Der Stallgeruch fehlte
In seinen letzten Interviews sprach der todkranke Kempowski viel von seiner späten Anerkennung. Von der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes. Seine Augen blitzten, als damals alle Leute für ihn aufgestanden waren. Späte Genugtuung eines Schriftstellers, der wie kaum ein anderer die Kluft zwischen »Kritik« und »Publikum« widerspiegelte. Jahrelang verramschte die Kritik seine Bücher – auch noch, als »Tadellöser & Wolff« von Eberhard Fechner kongenial und wunderbar verfilmt wurde. Man rümpfte in bestimmten Kreisen die Nase, weil Kempowski keinen »Stallgeruch« hatte. Den Büchnerpreis hat er nie bekommen – ein Skandal! Seine Prosa war weder experimentell noch Betroffenheitskitsch und widersprach lange dem gesellschaftspolitischen Zeitgeist. Man hatte sich in einer Jugendzeit im Nationalsozialismus nicht irgendwie wohlzufühlen gehabt. Kempowski hat sich – glücklicherweise für die Literatur! – niemals diesen Imperativen gebeugt. Er war und blieb das, was man einen unabhängigen Geist nannte. Seine Flucht war nicht die in die Literatur, sondern – umgekehrt zu vielen anderen – die in den Schuldienst. Kempowski war aber kein Studienrat, der auch schrieb – er war ein Schriftsteller, der Lehrer war.
1990 wurde Kempowski in einer üblen Kampagne des Plagiats bezichtigt. Endlich nahm sich die Grosskritik seiner an – Hellmuth Karasek stellte die Fakten klar und entlastete Kempowski in einem fulminanten Artikel im »Spiegel«. Zu dieser Zeit steckte Kempowski in einem riesigen Projekt, dem »Echolot«. 1999 erschienen die ersten vier Bände dieses »Echolots«. Es sollten noch weitere acht Bände folgen.
Das Echolot – 1. Januar bis 28. Februar 1943
Eigentlich ist dieses »Echolot« zunächst einmal nichts anderes als eine tagebuchmässig aufbereitete Textsammlung bestehend aus Briefen, Sentenzen, Manuskripten, Erinnerungssplittern, Biographien, Plakaten, Zeitungsausschnitten, Verlautbarungen in (scheinbar) willkürlicher Anordnung – sieht man einmal davon ab, dass jeder Tag mit der Aufzeichnung des »Führerarztes« beginnt und mit den Notizen von Heinrich Himmler und (kontrastreich) den Berichten der Historikerin Danuta Czech über Auschwitz-Birkenau endet.
Kempowski greift dabei sowohl auf sattsam bekannte Quellen zurück, wie auch auf in öffentlichen Archiven recherchierte Texte als auch auf sein privates Archiv, welches Briefe und Tagebuchaufzeichnungen privater Personen zusammengetragen hat (Jahre zuvor inserierte er in diversen Zeitungen nach solchem Material). Dies ergibt hier in der Summe 3000 Seiten (inklusive Inhalts- und Quellenverzeichnis). Umgerechnet auf den jeweiligen Tag ergibt sich ein Schnitt von etwas mehr als 50 Seiten pro Tag; also durchaus eine vom Leser im gleichen Zeitraum nachzuvollziehende Leseleistung.
Zwei Fehler können mit diesem Buch gemacht werden, und ruinieren es: Man liest es wie ein Lexikon, d. h. Häppchen da, Häppchen dort; eher als Nachschlagewerk, als »Lesebuch“ oder/und man erwartet neue historische Aspekte (oder liest es gar – das grösste Missverständnis entstanden aus einem Lob – als Ersatz zu historischen Büchern).
Ersteres führt zur gepflegten Langeweile, da Kempowskis kompositorisches Schaffen durchaus dahingehend wirksam ist, dass bei vielen Personen eine Geschichte im Laufe der Zeit entsteht, d. h. ein Spannungsaufbau stattfindet. Willkürliches Lesen wird beim Leser so unter Umständen ein falsches bzw. nichtiges Bild aufkommen lassen. Und letzteres überspannt eine ungerechtfertigte Erwartung, die gar nicht beabsichtigt ist.
Warum es sich um Literatur handelt
Die beste Lesehaltung diesem Buch gegenüber: Es im Winter zügig lesen; vielleicht täglich, und vielleicht am 1. Januar beginnen, am 28. Februar enden. Es entsteht ein seltsamer Sog, ja: eine Sucht; eine Zeitmaschine. Denn wie das ganze Buch von Kempowski sehr wohl aufbereitet ist, so ist natürlich auch die Zeit dieses »kollektiven Tagebuchs« wohl gewählt: Im Januar und Februar 1943 kulmulierten die (Kriegs-)Ereignisse und es vollzog sich jene entscheidende Wendung (damals freilich nur von sehr wenigen sofort erkannt), die später als der Anfang vom Ende ausgemacht werden wird:
Die Vernichtung der deutschen Stalingrad-Armee (der Scheitelpunkt der deutschen Hegemonie war erreicht; ab Januar 1943 gab quasi nur noch Rückzüge); die Konferenz von Casablanca, die ein politisch (und später militärisch) einheitliches Vorgehen von Grossbritannien, Frankreich, USA und der Sowjetunion vorbereitete; im Inneren des NS-Staates die Proklamation des »totalen Krieges« (Beginn des Zweifels am »Endsieg« selbst bei höchsten Nazis); die Widerstandsbewegung der »Weissen Rose«; aussenpolitisch wurde der Zusammenhalt mit Italien auf immer härtere Bewährungsproben gestellt; in Nordafrika stürzte die Front langsam ein (trotz der gelegentlichen Siege Rommels).
Retrospektiv summieren sich all diese Ereignisse als Zeichen der sich herausschälenden Niederlage der Nationalsozialisten und deren Alliierten nebst Befreiung (was sich freilich noch mehr als zwei Jahre hinzog).
Alle diese Daten und Hintergründe sind bekannt. Und die Briefe und Tagebuchaufzeichnungen »einfacher« Leute, von Frontsoldaten, strammen Nazifrauen, regimekritisch eingestellten Professoren, sympathisierenden Studenten oder gar verirrten Intellektuellen – vermögen diese das Bild, welches wir heute von dieser Zeit historisch betrachtet haben, zu ändern?
Nein. All das bewegt Kempowski nicht. Hierfür würde man nicht 3000 Seiten lesen wollen; stattdessen täte dann eine wesentlich knappere Schilderung eines Historikers in Form eines Sachbuches nützlichere Dinge. Es ist aber gar nicht der Anspruch dieses Buches. Dieser geht nämlich tiefer. Wir finden hier die Wittgensteinsche Welt der Tatsachen in einer fast physisch spürbaren Plastizität. Deshalb lässt einem das Buch irgendwann nicht mehr los. Wir sehen die Personen, ihre Handlungen, ihre Irrtümer vor uns. Wir hören die Stimmen der Protagonisten dieser Zeit. Vieles davon verstört uns oder ekelt uns an. Einiges verwundert. Manches erstaunt.
Hier ein Frontsoldat, der in einem deutschen Wort drei Rechtschreibefehler schafft – dort Ernst Jünger mit seinen grässlichen Sophistereien – dort der Massenmörder Himmler, der pedantisch sein Tischzeiten und Telefongespräche notiert – dann wieder ein lieber Brief von Sophie Scholl.
Ständige, rasante Wechsel, scheinbar zusammenhanglos, aber spätestens gegen Ende des ersten Bandes, nach 700 Seiten, merkt man die geheimnisvollen Verknüpfungen von scheinbar zusammenhanglosen Texten, die dann doch auf einmal klar und vor allem in einem neuen Kontext erscheinen; manchmal erst hunderte von Seiten später ihre Kraft entfalten und uns Neues sagen.
Bewusst bleiben die Randbemerkungen Kempowskis sehr sparsam (freundlich ausgedrückt; nur gelegentlich ein kleiner Hinweis); auch die Vorstellung der »Teilnehmer« erschöpft sich (wenn überhaupt) nur auf Geburts- und Sterbejahr und hier und da wenigen biographischen Details im Inhaltsverzeichnis. Man mag dies bei den historisch Unbekannten vermissen – aber alle Angaben, so scheint es, die zur Beeinflussung des durch das Lesen gewonnenen Urteils beim Leser dienen könnten, möchte Kempowski vermeiden. »Das Echolot« ist auch Ausdruck eines fast schon altmodischen Vertrauens eines Autors (oder doch eher Komponisten?) in die Souveränität des Lesers.
Dankbar bin ich auch für die Momente, die die Gewissheiten des heutigen Lesers ad absurdum führen und ihn vom hohen Ross herunterholen. Ende Januar 1943 z. B. spitzt sich die Lage in Stalingrad dramatisch zu. Eine Einheit erhält die (letzte) Gelegenheit, noch einmal einen Brief nach Hause zu schreiben. Rund ein Dutzend dieser Briefe sind fast hintereinander abgedruckt. Fast alle beschwören noch einmal ihre Führertreue (obwohl dies in dieser Situation ja keiner schreiben musste). Es befinden sich auch Briefe von Soldaten hierunter, die viele, manchmal unzählige Rechtschreibefehler in ihren Briefen produzieren. Unterschwellig entsteht nun beim Leser eine Arroganz diesem Stumpfsinn gegenüber. Aber knapp 1800 Seiten später werden im Abdruck des »Volksgerichtshof«-Urteils gegen die Eheleute Hampel (die handgeschriebene Pamphlete gegen den Nationalsozialismus in Hausflure warfen) gezeigt , dass auch »Analphabeten« »denken« können: ihre Flugblätter quollen zwar über mit Rechtschreibe- und Grammatikfehlern, aber sie schrieben dennoch das richtige, warnten vor den Lügen des Krieges und des Regimes und durchschauten das. Mitläufertum, Stumpfsinn und Verblödung zeigt sich also nicht darin, ob jemand fehlerfrei schreiben kann. Das Buch ist voll von solchen überraschenden Wendungen.
Andererseits werden Geschichten erzählt; Geschichten von Menschen, die durch das Veröffentlichen reinkarnieren. Wir erfahren fast nie, wie es »ausgeht«; das »Echolot« bleibt Augenblickserweckung. Manchmal kann man dies bedauern: Zum Beispiel Hans-Henning Teich – damals knapp 21 Jahre alt, schreibt seine gesehenen Filme auf, geht ins Theater, schreibt Kurzgeschichten, verliebt sich (unglücklich) in eine Provinzschauspielerin. Ende Februar 1943 findet er sich als Soldat auf der Halbinsel Krim wieder. Er steht über den Dingen, bleibt jedoch ohnmächtig. Kein böses Wort kommt über seine Lippen; Teich ist kein Nazi. Und dann lesen wir (am Ende fassungslos), dass Teich 1945 gestorben ist. Wir erfahren nur das. Es ist fast baudelairehaft: als schreite eine Frau, in die man sich sofort verlieben könnte (und vielleicht im Bruchteil einer Sekunde schon verliebt ist) an einem vorbei – mitten auf der Strasse. Man dreht sich noch um – aber sie ist weg.
Oder ein winziger Erinnerungssplitter: Ein Soldat, der als Bewachung einer deutschen Militärbasis in der Ukraine eingeteilt ist, beobachtet die Landung des »Führers«, sieht wie er landet und aussteigt und später kommt ihm der Gedanke, dass er in diesem Moment, durch Betätigung eines Fingers an seinem Gewehr Schicksal hätte spielen können und die Welt hätte »retten« können.
Walter Kempowski hatte etwas Neues gewagt; die Gefahr, zu scheitern (besonders in Anbetracht des Themas) war gross. Gegner warfen ihm vor, das Buch sei nicht »literarisch«. Ein irriger Einwurf; just das Gegenteil ist richtig. Es ist ein literarisches Ereignis: Eine polyphone Textsammlung, die nur in dieser Zusammenstellung diese Wirkung erreicht.
Die späteren »Echolote« (»Fuga furiosa. Winter 1945« – über die Vertreibung; »Barbarossa ’41« über den Beginn des Russlandfeldzugs und »Abgesang ’45« über die letzten Tage des Regimes vor der Befreiung) lassen auch Texte zu, die nachträglich zu den genannten Ereignissen von Zeitgenossen verfasst wurden. Das kratzt ein bisschen an der Verdichtung, da man manchmal eine gewisse (zeitliche) Entrückung bemerkt, die das Wissen des »danach« gelegentlich widerspiegelt.
Dennoch bleibt dieses Projekt, welches – wie manche seiner Kritiker spöttisch behaupten – nur wenige Seiten von Kempowski selbst enthalten, ein zentrales Werk; vielleicht sogar sein Opus magnum (wenigstens während seiner Lebenszeit; Kempowski arbeitete an weiteren Projekten, die nach seinem Tod verwirklicht werden sollen und können).
Was mag Kempowski bewegt haben? Er hat dazu oft etwas gesagt – aber es nie explizit erläutert. Einmal erzählte er von einer Zugfahrt in den 40er Jahren. Ein entgegenkommender Zug gibt einen kleinen, kurzen Blick frei – auf Gefangene in Viehwaggons. Für eine halbe Sekunde schaut Kempowski dieses Grauen an – und ein Mensch in Sträflingskleidung schaut ihn an. Kempowski lässt dieser Augenblick, diese halbe Sekunde, nicht mehr los. Diese Geschichte dieses Menschen muss doch irgendwo aufgeschrieben werden – nur das rettet ihn vor dem endgültigen Tod. Brechts Diktum, ein Mensch sei erst tot, wenn niemand mehr an ihn denkt – das trieb Kempowski fast manisch um. Er wollte dem Grauen ein Gesicht, eine Stimme geben.
Weltschmerz. Kinderszenen fast zu ernst
Und noch ein kleines Büchlein fällt mir da ein; kaum besprochen von der »Kritik«, die leise Töne im Pauken- und Trompetengebrumm nicht mehr wahrnehmen kann: »Weltschmerz. Kinderszenen fast zu ernst« (1995). Kleine, melancholisch-dichte Prosaminiaturen (der Titel angelehnt an Robert Schumann), die den Menschen Kempowski hinter den Zeilen ahnen lassen und in denen er seine Kindheit auf eine fast intime Art und Weise erzählt (nicht nur schildert). Es ist bezeichnend, dass dieses Büchlein kaum Anklang fand und vermutlich nur noch in Antiquariaten zu bekommen ist. Aber bei aller Melancholie, ja auch manchmal ein bisschen Todessehnsucht, zeigt sich hier – wie nebenbei – ein feiner, filigraner, wunderbarer Schriftsteller – und ein verwundeter Mensch.
Den nahen Tod vor Augen meinte Kempowski, er sei gelassener geworden und wolle diese Erfahrung nicht mehr missen. Er wollte das ohne Koketterie verstanden wissen. Und dann, am Ende dieses Gesprächs, schlenderte der abgemagerte Mann – immer noch im Anzug –, dem Zuschauer den Rücken zugekehrt in leicht holperigem Gang durch sein Haus und schritt durch eine Tür.
Er schien noch kurz winken zu wollen.
Was kann ein Nachruf bewirken? Dem Betroffenen Respekt zollen? Interesse für das Werk hervorrufen? Das ist in gewohnter Qualität gelungen. Habe ich ausgesprochen gerne gelesen und »Das Echolot« auf die Leseliste gesetzt. Danke.