Wal­ter Kem­pow­ski ist ge­stor­ben

Als die Kahl­schlag­li­te­ra­ten der Grup­pe 47 sich wohl­feil um Pe­ti­tes­sen strit­ten oder an ih­ren Le­gen­den strick­ten oder »Auf­ar­bei­tung« be­trie­ben – da sass Wal­ter Kem­pow­ski in Baut­zen im Zucht­haus. Als er 1956 ent­las­sen wur­de, küm­mer­te er sich erst ein­mal um sein Pri­vat­le­ben. Ein ehe­ma­li­ger Häft­ling aus der »Zo­ne« hät­te auch nicht be­son­ders gut ins po­li­ti­sche Kon­zept ge­passt. Der Zweck der Grup­pe 47 war rund zwan­zig Jah­re spä­ter er­füllt – das Spin­nen ei­nes li­te­ra­ri­schen Netz­wer­kes, dass bis heu­te noch an­hält (so­fern die be­tei­lig­ten Per­so­nen noch le­ben). Kem­pow­ski kam zu spät und aus der fal­schen Rich­tung. Aber es be­darf we­nig pro­phe­ti­scher Kraft an­zu­neh­men, dass er sich un­ter den Selbst­dar­stel­lern dort nicht be­son­ders wohl­ge­fühlt hät­te.

Der Stall­ge­ruch fehl­te

In sei­nen letz­ten In­ter­views sprach der tod­kran­ke Kem­pow­ski viel von sei­ner spä­ten An­er­ken­nung. Von der Ver­lei­hung des Bun­des­ver­dienst­kreu­zes. Sei­ne Au­gen blitz­ten, als da­mals al­le Leu­te für ihn auf­ge­stan­den wa­ren. Spä­te Ge­nug­tu­ung ei­nes Schrift­stellers, der wie kaum ein an­de­rer die Kluft zwi­schen »Kri­tik« und »Pu­bli­kum« wider­spiegelte. Jah­re­lang ver­ramsch­te die Kri­tik sei­ne Bü­cher – auch noch, als »Ta­dellöser & Wolff« von Eber­hard Fech­ner kon­ge­ni­al und wun­der­bar ver­filmt wur­de. Man rümpf­te in be­stimm­ten Krei­sen die Na­se, weil Kem­pow­ski kei­nen »Stall­ge­ruch« hat­te. Den Büch­nerpreis hat er nie be­kom­men – ein Skan­dal! Sei­ne Pro­sa war we­der ex­pe­ri­men­tell noch Be­trof­fen­heits­kitsch und wi­der­sprach lan­ge dem ge­sell­schafts­po­li­ti­schen Zeit­geist. Man hat­te sich in ei­ner Ju­gend­zeit im Na­tio­nal­so­zia­lis­mus nicht ir­gend­wie wohl­zu­füh­len ge­habt. Kem­pow­ski hat sich – glück­li­cher­wei­se für die Li­te­ra­tur! – nie­mals die­sen Im­pe­ra­ti­ven ge­beugt. Er war und blieb das, was man ei­nen un­ab­hän­gi­gen Geist nann­te. Sei­ne Flucht war nicht die in die Li­te­ra­tur, son­dern – um­ge­kehrt zu vie­len an­de­ren – die in den Schul­dienst. Kem­pow­ski war aber kein Stu­di­en­rat, der auch schrieb – er war ein Schrift­stel­ler, der Leh­rer war.

1990 wur­de Kem­pow­ski in ei­ner üb­len Kam­pa­gne des Pla­gi­ats be­zich­tigt. End­lich nahm sich die Gross­kri­tik sei­ner an – Hell­muth Ka­ra­sek stell­te die Fak­ten klar und ent­la­ste­te Kem­pow­ski in ei­nem ful­mi­nan­ten Ar­ti­kel im »Spie­gel«. Zu die­ser Zeit steck­te Kem­pow­ski in ei­nem rie­si­gen Pro­jekt, dem »Echo­lot«. 1999 er­schie­nen die er­sten vier Bän­de die­ses »Echo­lots«. Es soll­ten noch wei­te­re acht Bän­de fol­gen.


Das Echo­lot – 1. Ja­nu­ar bis 28. Fe­bru­ar 1943

Ei­gent­lich ist die­ses »Echo­lot« zu­nächst ein­mal nichts an­de­res als ei­ne ta­ge­buch­mä­ssig auf­be­rei­te­te Text­samm­lung be­stehend aus Brie­fen, Sen­ten­zen, Ma­nu­skrip­ten, Er­in­ne­rungs­split­tern, Bio­gra­phien, Pla­ka­ten, Zei­tungs­aus­schnit­ten, Ver­laut­ba­run­gen in (schein­bar) will­kür­li­cher An­ord­nung – sieht man ein­mal da­von ab, dass je­der Tag mit der Auf­zeich­nung des »Füh­rer­arz­tes« be­ginnt und mit den No­ti­zen von Hein­rich Himm­ler und (kon­trast­reich) den Be­rich­ten der Hi­sto­ri­ke­rin Da­nu­ta Czech über Ausch­witz-Bir­ken­au en­det.

Kem­pow­ski greift da­bei so­wohl auf satt­sam be­kann­te Quel­len zu­rück, wie auch auf in öf­fent­li­chen Ar­chi­ven re­cher­chier­te Tex­te als auch auf sein pri­va­tes Ar­chiv, wel­ches Brie­fe und Ta­ge­buch­auf­zeich­nun­gen pri­va­ter Per­so­nen zu­sam­men­ge­tra­gen hat (Jah­re zu­vor in­se­rier­te er in di­ver­sen Zei­tun­gen nach sol­chem Ma­te­ri­al). Dies er­gibt hier in der Sum­me 3000 Sei­ten (in­klu­si­ve In­halts- und Quel­len­ver­zeich­nis). Um­ge­rech­net auf den je­wei­li­gen Tag er­gibt sich ein Schnitt von et­was mehr als 50 Sei­ten pro Tag; al­so durch­aus ei­ne vom Le­ser im glei­chen Zeit­raum nach­zu­voll­zie­hen­de Le­se­lei­stung.

Zwei Feh­ler kön­nen mit die­sem Buch ge­macht wer­den, und rui­nie­ren es: Man liest es wie ein Le­xi­kon, d. h. Häpp­chen da, Häpp­chen dort; eher als Nach­schla­ge­werk, als »Le­se­buch“ oder/und man er­war­tet neue hi­sto­ri­sche Aspek­te (oder liest es gar – das gröss­te Miss­ver­ständ­nis ent­stan­den aus ei­nem Lob – als Er­satz zu hi­sto­ri­schen Bü­chern).

Er­ste­res führt zur ge­pfleg­ten Lan­ge­wei­le, da Kem­pow­skis kom­po­si­to­ri­sches Schaf­fen durch­aus da­hin­ge­hend wirk­sam ist, dass bei vie­len Per­so­nen ei­ne Ge­schich­te im Lau­fe der Zeit ent­steht, d. h. ein Span­nungs­auf­bau statt­fin­det. Will­kür­li­ches Le­sen wird beim Le­ser so un­ter Um­stän­den ein fal­sches bzw. nich­ti­ges Bild auf­kom­men las­sen. Und letz­te­res über­spannt ei­ne un­ge­recht­fer­tig­te Er­war­tung, die gar nicht be­ab­sich­tigt ist.

War­um es sich um Li­te­ra­tur han­delt

Die be­ste Le­se­hal­tung die­sem Buch ge­gen­über: Es im Win­ter zü­gig le­sen; viel­leicht täg­lich, und viel­leicht am 1. Ja­nu­ar be­gin­nen, am 28. Fe­bru­ar en­den. Es ent­steht ein selt­sa­mer Sog, ja: ei­ne Sucht; ei­ne Zeit­ma­schi­ne. Denn wie das gan­ze Buch von Kem­pow­ski sehr wohl auf­be­rei­tet ist, so ist na­tür­lich auch die Zeit die­ses »kol­lek­ti­ven Ta­ge­buchs« wohl ge­wählt: Im Ja­nu­ar und Fe­bru­ar 1943 kul­mu­lier­ten die (Kriegs-)Ereignisse und es voll­zog sich je­ne ent­schei­den­de Wen­dung (da­mals frei­lich nur von sehr we­ni­gen so­fort er­kannt), die spä­ter als der An­fang vom En­de aus­ge­macht wer­den wird:

Die Ver­nich­tung der deut­schen Sta­lin­grad-Ar­mee (der Schei­tel­punkt der deut­schen He­ge­mo­nie war er­reicht; ab Ja­nu­ar 1943 gab qua­si nur noch Rück­zü­ge); die Kon­fe­renz von Ca­sa­blan­ca, die ein po­li­tisch (und spä­ter mi­li­tä­risch) ein­heit­li­ches Vor­ge­hen von Gross­bri­tan­ni­en, Frank­reich, USA und der So­wjet­uni­on vor­be­rei­te­te; im In­ne­ren des NS-Staa­tes die Pro­kla­ma­ti­on des »to­ta­len Krie­ges« (Be­ginn des Zwei­fels am »End­sieg« selbst bei höch­sten Na­zis); die Wi­der­stands­be­we­gung der »Wei­ssen Ro­se«; au­ssen­po­li­tisch wur­de der Zu­sam­men­halt mit Ita­li­en auf im­mer här­te­re Be­wäh­rungs­pro­ben ge­stellt; in Nord­afri­ka stürz­te die Front lang­sam ein (trotz der ge­le­gent­li­chen Sie­ge Rom­mels).

Re­tro­spek­tiv sum­mie­ren sich all die­se Er­eig­nis­se als Zei­chen der sich her­aus­schä­len­den Nie­der­la­ge der Na­tio­nal­so­zia­li­sten und de­ren Al­li­ier­ten nebst Be­frei­ung (was sich frei­lich noch mehr als zwei Jah­re hin­zog).

Al­le die­se Da­ten und Hin­ter­grün­de sind be­kannt. Und die Brie­fe und Ta­ge­buch­auf­zeich­nun­gen »ein­fa­cher« Leu­te, von Front­sol­da­ten, stram­men Na­zifrau­en, re­gime­kri­tisch ein­ge­stell­ten Pro­fes­so­ren, sym­pa­thi­sie­ren­den Stu­den­ten oder gar ver­irr­ten In­tel­lek­tu­el­len – ver­mö­gen die­se das Bild, wel­ches wir heu­te von die­ser Zeit hi­sto­risch be­trach­tet ha­ben, zu än­dern?

Nein. All das be­wegt Kem­pow­ski nicht. Hier­für wür­de man nicht 3000 Sei­ten le­sen wol­len; statt­des­sen tä­te dann ei­ne we­sent­lich knap­pe­re Schil­de­rung ei­nes Hi­sto­ri­kers in Form ei­nes Sach­bu­ches nütz­li­che­re Din­ge. Es ist aber gar nicht der An­spruch die­ses Bu­ches. Die­ser geht näm­lich tie­fer. Wir fin­den hier die Witt­gen­stein­sche Welt der Tat­sa­chen in ei­ner fast phy­sisch spür­ba­ren Pla­sti­zi­tät. Des­halb lässt ei­nem das Buch ir­gend­wann nicht mehr los. Wir se­hen die Per­so­nen, ih­re Hand­lun­gen, ih­re Irr­tü­mer vor uns. Wir hö­ren die Stim­men der Prot­ago­ni­sten die­ser Zeit. Vie­les da­von ver­stört uns oder ekelt uns an. Ei­ni­ges ver­wun­dert. Man­ches er­staunt.

Hier ein Front­sol­dat, der in ei­nem deut­schen Wort drei Recht­schrei­be­feh­ler schafft – dort Ernst Jün­ger mit sei­nen gräss­li­chen So­phi­ste­rei­en – dort der Mas­sen­mör­der Himm­ler, der pe­dan­tisch sein Tisch­zei­ten und Te­le­fon­ge­sprä­che no­tiert – dann wie­der ein lie­ber Brief von So­phie Scholl.

Stän­di­ge, ra­san­te Wech­sel, schein­bar zu­sam­men­hang­los, aber spä­te­stens ge­gen En­de des er­sten Ban­des, nach 700 Sei­ten, merkt man die ge­heim­nis­vol­len Ver­knüp­fun­gen von schein­bar zu­sam­men­hang­lo­sen Tex­ten, die dann doch auf ein­mal klar und vor al­lem in ei­nem neu­en Kon­text er­schei­nen; manch­mal erst hun­der­te von Sei­ten spä­ter ih­re Kraft ent­fal­ten und uns Neu­es sa­gen.

Be­wusst blei­ben die Rand­be­mer­kun­gen Kem­pow­skis sehr spar­sam (freund­lich aus­ge­drückt; nur ge­le­gent­lich ein klei­ner Hin­weis); auch die Vor­stel­lung der »Teil­neh­mer« er­schöpft sich (wenn über­haupt) nur auf Ge­burts- und Ster­be­jahr und hier und da we­ni­gen bio­gra­phi­schen De­tails im In­halts­ver­zeich­nis. Man mag dies bei den hi­sto­risch Un­be­kann­ten ver­mis­sen – aber al­le An­ga­ben, so scheint es, die zur Be­ein­flus­sung des durch das Le­sen ge­won­ne­nen Ur­teils beim Le­ser die­nen könn­ten, möch­te Kem­pow­ski ver­mei­den. »Das Echo­lot« ist auch Aus­druck ei­nes fast schon alt­mo­di­schen Ver­trau­ens ei­nes Au­tors (oder doch eher Kom­po­ni­sten?) in die Sou­ve­rä­ni­tät des Le­sers.

Dank­bar bin ich auch für die Mo­men­te, die die Ge­wiss­hei­ten des heu­ti­gen Le­sers ad ab­sur­dum füh­ren und ihn vom ho­hen Ross her­un­ter­ho­len. En­de Ja­nu­ar 1943 z. B. spitzt sich die La­ge in Sta­lin­grad dra­ma­tisch zu. Ei­ne Ein­heit er­hält die (letz­te) Ge­le­gen­heit, noch ein­mal ei­nen Brief nach Hau­se zu schrei­ben. Rund ein Dut­zend die­ser Brie­fe sind fast hin­ter­ein­an­der ab­ge­druckt. Fast al­le be­schwö­ren noch ein­mal ih­re Füh­rer­treue (ob­wohl dies in die­ser Si­tua­ti­on ja kei­ner schrei­ben muss­te). Es be­fin­den sich auch Brie­fe von Sol­da­ten hier­un­ter, die vie­le, manch­mal un­zäh­li­ge Recht­schrei­be­feh­ler in ih­ren Brie­fen pro­du­zie­ren. Un­ter­schwel­lig ent­steht nun beim Le­ser ei­ne Ar­ro­ganz die­sem Stumpf­sinn ge­gen­über. Aber knapp 1800 Sei­ten spä­ter wer­den im Ab­druck des »Volksgerichtshof«-Urteils ge­gen die Ehe­leu­te Ham­pel (die hand­ge­schrie­be­ne Pam­phle­te ge­gen den Na­tio­nal­so­zia­lis­mus in Haus­flu­re war­fen) ge­zeigt , dass auch »An­alpha­be­ten« »den­ken« kön­nen: ih­re Flug­blät­ter quol­len zwar über mit Recht­schrei­be- und Gram­ma­tik­feh­lern, aber sie schrie­ben den­noch das rich­ti­ge, warn­ten vor den Lü­gen des Krie­ges und des Re­gimes und durch­schau­ten das. Mit­läu­fer­tum, Stumpf­sinn und Ver­blö­dung zeigt sich al­so nicht dar­in, ob je­mand feh­ler­frei schrei­ben kann. Das Buch ist voll von sol­chen über­ra­schen­den Wen­dun­gen.

An­de­rer­seits wer­den Ge­schich­ten er­zählt; Ge­schich­ten von Men­schen, die durch das Ver­öf­fent­li­chen re­inkar­nie­ren. Wir er­fah­ren fast nie, wie es »aus­geht«; das »Echo­lot« bleibt Au­gen­blicks­er­weckung. Manch­mal kann man dies be­dau­ern: Zum Bei­spiel Hans-Hen­ning Teich – da­mals knapp 21 Jah­re alt, schreibt sei­ne ge­se­he­nen Fil­me auf, geht ins Thea­ter, schreibt Kurz­ge­schich­ten, ver­liebt sich (un­glück­lich) in ei­ne Pro­vin­zschau­spie­le­rin. En­de Fe­bru­ar 1943 fin­det er sich als Sol­dat auf der Halb­in­sel Krim wie­der. Er steht über den Din­gen, bleibt je­doch ohn­mäch­tig. Kein bö­ses Wort kommt über sei­ne Lip­pen; Teich ist kein Na­zi. Und dann le­sen wir (am En­de fas­sungs­los), dass Teich 1945 ge­stor­ben ist. Wir er­fah­ren nur das. Es ist fast bau­de­laire­haft: als schrei­te ei­ne Frau, in die man sich so­fort ver­lie­ben könn­te (und viel­leicht im Bruch­teil ei­ner Se­kun­de schon ver­liebt ist) an ei­nem vor­bei – mit­ten auf der Stra­sse. Man dreht sich noch um – aber sie ist weg.

Oder ein win­zi­ger Er­in­ne­rungs­split­ter: Ein Sol­dat, der als Be­wa­chung ei­ner deut­schen Mi­li­tär­ba­sis in der Ukrai­ne ein­ge­teilt ist, be­ob­ach­tet die Lan­dung des »Füh­rers«, sieht wie er lan­det und aus­steigt und spä­ter kommt ihm der Ge­dan­ke, dass er in die­sem Mo­ment, durch Be­tä­ti­gung ei­nes Fin­gers an sei­nem Ge­wehr Schick­sal hät­te spie­len kön­nen und die Welt hät­te »ret­ten« kön­nen.

Wal­ter Kem­pow­ski hat­te et­was Neu­es ge­wagt; die Ge­fahr, zu schei­tern (be­son­ders in An­be­tracht des The­mas) war gross. Geg­ner war­fen ihm vor, das Buch sei nicht »li­te­ra­risch«. Ein ir­ri­ger Ein­wurf; just das Ge­gen­teil ist rich­tig. Es ist ein li­te­ra­ri­sches Er­eig­nis: Ei­ne po­ly­pho­ne Text­samm­lung, die nur in die­ser Zu­sam­men­stel­lung die­se Wir­kung er­reicht.

Die spä­te­ren »Echo­lo­te« (»Fu­ga fu­rio­sa. Win­ter 1945« – über die Ver­trei­bung; »Bar­ba­ros­sa ’41« über den Be­ginn des Russ­land­feld­zugs und »Ab­ge­sang ’45« über die letz­ten Ta­ge des Re­gimes vor der Be­frei­ung) las­sen auch Tex­te zu, die nach­träg­lich zu den ge­nann­ten Er­eig­nis­sen von Zeit­ge­nos­sen ver­fasst wur­den. Das kratzt ein biss­chen an der Ver­dich­tung, da man manch­mal ei­ne ge­wis­se (zeit­li­che) Ent­rückung be­merkt, die das Wis­sen des »da­nach« ge­le­gent­lich wi­der­spie­gelt.

Den­noch bleibt die­ses Pro­jekt, wel­ches – wie man­che sei­ner Kri­ti­ker spöt­tisch be­haup­ten – nur we­ni­ge Sei­ten von Kem­pow­ski selbst ent­hal­ten, ein zen­tra­les Werk; viel­leicht so­gar sein Opus ma­gnum (we­nig­stens wäh­rend sei­ner Le­bens­zeit; Kem­pow­ski ar­bei­te­te an wei­te­ren Pro­jek­ten, die nach sei­nem Tod ver­wirk­licht wer­den sol­len und kön­nen).

Was mag Kem­pow­ski be­wegt ha­ben? Er hat da­zu oft et­was ge­sagt – aber es nie ex­pli­zit er­läu­tert. Ein­mal er­zähl­te er von ei­ner Zug­fahrt in den 40er Jah­ren. Ein ent­ge­gen­kom­men­der Zug gibt ei­nen klei­nen, kur­zen Blick frei – auf Ge­fan­ge­ne in Vieh­wag­gons. Für ei­ne hal­be Se­kun­de schaut Kem­pow­ski die­ses Grau­en an – und ein Mensch in Sträf­lings­klei­dung schaut ihn an. Kem­pow­ski lässt die­ser Au­gen­blick, die­se hal­be Se­kun­de, nicht mehr los. Die­se Ge­schich­te die­ses Men­schen muss doch ir­gend­wo auf­ge­schrie­ben wer­den – nur das ret­tet ihn vor dem end­gül­ti­gen Tod. Brechts Dik­tum, ein Mensch sei erst tot, wenn nie­mand mehr an ihn denkt – das trieb Kem­pow­ski fast ma­nisch um. Er woll­te dem Grau­en ein Ge­sicht, ei­ne Stim­me ge­ben.

Welt­schmerz. Kin­der­sze­nen fast zu ernst

Und noch ein klei­nes Büch­lein fällt mir da ein; kaum be­spro­chen von der »Kri­tik«, die lei­se Tö­ne im Pau­ken- und Trom­pe­ten­ge­brumm nicht mehr wahr­neh­men kann: »Welt­schmerz. Kin­der­sze­nen fast zu ernst« (1995). Klei­ne, me­lan­cho­lisch-dich­te Pros­ami­nia­tu­ren (der Ti­tel an­ge­lehnt an Ro­bert Schu­mann), die den Men­schen Kem­pow­ski hin­ter den Zei­len ah­nen las­sen und in de­nen er sei­ne Kind­heit auf ei­ne fast in­ti­me Art und Wei­se er­zählt (nicht nur schil­dert). Es ist be­zeich­nend, dass die­ses Büch­lein kaum An­klang fand und ver­mut­lich nur noch in An­ti­qua­ria­ten zu be­kom­men ist. Aber bei al­ler Me­lan­cho­lie, ja auch manch­mal ein biss­chen To­des­sehn­sucht, zeigt sich hier – wie ne­ben­bei – ein fei­ner, fi­li­gra­ner, wun­der­ba­rer Schrift­stel­ler – und ein ver­wun­de­ter Mensch.

Den na­hen Tod vor Au­gen mein­te Kem­pow­ski, er sei ge­las­se­ner ge­wor­den und wol­le die­se Er­fah­rung nicht mehr mis­sen. Er woll­te das oh­ne Ko­ket­te­rie ver­stan­den wis­sen. Und dann, am En­de die­ses Ge­sprächs, schlen­der­te der ab­ge­ma­ger­te Mann – im­mer noch im An­zug –, dem Zu­schau­er den Rücken zu­ge­kehrt in leicht hol­pe­ri­gem Gang durch sein Haus und schritt durch ei­ne Tür.

Er schien noch kurz win­ken zu wol­len.

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  1. Was kann ein Nach­ruf be­wir­ken? Dem Be­trof­fe­nen Re­spekt zol­len? In­ter­es­se für das Werk her­vor­ru­fen? Das ist in ge­wohn­ter Qua­li­tät ge­lun­gen. Ha­be ich aus­ge­spro­chen ger­ne ge­le­sen und »Das Echo­lot« auf die Le­se­li­ste ge­setzt. Dan­ke.