Wel­ten und Zei­ten IX

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

← Wel­ten und Zei­ten VIII

Das Prot­e­i­sche bei Yo­ko Ta­wa­da. Stän­di­ge Ver­wand­lung. Aber bei ihr er­ge­ben sich im­mer wie­der neue Ge­schich­ten, es ist kein Zer­fled­dern und Zer­hacken von vor­lie­gen­dem hi­sto­ri­schem oder bio­gra­phi­schem Ma­te­ri­al. »Das Bett ver­wan­delt sich in ei­nen Schlit­ten, der von schwar­zen Rat­ten durch ei­ne Wü­ste ge­zo­gen wur­de. Den Rat­ten wuch­sen Flü­gel. Sie wur­den zu Fle­der­mäu­sen.« (Das Bad) Das ist na­tür­lich ein biß­chen gar zu flott, aber so er­ge­ben sich bei ihr die Ge­schich­ten, ei­ne aus der an­de­ren.

Die Mul­ti­per­spek­ti­vik des Ge­sell­schafts­ro­mans. Im­mer wie­der führt ei­nen der Er­zäh­ler oder die Er­zäh­lung zu ei­ner an­de­ren Fi­gur, ei­ner an­de­ren Grup­pe, ei­nem an­de­ren Haus. Wie es Tol­stoi so groß­ar­tig vor­ge­macht hat. Be­äng­sti­gend groß­ar­tig, wenn man dar­an denkt, wie der Ro­man ge­macht ist. Frei­lich, als Le­ser soll­ten wir uns ein­fach der Lek­tü­re über­las­sen, die uns hier- und dort­hin führt. Wir sind an vie­len Or­ten gleich­zei­tig, das heißt na­tür­lich nach­ein­an­der, trotz­dem mit dem Ein­druck der Gleich­zei­tig­keit.

Es ist das Ge­gen­teil des Ich-Ro­mans und al­ler zen­trie­ren­den (ego­zen­tri­schen) Er­zäh­lun­gen, ob in er­ster oder drit­ter oder hun­dert­ster Per­son. Schat­ten­froh, ob­wohl so um­fang­reich, ist Ich-Ich-Ich, die Welt mit­samt ih­ren Pro­ble­men ein Ich-Ab­klatsch. Und ich, mein klei­nes be­schei­de­nes Ich, hat die­sel­be Ten­denz. Ei­nen Ro­man kann ich bis­her nur in die­ser, wie mir scheint, »na­tür­li­chen« (?) Ich-Form schrei­ben. Wenn wir le­ben – so­gar wenn wir schla­fen und träu­men und nach in­nen schau­en –, schau­en wir doch un­wei­ger­lich aus un­se­rem Ich-Fen­ster und kei­nem an­de­ren Fen­ster her­aus. Gut, wir kön­nen uns in an­de­re hin­ein­ver­set­zen, und in Er­zäh­lun­gen tue ich das gern und weid­lich, aber der Ro­man soll­te doch das Le­ben, wie es ist, ab- oder um- oder neu- oder sonst­wie bil­den. Das Le­ben im Ich-Haus mit Blick ins Of­fe­ne – aber un­wei­ger­lich durch das Ich-Fen­ster, mit den ent­spre­chen­den Per­spek­ti­ven und Tö­nun­gen und Ein­schrän­kun­gen.

Ein­wand: Li­te­ra­tur, ins­be­son­de­re ih­re Kö­nigs­dis­zi­plin, ist eben nicht Wie­der­ho­lung von Le­ben. Ist nicht »Ab­bil­dung« oder was im­mer hier an ver­al­te­ten Be­grif­fen her­an­drängt. Wer schreibt, muß sich erst ein­mal – und bis zu­letzt – von sich di­stan­zie­ren. Muß Ab­stand neh­men. Ein an­de­rer wer­den. Vie­le an­de­re. Muß sei­nen Näch­sten ver­ste­hen und auch sei­nen Fern­sten, sei­nen schlimm­sten Feind. Li­te­ra­tur ist per se Ver­wand­lung, al­so prot­e­isch. Nicht Iden­ti­täts­fi­xie­rung. Nicht ein­mal Iden­ti­täts­su­che. Wo­zu Iden­ti­tät su­chen? Man hat sie so­wie­so, sie bleibt dir ein­ge­brannt. Die Kunst be­steht eher dar­in, sie los­zu­wer­den.

Al­so Ich-Ro­man? Ge­sell­schafts­ro­man?

Wie­der­mal bei­des. Das ewi­ge Hin und Her. Auf die Span­nung kommt es an. Geh aus, mein Herz, und su­che Freud: Wo Er, Sie, Es und Wir war, soll Ich wer­den. Und um­ge­kehrt.

Hei­ner Mül­ler in sei­ner Au­to­bio­gra­phie Krieg oh­ne Schlacht: »Die gan­ze An­stren­gung des Schrei­bens ist, die Qua­li­tät des Traums zu er­rei­chen, auch die Un­ab­hän­gig­keit von In­ter­pre­ta­tio­nen. Die be­sten Tex­te von Faul­k­ner ha­ben die­se Qua­li­tät.« Viel­leicht sind wir uns, wenn wir träu­men, von vorn­her­ein fremd. (Fremd wie das Es, sag’s schon.) Des­halb ver­su­chen so vie­le Au­toren, traum­haft zu schrei­ben. Nur Kaf­ka konn­te das wirk­lich. Faul­k­ner auch, viel­leicht. Der Preis da­für war, bei Kaf­ka, ein sehr dün­ner Schlaf. Ewi­ge Mü­dig­keit im Ta­g­le­ben. Das müß­te ein Kaf­ka-Film zei­gen, die­se ewi­ge Mü­dig­keit, und die Wach­heit im Traum. (Der Film von Schal­ko und Kehl­mann schafft das ja auch.)

»(Nie­mand weiß, daß sie im Ki­no schreck­lich sen­ti­men­tal wird und oft weint.)« Die­ser un­schein­ba­re Klam­mer­satz in Der mensch­li­che Ma­kel von Phil­ip Roth ist be­zeich­nend für die Kraft der Ro­man­li­te­ra­tur. Der Er­zäh­ler weiß näm­lich ge­nau das, wo­von er sagt, daß es nie­mand weiß. Und da­mit weiß es auch der Le­ser, al­so po­ten­ti­ell die gan­ze Welt, tout le mon­de. Im Ro­man er­fah­ren wir Din­ge, die wir im wirk­li­chen Le­ben nicht oder sehr sel­ten er­fah­ren. Das Buch als In­tim­freund! Al­te Volks­schul­weis­heit…

So, jetzt wis­sen wir’s. Hand aufs Herz: Wer wird im Ki­no nicht sen­ti­men­tal? Wer weint nicht im Dun­keln? Da­zu ha­ben wir ja das Ki­no. Wir iden­ti­fi­zie­ren uns gern mit den Fi­gu­ren. Wir den­ken: Ei­gent­lich bin das ich, das ist doch mei­ne Ge­schich­te. Bei der Ro­man­lek­tü­re die hun­dert- und tau­send­fa­che Er­fah­rung: Tua res agi­tur!

Ob der Er­zäh­ler all­wis­send ist oder nicht, ob er die gan­ze Ge­schich­te kennt oder nicht – das ist nicht (mehr) die Fra­ge. In The Hu­man Stain1 ist der Er­zäh­ler agil, fle­xi­bel, ein Geist oder En­gel, der mal hier­hin, mal dort­hin huscht, dann wie­der bei der Stan­ge bleibt, bei sei­ner Haupt­fi­gur, manch­mal iro­nisch – der iro­ni­siert noch sei­ne ei­ge­ne Fle­xi­bi­li­tät!

Und ge­gen En­de ver­liert er die­ses Schein-All­wis­sen. Das Er­zäh­len selbst macht ihn nicht si­che­rer, son­dern un­si­cher. Ein ver­un­si­cher­ter Er­zäh­ler! Wenn über­haupt, dann hat mir so ei­ner et­was zu sa­gen.

Der er­ste Ro­man des 21. Jahr­hun­derts: The Hu­man Stain. Im Jahr 2000 er­schie­nen, nimmt al­les vor­weg, was die post­mo­der­nen post­in­du­stri­el­len des­il­lu­sio­nier­ten re­mo­ra­li­sier­ten und ob­szö­nen, sof­ten und ge­walt­be­rei­ten Ge­sell­schaf­ten des er­sten Vier­tel­jahr­hun­derts prägt, mit ei­nem Schlag­wort: den Wo­kis­mus.

Viel­leicht ist Ro­ma von Al­fon­so Cuarón der Ro­man der Zu­kunft?

Die­sen Satz ha­be ich oh­ne wei­te­re Er­läu­te­run­gen vor in­zwi­schen vier Jah­ren no­tiert. Spiel­fil­me die­ser Art, al­so den Groß­teil der Fil­me, die in die Ki­nos kom­men, könn­te man als in Bil­der­spra­che er­zähl­te Ro­ma­ne be­zeich­nen, wo­bei die Er­zäh­lung in Bil­dern meist viel ef­fi­zi­en­ter vor sich geht als dies Wor­te je­mals schaf­fen kön­nen – was be­reits mit ein Grund ist, wes­halb Ver­fil­mun­gen von Ro­ma­nen in der Re­gel nicht die­se Qua­li­tät ha­ben oder über­haupt schei­tern. (Die Ver­fil­mung von The Hu­man Stain ist zwar im­mer noch ein se­hens­wer­ter Film, reicht aber nicht an den Ro­man selbst her­an und er­faßt das mei­ste von dem, was die­ser zu bie­ten hat, über­haupt nicht.) Der Spiel­film ist al­so nur dann ein in Bil­der­spra­che er­zähl­ter Ro­man, wenn er kei­nen Wör­ter­ro­man als Vor­la­ge ver­wen­det.

In­wie­fern ist Ro­ma ein Zu­kunfts­film? Ich weiß es nicht ge­nau. Viel­leicht wuß­te ich es vor vier Jah­ren bes­ser. Viel­leicht mein­te ich die locke­re und über­zeu­gen­de Art, wie Er­zähl­strän­ge ver­knüpft wer­den. Es han­delt sich nicht um je­ne Not­wen­dig­keit, mit der die Din­ge in vie­len äl­te­ren – oft über­zeu­gen­den – Ro­ma­nen in­ein­an­der­spiel­ten und Men­schen zu­ein­an­der­fan­den. Zu­fäl­le spie­len ei­ne be­deut­sa­me Rol­le. Gott Zu­fall ver­knüpft, was ver­knüpft sein will. Das darf man – als Re­gis­seur, als Er­zäh­ler, als Ho­mo fa­ber – nicht nur, es ge­hört zur Äs­the­tik der Zu­kunft: Zu­fall wird mit ei­ner Art Schick­sals­haf­tig­keit er­lebt. Es hät­te al­les auch ganz an­ders kom­men kön­nen, aber es ist eben so und nicht an­ders ge­kom­men.

Gut so. Lie­be dein Schick­sal!

Ein Wie­ner Ger­ma­nist und Ra­pid­an­hän­ger hat vor Jahr­zehn­ten den Be­griff »Über­trei­bungs­künst­ler« ge­prägt und auf Tho­mas Bern­hard ge­münzt. Die rhe­to­ri­sche Über­trei­bungs­kunst Bern­hards ist aber nur ei­ne Form des Er­zäh­lens un­ter an­de­ren. Min­de­stens eben­so trif­tig könn­te man bei et­li­chen Au­toren von »Un­ter­trei­bungs­kunst« spre­chen. Die Kunst des Un­der­state­ments, des We­nig- und Nur-ein­mal-Sa­gens. Des An­deu­tens, (wie) Ne­ben­bei-Er­wäh­nens. Und drit­tens gibt es im­mer noch und wird es vor­aus­sicht­lich im­mer ge­ben den gu­ten al­ten Rea­lis­mus: Man will mit den Mit­teln der Spra­che der Wirk­lich­keit – ei­ner Wirk­lich­keit, al­so dem per­sön­lich oder kol­lek­tiv Er­fah­re­nen – ge­recht wer­den. Was im­mer das hei­ßen soll, ge­recht wer­den. Hier ist wie­der mal der De­fi­na­tor auf den Plan ge­ru­fen.

Not my job. Es muß Mit­te der neun­zi­ger Jah­re des letz­ten Jahr­hun­derts ge­we­sen sein, als mich das De­fi­nie­ren noch um­ge­trie­ben hat; jetzt zie­he ich das Raf­fi­nie­ren vor. Da­mals ge­lang­te ich zu ei­nem Drei­er­sche­ma, auf­ge­spannt auf ein dua­les Ko­or­di­na­ten­sy­stem, das im Buch­ti­tel Platz hat­te: Die klein­ste Grö­ße. Wir (Au­toren) schrei­ben über das, was wir se­hen und hö­ren, wo­vor wir Angst ha­ben (Män­ner zum Bei­spiel) und wo­von wir träu­men (die wah­re Lie­be).

Die Lust der Ar­beit (des Den­kens, des Schrei­bens) be­steht dar­in, Ein­tei­lun­gen zu ver­fei­nern und Mi­schungs­ver­hält­nis­se zu be­stim­men.

Ich weiß nicht mehr ge­nau, war­um ich The Every von Da­ve Eg­gers ge­le­sen ha­be. Si­cher nicht we­gen dem Pod­cast-Ge­spräch zwi­schen Il­jo­ma Man­gold und Lars Weis­brod über die­sen Ro­man. Das ha­be ich erst da­nach ge­hört. Wahr­schein­lich hat mich ein Mei­nungs­ar­ti­kel von Eg­gers in der New York Times dar­auf ge­bracht. Ich fand, nach der zu­ge­ge­be­ner­ma­ßen bald flüch­tig ge­wor­de­nen Lek­tü­re des Ro­mans, daß die Ge­schich­ten dar­in völ­lig un­glaub­wür­dig sind, die gan­ze An­la­ge heil­los sche­ma­tisch, zei­chen­trick­fi­gur­haft. Der man­ga­ar­ti­gen Li­te­ra­tur konn­te ich noch nie et­was ab­ge­win­nen. Die­ser Eg­gers ver­brät sämt­li­che Ge­gen­warts­trends, wie sie in den Mas­sen­me­di­en zu fin­den sind, zu ei­nem schwa­fe­li­gen Ro­man. Nennt man das Kon­fek­ti­ons­li­te­ra­tur? Er­zielt man so Best­sel­ler? Wahr­schein­lich ja. Aus­re­chen­bar, weil be­rech­net sind die Fi­gu­ren und die Kon­stel­la­tio­nen zwi­schen ih­nen. Die Spra­che der Li­te­ra­tur­kri­tik hat sich dem In­ter­net an­ge­paßt: Il­jo­ma Man­gold und Lars Weis­brod nen­nen das, was man in hu­ma­ni­sti­schen Zei­ten »Er­zähl­struk­tur« oder »Er­zähl­tech­nik« ge­nannt hat, »nar­ra­ti­ve de­vice«. Auch gut; wir wis­sen (un­ge­fähr), was ge­meint ist. Ein Aus­schnitt aus dem Buch wird von Si­ri ge­le­sen. Dan­ke, Si­ri! Es ist ein grau­en­haf­ter ma­schi­nen­mä­ßi­ger Ton, die Klosa­ti­re, um die es sich han­delt, in­halt­lich be­schei­den, über­rascht wird man nie, es ge­schieht im­mer das, was man schon seit ein paar Sät­zen oder Sei­ten er­war­tet. Und die be­lieb­te­sten Li­te­ra­tur­kri­ti­ker der Na­ti­on schwär­men da­von.

An­schei­nend ist die­ser Satz, ir­gend­wo im Meer des Ro­mans, sa­ti­risch ge­meint: »We kill the sub­jec­ti­ve.« Ja, na­tür­lich ist es die Ten­denz der Al­go­rith­mi­sie­rung und der All­ge­gen­wart der Sta­ti­stik bis hin auf die Sport­plät­ze, in die Schu­len und Kin­der­gär­ten, die der Mensch­heit ih­re Sub­jek­ti­vi­tät aus­treibt. Dies wird dem tech­no­po­li­ti­schen Sy­stem und sei­ner Dy­na­mik wohl auch ge­lin­gen oder, bes­ser ge­sagt, ist schon ge­lun­gen; aber Auf­ga­be der Li­te­ra­tur ist und bleibt es, die­se Ten­denz nicht nur zu de­nun­zie­ren – das ist Auf­ga­be der Leit­ar­ti­kel, von de­nen die mei­sten al­ler­dings die Ob­jek­ti­vi­tät der Rech­ner be­weih­räu­chern –, son­dern ihr Wi­der­stand zu bie­ten, und zwar mit all ih­ren Fa­sern, in­dem sie Sub­jek­ti­vi­tät pro­du­ziert. Eg­gers tut ge­nau das in The Every nicht, er kal­ku­liert viel­mehr die de­vices und wie sie am be­sten ein­zu­set­zen sind. Sei­ne Fi­gu­ren sind Num­mern, kei­ne Men­schen. Das Gan­ze ist ei­ne Art SF-Ro­man über die an­geb­lich rea­li­ter be­vor­ste­hen­de Zu­kunft. An­schei­nend ha­ben die Men­schen ih­re Sub­jek­ti­vi­tät so­wie­so schon ab­ge­streift. So wie wir im Kran­ken­haus mit Num­mern auf­ge­ru­fen wer­den, kei­nes­falls mit dem Na­men, oh my god!, we­gen der pri­va­cy, was sonst. Pri­va­cy ist su­per und hilft den Al­go­rith­men, ih­ren Zu­griff auf die Ex-Sub­jek­te noch wei­ter aus­zu­deh­nen.

Aber muß man des­halb sei­nen Ro­man auch so ma­chen, viel­leicht am be­sten gleich mit KI: Lie­bes Chat-Ma­schin­chen, schreib mir bit­te ei­nen SF-Ro­man, wo al­le Men­schen Num­mern sind, in, sa­gen wir, 200.000 Wör­tern. Du hast ei­ne Mi­nu­te Zeit. Weisbrod/Mangold rüh­men in Eg­gers‘ Mach­werk den dys­to­pi­schen Ent­wurf ei­ner »di­gi­ta­li­sier­ten DDR«. Aber die­ser Ent­wurf ist selbst ein Plat­ten­bau­ro­man, aus vor­ge­fer­tig­ten Plat­ten kon­stru­iert. Es riecht nach di­gi­ta­lem Asbest.

Da­zu könn­te man, am Be­ginn ei­ner end­lo­sen Dis­kus­si­ons­schlei­fe, sa­gen: Das ist eben die Se­man­tik der Form; die Be­deut­sam­keit der Mach­art. Usw.

Par­al­lel da­zu le­se ich An­na Ka­re­ni­na. Das heißt, es gibt die­se kur­ze trans­ver­sa­le Be­rüh­rung; tat­säch­lich le­se ich An­na Ka­re­ni­na über die Mo­na­te hin­weg, The Every aber höch­stens ein paar Ta­ge. Oft kommt es bei ver­schie­de­nen Fi­gu­ren von Tol­stois Ro­man zu plötz­li­chen Stim­mungs­wech­seln. Die an­de­re Sei­te der Per­sön­lich­keit blitzt auf. Kei­ne Fi­gur hat nur ei­ne Sei­te. Al­le sind Dr. Jekyll und Mr. Hyde, nur ge­stal­ten sich die Über­gän­ge bei al­ler Plötz­lich­keit ge­schmei­dig, die Per­sön­lich­keits­aspek­te in­ein­an­der ver­wo­ben, nicht streng ge­trennt wie bei Ste­ven­son.

War­um ei­gent­lich will der Li­te­ra­tur­be­trieb im­mer den ul­ti­ma­ti­ven Ro­man ha­ben? Oft noch zu The­men, die den Jour­na­li­sten am Her­zen lie­gen, das heißt, die ih­nen die so­ge­nann­te Ak­tua­li­tät ans Herz ge­legt ha­ben. Und wie­so be­que­men sich so vie­le Au­toren die­ser For­de­rung an? Nach der Co­ro­na-Pan­de­mie wer­den end­lich wie­der Rei­se­ro­ma­ne ge­schrie­ben… Fragt man die Au­toren da­nach, sa­gen die mei­sten von ih­nen, es sei doch egal, Ro­man oder nicht, Haupt­sa­che gu­te Li­te­ra­tur, und fü­gen hin­zu: Ei­gent­lich woll­te ich gar kei­nen Ro­man schrei­ben, aber der Ver­lag hat mich ge­drängt, oder auch: Es hat sich dann so er­ge­ben…

Für mich die bei­den schlech­te­sten Ro­ma­ne der letz­ten Jah­re: Schat­ten­froh und The Every. Im er­sten ist der li­te­ra­ri­sche An­spruch heil­los über­zo­gen, und gleich­zei­tig die Schreib­hal­tung un­ernst. Der zweit­ge­nann­te hat gar kei­nen li­te­ra­ri­schen An­spruch und ist all­zu ernst ge­strickt, oh­ne Selbst­iro­nie.

Ge­sell­schafts­ro­ma­ne, mit de­nen ich mich ein Le­ben lang aus­ein­an­der­ge­setzt – oft auch ge­quält – ha­be: A la re­cher­che du temps per­du, Mé­moi­res de Saint-Si­mon, Der Mann oh­ne Ei­gen­schaf­ten, Ulysses. Fin­ne­gans Wa­ke nicht, über den ha­be ich im­mer nur ge­re­det (und ein biß­chen dar­in ge­le­sen), eben­so Quer pa­stic­ciac­cio brut­to de via Me­ru­la­na (da hat mir schon der Ti­tel im­mer schon ge­fal­len, im rö­mi­schen Dia­lekt).

Das Gu­te am lang­sa­men Le­sen… Man lernt die Fi­gu­ren wirk­lich ken­nen, sich in sie ver­sen­ken. Man lebt mit ih­nen, lernt sie im­mer noch bes­ser ken­nen, freut sich auf die täg­li­che Be­geg­nung mit ih­nen. Und nach der Lek­tü­re ver­gißt man sie nicht so schnell (wie et­wa die »Fi­gu­ren« von The Every).

Das Gu­te am Le­sen von (gu­ten) Über­set­zun­gen: Der Er­zähl- und Sprach­rhyth­mus än­dert sich nicht sehr. Wo­hin­ge­gen der Lek­tü­re­rhyth­mus, wenn man die Spra­che nicht so gut be­herrscht, zu lang­sam, zu stot­ternd ist. Das kann die Kon­struk­ti­on des Ro­mans, die je­de Lek­tü­re ist, be­hin­dern und ver­zer­ren. An­de­rer­seits hat das lang­sa­me, stot­tern­de Le­sen – eben weil man die Spra­che nicht so gut be­herrscht – auch et­was für sich. Man liest not­ge­drun­gen lang­sa­mer, und aus der Not wird ei­ne Tu­gend.

Dem­ge­gen­über die An­ti­ge­sell­schafts­ro­ma­ne: Na­tür­lich A re­bours von Huys­mans oder Dis­si­pa­tio hu­ma­nis ge­ne­ris von Mor­sel­li. Oder auch Frost von Tho­mas Bern­hard (dort der – an sich recht tri­via­le – Satz über ei­ne nächt­li­che Land­schaft: »als wä­re die Mensch­heit aus­ge­stor­ben«).

→ Wel­ten und Zei­ten X

© Leo­pold Fe­der­mair


  1. gemeint ist Der menschliche Makel – G. K. 

3 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Ich fol­ge gern Ih­ren Streif­zü­gen, lie­ber Fe­der­mair, sehr an­re­gend. Ei­ni­ge Au­toren ha­be ich mir no­tiert (Sa­ra Gall­ar­do, Pe­ter Na­das). »Ro­ma« ha­be ich mir am Wo­chen­en­de an­ge­se­hen, was sich ge­lohnt hat, ein schö­ner Film, mich an Yi Yi von Ed­ward Yang er­in­nernd, der, wenn­gleich in Far­be, eben­falls bei­läu­fig, la­ko­nisch ei­ne Fa­mi­li­en­ge­schich­te er­zählt, vom All­tag aus zu den gro­ßen The­men aus­grei­fend. »Der Zu­fall ist das In­ko­gni­to Got­tes«, soll Al­bert Schweit­zer ge­sagt ha­ben.

    Es wür­de den Rah­men et­was spren­gen, wenn ich zu den er­wähn­ten Wer­ken und Au­toren, so­weit mir be­kannt, mei­nen Senf da­zu ge­ben wür­de. Es geht mir auch so, dass ich mein Ur­teil häu­fi­ger re­vi­die­ren muss. Au­toren, die ich schon ab­ge­hakt ha­be, be­gin­nen mich plötz­lich wie­der zu in­ter­es­sie­ren. Zu Tho­mas Bern­hard fin­de ich der­zeit kei­nen Zu­gang, ob­wohl ich ihn frü­her be­gei­stert ge­le­sen ha­be. Ar­no Schmidt ha­be ich nie mit gro­ßer Be­gei­ste­rung ge­le­sen, bei Wie­der-Lek­tü­re konn­te ich ihm noch we­ni­ger ab­ge­win­nen. Aus Fon­ta­ne ha­be ich mir nie sehr viel ge­macht, sei­nen »Stech­lin« le­se ich der­zeit zu mei­ner gro­ßen Über­ra­schung sehr gern.

    Ich den­ke an Höl­der­lins »kunst­los Lied«, das er Hei­del­berg schen­ken woll­te, an ei­ne Li­te­ra­tur, die ih­re Kunst mehr ver­birgt als sie aus­zu­stel­len. Wie bei den Ge­dich­ten An­to­nio Macha­dos, scheint mir, die mich in Ih­rer Über­set­zun­gen die letz­ten Mo­na­te be­glei­ten.

    Da stellt sich auch die hier er­wähn­te Traum­nä­he ein. Frei nach Les Mur­ray: nichts ist wirk­lich, bis es hin­aus­ge­träumt ist in Wor­ten. Bei dem Mül­ler-Zi­tat muss­te ich ne­ben Kaf­ka an Ne­scio den­ken und vor al­lem an Ju­li­en Green, vor al­lem sei­ne frü­hen Ro­ma­ne.

    Ich fin­de bei den ge­nann­ten Au­toren auch ei­ne Nä­he zum bi­bli­schen Er­zäh­len. Auch die Bi­bel ja et­was von ei­nem Traum­ge­bil­de. Und Kab­ba­li­sten sa­gen, sie sei von der an­de­ren Welt ge­träumt wor­den.

  2. @ Chri­sti­an Backes

    Dan­ke für Iih­ren Kom­men­tar. Es liegt in der Na­tur der Sa­che bzw. der trans­ver­sa­len Me­tho­de (bzw. An­ti-Me­tho­de), daß sich nicht im Sinn von Pro und Kon­tra dis­ku­tie­ren läßt. Aber im­mer läßt sich et­was hin­zu­fü­gen, er­gän­zen oder kor­ri­gie­ren oder las­sen sich neue We­ge und Zu­sam­men­hän­ge an­deu­ten.

    Das kunst­lo­se Lied zieht auch mich an und viel­leicht je­den, der durch al­ler­lei Kom­ple­xi­tä­ten durch­ge­gan­gen ist. Bei An­to­nio Macha­do fin­de ich die­se Kunst­lo­sig­keit tat­säch­lich, und mehr als in sei­nem er­sten gro­ßen Ge­dicht­band beim zwei­ten, »Ka­sti­li­sche Fel­der«. Den über­set­ze ich ge­ra­de. Wenn ich hö­re, daß die­se Über­set­zun­gen we­nig­stens dort und da ei­nen Le­ser fin­den, freut mich das nicht nur, son­dern spornt mich an.

  3. @Leopold Fe­der­mair
    Dass Sie nun »Ka­stil­li­sche Fel­der« über­set­zen, ist schön zu hö­ren (ich woll­te schon fra­gen). Ich ha­be die Über­set­zung von Fritz Vo­gel­sang, freue mich aber nichts we­ni­ger auf Ih­re. Ih­re Über­set­zung von »Ein­sam­kei­ten« fin­de ich sehr ge­lun­gen (wo­bei ich, da ich kein Spa­nisch kann, nur be­ur­tei­len kann, ob sie auch im Deut­schen »funk­tio­nie­ren«).

    Im Nach­wort zu Ein­sam­kei­ten schrie­ben Sie ja, an­de­re Über­set­zun­gen nicht zu Ra­te ge­zo­gen zu ha­ben. Ist das bei der Über­set­zung von »Ka­sti­li­sche Fel­der« nun an­ders?

Kommentar abgeben:

Die E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Required fields are marked *