach nur hinzunehmen. Er muss sie entweder mystifizieren oder verwissenschaftlichen. Aber irgendwann stellt sich dann doch dieser Überdruss ein, den schon Goethes Faust empfand. Der konnte noch mit Mephisto kommunizieren. Selbst dieser Glaube fehlt uns heute.
Da bin ich weniger pessimistisch
Das mit den toten Lachsen hatte ich auch gelesen, aber wie alle Fehler und Idiotismen – sogar, scheint’s, die globalen Fiananzkrise – gehören solche Dinge zur Verbesserung des Gesamtsystems. Immerhin haben mit den neurologischen Erkundungen der Hirnlandschaften manche Behinderte erhebliche Lebensverbesserungen erreichen können.
Ansonsten kann man mit der Konstanz der ominösen eigenen »Natur« immerhin auf ein Quasi-Infinitesimales setzen – und das sitzt vielleicht auch die Perioden der Kleingläubigkeit aus.
Was bleibt also als Trostgeber? Die Kunst? Die Literatur?
Was bleibt? Der Trost enthält ein bejahendes Element: Man könnte sagen, dass alles, was uns an unserem Leben festhalten, darauf beharren lässt, auch tröstet. Freude oder Liebe an Tun und Lassen, ist das nicht schon genug?
[Oder ein paar Augenblicke »Seinsvergessenheit«?]
Vielleicht noch eine Anmerkung zu Selbstmord, bzw. ‑tötung, die nicht von mir stammt, aber berücksichtigt werden sollte: Muss nicht jede Betrachtung, die nur den Selbstmörder einschließt, fehl gehen, weil sie diesen isoliert betrachtet? Ist sein Moment an Freiheit, nicht in gleichem Maß einer des Irrtums?
@Metepsilonema
Für diese Frage empfehle ich wirklich Jean Amérys »Hand an sich legen« hier einige Zitate; hier ein kleiner Text von Karl-Markus Gauß; hier etwas vom Verlag [das Buch dürfte es auch als Taschenbuch geben]). Ich stimme mit ihm nicht immer überein, aber das Buch hatte mich beeindruckt. Es ist immerhin möglich, die Selbsttötung als freien Akt vorzunehmen. Demnach wäre es die einzige »Tröstung«, wie ja überhaupt der Tod als »Gleichmacher« einen gewissen Trost bieten könnte.
Danke
Warum eigentlich nicht, und thematisch passt es auch gut zu unseren Diskussionen (Dein erster Link funktioniert nicht).
Ja, der Tod tröstet, er holt übermenschlich Erscheinendes wieder auf die Erde zurück: »Sterben müssen wir alle.«
Für diese Frage empfehle ich wirklich Jean Amérys »Hand an sich legen« hier einige Zitate; hier ein kleiner Text von Karl-Markus Gauß; hier etwas vom Verlag [das Buch dürfte es auch als Taschenbuch geben]). Ich stimme mit ihm nicht immer überein, aber das Buch hatte mich beeindruckt. Es ist immerhin möglich, die Selbsttötung als freien Akt vorzunehmen. Demnach wäre es die einzige »Tröstung«, wie ja überhaupt der Tod als »Gleichmacher« einen gewissen Trost bieten könnte.
So, jetzt ist der Link da.
@Metepsilonema
Ist sein [des Selbstmörders] Moment an Freiheit, nicht in gleichem Maß einer des Irrtums?
Ist Freiheit nicht immer ein Irrtum? Heraus eines Pathos des gesteigerten Erleben des Moments? Und wäre sie das nicht sogar notwendig, der Irrtum?
Über Suizid kann (mag) ich nicht spekulieren, weil ich selber nie in einer auch nur nahen Situation gewesen bin, mir aber ihren Ausnahmecharakter auch nicht wegerklären oder »wegdenken« lassen will. Irgendwie vermute ich immer, hätte derjenige die Gelegenheit dazu, müsste er auch nach seinem definitiven Schritt von Betrachtungen über dessen Umschlag in einen Irrtum, zumindest aber die wiedergefundene Bedingtheit berichten.
(Das passiert mir übrigens auch bei anderen extremen Dingen, dass ich gewisse Dinge lieber von der – mir oft eher leichtsinnig denn erhellend erscheinenden – Beschäftigung damit unberührt lassen will. Deshalb konnte / wollte ich Amerys »Hand an sich legen« damals auch nicht zu Ende lesen: Ich stimme zu, dass Denken Mut ist (L. Hohl) und dass es Überlegungen hin zu »freien Akten« des Handelns braucht. Aber das Denken im Ausnahmezustand ist eben per se nicht frei. [Das macht für mich etwa auch Ernst Jünger in seinem Kokettieren im »Grand Hotel Abgrund« oft so läppisch: Sowohl seine Betrachtungen wie seine Worte dafür werden der zu erleben behaupteten Außergewöhnlichkeit gar nicht gerecht. Außerdem erweist er sich dann überraschend oft als einfach nur schlechter Schriftsteller. Dass sonst so luzide Köpfe wie etwa K.H.Bohrer das nicht sehen, verwundert.])
Dass ausgerechnet der Tod dann ein Trost sein soll (»Der Trost enthält ein bejahendes Element«), ist, Verzeihung, mir dann auch eine Pirouettendrohung zu sehr paradox. Aber womöglich meinen Sie hier den »virtuellen« Betrachtungspunkt, her von einem abstrakten, die Erlösung schon implizierenden Ende? Der Tod kann dort, egal wie mutig die Gedanken, aber gedanklich noch nicht inbegriffen sein, weil es keinen Erfahrungssatz dafür gibt! Dem Tod wird da sozusagen also etwas unterstellt.
 
@en-passant – Tod als Trost
Der Tod ist DER Gleichmacher – hierin liegt in meinen Augen sein tröstendes Element. Das ist natürlich sehr rustikal und vielleicht ein »fauler Trost«. Es für sich vergegenwärtigen, ihn mindestens selber herbeiführen zu können, kann durchaus eine Kraft bedeuten und freisetzen. Die Freiheit wäre dann, es nicht zu tun – nicht aus einem fahlen Pflichtbewusstsein heraus (Kant), sondern im Wissen um die Autonomie der Verweigerung. (Auch ich bin bisher nie in die Situation gekommen, in der ein Freitod attraktiv gewesen wäre. Frech formuliert könnte man sagen: Ich bin nicht religiös genug, um so etwas zu tun [natürlich würde Améry das nicht gelten lassen].)
Und natürlich kann man über den Tod nicht aus einer Erfahrung heraus reden. Aber auch über andere metaphysische Dinge lassen sich keine Erfahrungssätze ableiten; es bleibt alles – sozusagen – Unterstellung.
@en-passant/Gregor
Ich meinte nicht, dass Freiheit ein Irrtum wäre, obwohl man das so sehen kann, sondern, dass eine Übermächtigkeit (von Eindrücken, Dingen, Geschehnissen), die man selbst nicht sieht oder übergehen kann, einen frei gewählten Entschluss irrtümlich ergreifen lassen (können). Das kann nun an der eigenen Perspektivität/Erfahrung liegen oder an der Bedingtheit der Übermächtigkeiten. Ich möchte sagen, dass Freiheit Irrtum nicht ausschließt: Ein freier Entschluss kann auf einem Irrtum beruhen. Und Freiheit schließt Bedingtheit nicht aus, ja ohne Bedingtheit wäre sie gar nicht möglich (und alles zufällig). (Die Frage ist auch wie sehr das Ergebnis der Betrachtung und Reflexion bedingt sein kann.)
Wenn ich nach reiflicher Überlegung keine lebenswerte Zukunft mehr erwarte und beschließe aus dem Leben zu scheiden, kann das ein freier Entschluss gewesen sein. Er kann aber auf einem Irrtum beruhen, weil nur meine Perspektive im Spiel gewesen ist. Ein anderer hätte unter Umständen und mit Leichtigkeit auf etwas verweisen können, was mich gehalten hätte (ich habe mich auch nie mit dem Gedanken freiwillig aus dem Leben zu gehen „aufgehalten“, was ich aber kenne, sind Situationen, die sich auf eine bestimmte Art und Weise darstellen; nach einiger Zeit oder durch andere Ereignisse bedingt, erkennt man aber, dass ein anderes Bild treffender gewesen wäre).
Der Tod als Trost, weil er uns – wie Gregor schon schrieb – gleichmacht (ja: rustikal). Ein Leibeigener konnte sich sagen: Auch Adel und Klerus zerfallen zu Staub. Dieser Gedanke tröstet, weil er das was einen überragt zerstört oder zumindest beschädigt und dadurch am/im Leben hält (das wäre dann das bejahende Element).
Der Tod ist DER Gleichmacher – hierin liegt in meinen Augen sein tröstendes Element.
Das haben Sie gut gesagt – so ähnlich habe ich das jetzt selbst erleben müssen...
(http://phorkyas.wordpress.com/2011/04/15/llego-la-muerte-por-fin/ ‑wenn das in Ordnung ist- und auch einer der Gründe warum ich mich hier rausgehalten habe.. die anderen versuche ich einmal anzudeuten: mir ist diese Todesarten-Befindlichkeit oft zuwider, diese Stilisierung als Unglückliche, Lebensunfähige {auch wenn mir das in Manila schon wieder schlüssig erschien}.. Da geht es mir wie Herrn Stein: »Irgendwo habe ich gelesen, das Wort »Todesarten« sei in sich falsch. Es müsse »Sterbearten« heißen« http://turmsegler.net/tag/ingeborg-bachmann/ – leider steht dort nicht die Quelle und ich weiß sie auch nicht.. und es ist sicher nicht richtig Bachmanns Prosa und Poesie dann unter Generalverdacht zu stellen, aber es hat bei mir doch eine gewisse Distanzierung bewirkt...)
@Phorkyas / Stilisierung
Vielleicht ist die Bachmann – nicht zuletzt durch die Art ihres Todes – zu einer Art sakrosankten Ikone geworden. Man hat ja ihre deklamatorisch-pathetische Stimme immer gleich mit im Ohr, wenn man ihre Gedichte liest. Und wenn man sich erst einmal darauf eingelassen hat, kann man sich sehr schön der Schwermut hingeben. Und es mag ja wirklich so sein, dass sie ihr Leben höchst stilisiert hatte, so dass dann von den Exegeten die Verwechslung zwischen Werk und Leben zu allzu willig betrieben wurde.
Und mag sein, dass der »Gleichmacher« Tod auch wieder nur ein billiger Trost ist, der im Angesicht der Realität – dem Verlust eines liebgewordenen Menschen – zur lächerlichen Phrase mutiert, weil man für DIESEN Menschen dann nicht »gleich«-gültig empfindet.
Merkwürdig, wie schleichend dieser Prozess daherkommt, wenn in den Nachrichten, in Reportagen, Essays oder wissenschaftlichen Publikationen plötzlich von Prognosen in zwanzig, dreißig oder noch mehr Jahren die Rede ist, sofort abzuwägen, ob diese Information noch von Relevanz für einen selbst ist bzw. sein wird. Hier wird das Wissen um die Endlichkeit der eigenen Existenz in Verbindung mit dem absoluten Diesseitigkeitsglauben zum Hemmnis für das, was man gemeinhin Nachhaltigkeit nennt. Säkulare Gesellschaften kommen nicht mehr auf die Idee, Kathedralen zu bauen, die voraussichtlich erst in 200 oder 300 Jahren fertig sind. Allenfalls ihre Müllproduktion hinterlassen sie noch den »Erben«.
@ »Todesarten« vs »Sterbearten«
Diese Unterscheidung wäre wohl richtig. Und damit ist man gleich bei Bachmann. Die nämlich gar nicht mehr so sakrosankt ist, wenn man neueren Lyrik-Theoretikern glaubt. (Und es gibt eine eindrucksvolle »Abrechnung« mit ihr als Worte-Schlamperin von Evelyn Schlag, leider nicht online – die hatte mir im Lesen seinerzeit sehr zu denken geben und mein Bachmann-Bild auch ziemlich unterminiert: Heute sehe ich, wenn alte Dokus mit ihren Lesungen laufen, doch sehr ihre Pose.)
Aber das führt – mit dem Verweis auf den »Zumutbarkeits-Satz« von ihr zu noch etwas anderem. Es gibt ja, zuerst bei Schlegel, wenn ich mich richtig erinnere, den Hinweis auf das unauflösbare »Darstellungsproblem« der Wahrheit, einer fundamentalen Differenz zwischen einer »eigentlichen« Sache und den Möglichkeiten der Sprache sie korrekt zu reräsentierten. Immer wird es einen Rest an Undarstellbarkeit geben, und dieser Rest sei konstitutiv für die menschliche Rede: Sie erzeugt also sowohl die Notwendigkeit, nach Ausdrücken der Wahrheit zu suchen, wie sie zugleich andauernd auf die Unmöglichkeit trifft, eine allseits gültige, geschweige denn finale Form dafür zu finden.
Eigentlich ist das mit den »wahren Sätzen« unmöglich. Aber das hält dafür die Suche danach am Laufen (und die wahrheits-bedürften Subjekte). Und Bachmann muss das (nicht nur als Lyrikerin) gewusst haben.
Vielleicht ist es nicht nur eine Pointe, wenn man von daher vermutet, sie sei in der Welt letztlich untröstlich gewesen. Und damit wäre man wieder bei einer gewissen »dunklen« Obsession bei ihr, was Sprache und Leben anging, die letztlich in ihr Todesarten-Projekt mündete. (Aber das ist natürlich arg vereinfacht.)
Selbstmord und Postmoderne
Die Postmoderne ist vielleicht dadurch charakterisiert, dass es kein Außen mehr gibt. Keinen Ort jenseits des Tagesgeschäfts. (Mir scheint, dass die gegenwärtig zu beobachtenden Lebenspraxen diesen Befund decken. Die Jobwerdung des Privaten, die Privatwerdung des Geschäftlichen, beispielsweise. Das sind ja alles Totalmodelle, die auf Unterschiedslosigkeit setzen.) Daher aber gibt es auch keine sinnvolle Perspektivierungsmöglichkeit mehr. Beispielsweise einen Ewigkeitsstandpunkt. Transzendenz. Metaphysik. War ja alles auf ein Außen bezogen ... heute alles gestürzt. Wir stecken im Treibsand der Dinge. Und können nur versuchen, nicht gänzlich zu versinken. Letztlich nimmt das dem Selbstmord natürlich auch seine Würde. Er führt uns in kein Außen mehr – das wurde ja abgeschafft.Er ist lediglich ein Ausschalten des Fernsehprogramms. Die Off-Taste.
[EDIT: Aus Gründen der Übersichtlichkeit in der Kommentarstruktur wurde der Zeitpunkt des Kommentars geändert. Die Original-Daten lauten: 2011-05-17 11:36]
Ja, diese räumliche Betrachtung ist sehr interessant. Nur: Warum nehmen wir das Stecken im »Treibsand der Dinge« als Fatum hin?
[EDIT: Aus Gründen der Übersichtlichkeit in der Kommentarstruktur wurde der Zeitpunkt des Kommentars geändert. Die Original-Daten lauten: 2011-05-19 08:12]
Sind wir also in Adornos Totalität angekommen? – Vieles ließe sich damit so gut interpretieren, bzw. klingt es bei Ihnen ähnlich.
(Was ich sehr schön finde ist, dass Sie es räumlich fassen – dass ich selbst noch nicht darauf gekommen bin – Metaphysik wäre ein Außenraum, den wir nun abgeschafft haben, und nun sind wir auf ewig in unsrem immanenten Innenraum gesperrt,.. bis vielleicht endlich ein Zeitalter größerer metaphysischer Gelassenheit heranzieht, in welchem man dann unsere Epoche milde lächelnd als dieses düstere, zerstörerisch-irrationale, zum Glück überwundene Zeitalter der Wissenschaft bezeichnen könnte... {Unser Denken orientiert(sic!) sich vielleicht sehr oft in räumlichen Kategorien} – )
[EDIT: Aus Gründen der Übersichtlichkeit in der Kommentarstruktur wurde der Zeitpunkt des Kommentars geändert. Die Original-Daten lauten: 2011-05-18 09:15]
... Daß »unsere Kraft weiter reicht als unser Unglück« ist, falls es eine Wahrheit gibt, nicht nur eine subjektive, weiß ich. Und ich spüre dies tagein tagaus. Und bin immer noch erstaunt darüber. Wenn ich mich im tiefsten Unglück am Ende wähne, spüre ich gleichzeitig Kraft in mir, die ich dann verwünsche. Denn dieses ambivalente Gefühl gefällt mir nicht. Doch macht es mich in der nächsten Sekunde wieder furchtbar glücklich, diese kräftigende Lebensenergie zu spüren, die so deplatziert erscheint in all meinem Unglück. Weil ich glaube, das Unglück schneller überwinden zu können, wenn ich keine Kraft mehr spüre. Kraft im Unglück ist ungefähr zu produktiv wie Blei an den Füßen vorm Marathon. ...
... Wahrheit ist nicht zumutbar. Der Mensch besitzt nicht den Mut zur Wahrheit. Kommt einer mit Wahrheit, wird diese verleugnet. Macht sich einer für Wahrheit stark, erscheint er als hysterischer Lügner. Das Gro Menschen will die Wahrheit nicht. Wahrheit wollen, bedeutet sich Gedanken machen wollen, sich Auseinandersetzen wollen mit Unbequemem. Will einer ehrlich sein, glaubt man ihm nicht. Wahrheit ist nicht erwünscht in dieser Gesellschaft. Sie stört. ...
[EDIT: Aus Gründen der Übersichtlichkeit in der Kommentarstruktur wurde der Zeitpunkt des Kommentars geändert. Die Original-Daten lauten: 2011-05-19 13:49]
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Das Essay gefällt mir sehr gut. Allerdings kann ich mit dem Begriff der Wahrheit nicht mehr umgehen.
Vor kurzem habe ich mich fürchterlich aufgeregt, als in einem technischen Fachbuch der Begriff »single source of truth« las.
Wahrheit kann ich am ehestens noch verstehen, wenn ich »Gebt mir einen einzigen festen Punkt und ich werde die Welt aus den Angeln heben.« als Bezugspunkt einer sehr, sehr punktuellen Wahrheit ansehe.
Am ehesten kann ich noch den Begriff einer subjektiven Wahrheit akzeptieren, aber es wird ja mit dem Begriff Wahrheit genau dieselbe geleugnet. Und dann wäre die Wahrheit auch nur das Produkt des wahr Genommenen. Und nicht das »Da fährt die Eisenbahn drüber!«
Und so wie das Beispiel mit dem Selbstmörder zwar anschaulich ist, so erhebt sich doch die Frage: ».....« Nein, diese Frage schreibe ich nicht mehr.
Ich bin da in einem Zwiespalt, den ich (noch) nicht lösen kann: Gebe ich jede überpersönliche »Wahrheit« (Erzählung) auf, dann wird alles bedeutungslos, bis ich mich letztlich selbst auflöse.; außerdem scheint mir im Umgang mit anderen irgendeine Krücke notwendig, schon aus ganz simplen ethischen Überlegungen.
Vielleicht kann man sich mit einer Art diskursiven Verbindlichkeit helfen, aber ich weiß es nicht.