Transversale Reisen durch die Welt der Romane
Herzklappen von Johnson & Johnson von Valerie Fritsch: ein Buch, das ich gern mögen und als »neuartig« hervorheben würde. Ganz ohne Dialoge, auch ohne innere Monologe, ganz geschriebene Sprache, gefeilt und ausgefeilt, deshalb immer (nur?) schön. Andererseits ist die Geschichte fragwürdig, sie wird vernachlässigt, unernst erzählt. Der Großvater im Krieg als Mörder, wirklich? Alle diese latent oder auch manifest vorwurfsvollen Kriegsgeschichten, aufgespürt und ausgegraben von Enkeln und Urenkeln, die von der Geschichte, die sich ihnen verweigert, betroffen sein wollen. Jeder Soldat ein Mörder? Ja, sicher, aber das müßte man dann konsequent so schreiben und nicht den einen Großvater anklagen. Soldaten sind Mörder, von den Vorgesetzten und letztlich vom Staat zum Mord verpflichtet. Weigern sie sich zu töten, werden sie selbst getötet.
Und die Mutter der Erzählerin ist auch was Besonderes, nämlich Schlafwandlerin. Der Vater kommt fast gar nicht vor, vielleicht zu normal? Die Kapitel setzen die Figuren kaum miteinander in Beziehung, vielmehr widmet sich jedes jeweils einer Figur, der Reihe nach, wie Wäsche auf der Leine. Und dann bleiben sie mehr oder weniger aus dem Buch fort. Einfacher gesagt: Die Geschichte ist nicht durchgehalten. Auch der Liebhaber der Erzählerin und spätere Ehemann bleicht aus. Und der schmerzunempfindliche Emil. Gibt es das überhaupt, Menschen, die gar keinen Schmerz empfinden? Anscheinend ja, sehr selten. Analgesie heißt das. Laut Wikipedia sind bisher dreißig davon betroffene Personen bekannt. Dreißig weltweit, oder wo? Steht nicht in dem Artikel. Nach der Lektüre des Buchs kann ich mir diesen Zustand nicht vorstellen. Keine Bodenhaftung, die Erzählerin stellt sie nicht her.
Vögel schauen zum Fenster herein, und die Menschen schauen hinaus. Die Vögel wohnen draußen, deshalb schauen sie manchmal herein; die wohnen herinnen, deshalb schauen sie hinaus. Nein, die Vögel fliegen sofort weg, wenn sie sehen, daß sich etwas bewegt. Aber das Bild von den hereinschauenden Vögeln ist hübsch. Die Gefährdung Emils, des Schmerzunempfindlichen, wird eine Zeitlang ausgiebig beschrieben, dann kommt es zu einer Autoreise nach Kasachstan, die mehrere Wochen dauert, das alles kursorisch erzählt, zusammenfassend, porträthaft umgreifend. Aber, Frage des Lesers mit seiner Wirklichkeitssorge: Ist das nicht völlig verantwortungslos, auf einer Reise in ein fernes Land, nahe an Kriegsgebieten, wo keine ärztliche Versorgung zu erwarten ist – ist es nicht gefährlich, ja, verantwortungslos, ein solcherart gefährdetes Kind mitzunehmen? Einen Analgesiker! Die Frage platzt aus dem Realitätsbewußtsein in die Fiktion herein. Die Schreiberin stellt sie nicht (mehr). Und die Teile der Geschichte greifen nicht (mehr) ineinander.
Dieses Buch bietet eine Variante des Um-jeden-Preis-originell-sein-Müssens. Diese besonders außergewöhnlichen Figuren, mit besonders geschärften oder auch, andersrum, fehlenden Sinnen. Varianten der Bemühtheit. Und dann verebbt der Schwung, reicht nicht aus bis zum Schluß. Keine Dramatik. Angenehmes Dahinschnurren der Erzählungen, man liest sie gern. Wenn man sich nicht gerade über ein Detail ärgert, ein, zwei Mal pro Seite. Dahinschnurren – Ärgern – Dahinschnurren – Ärgern…
Essayistisches Erzählen, nicht unbedingt im Musilschen Sinn: tastend, versuchsweise, annähernd, hypothetisch, trial and error: Soll ich dieses Wort nehmen, oder doch besser ein anderes? Dieses Bild, oder doch besser ein anderes? Fragen des Autors an sich selbst. Die Vermehrung der Fragen: Handke ist im Spätwerk zu diesem Unsicherheitserzählen gelangt. Oder auch Cécile Wajsbrot in Die Zerstörung. Patrick Modiano, seit seinem ersten Buch. Das Prinzip Unsicherheit: In Wajsbrots Roman ist die Bestimmung des »Wir« – man könnte es Erzähl-Wir nennen – so unsicher wie die Bestimmung der im Ungewissen handelnden oder nicht-handelnden Figuren.
Der Mainstream verlangt jedoch klar definierte Umrisse. Auch Kafka schrieb in einen dichten Nebel hinein. Und war trotzdem sehr klar, konnte schreibend erhellen. Auflichten.
Clemens Setz im Interview: »Mich interessiert alles, was ›messy‹ ist, und ich denke, für ›messiness‹ ist der Roman die adäquate Darstellungsform.« Er erzählt dann kurz eine real stattgefundene Geschichte. »Für so eine Geschichte ist der Roman die einzige Arena, und es ist die ethische Aufgabe des Schriftstellers, so etwas in seiner ganzen Komplexität darzustellen.«
Also fast ein Komplexitätsgebot für den Roman. »Messy« – nicht nur hier streut Setz solche Anglizismen in der Art der mit Internet und Netflix aufgewachsenen Generationen ein – bedeutet »chaotisch«, »ohne (erkennbare) Ordnung«. Es gibt verwandte, benachbarte Phänomene, etwa die vorhin erwähnte Unschärfe der Wahrnehmung oder die Ambivalenz von Situationen und Handlungen. Hier bewegen wir uns auf dem Feld – den Feldern – des Romans.
Schön, daß »messiness«, seit Lionel Messi in den USA Fußball spielt, auch »Messihaftigkeit« bedeuten könnte. Eine Wortbildung wie Bobness für Bob Dylan. His Messiness. Als junger Spieler war er ein bißchen zu sehr ins Chaos verliebt und hat sich nicht selten darin verloren. Seine argentinischen Kritiker nannten diese Spielweise nicht ganz zu unrecht »infantil«. Da ist was dran, Kinder sind oft messy und haben Spaß dabei.
Jene Messi-Kritik ist mittlerweile längst verstummt. Aus dem Chaos hat sich immer öfter, aber immer noch selten, der epiphanische Augenblick gelöst, in dem eine andere Ordnung aufleuchtet, an der dann auch Mitspieler – und Zuschauer – teilhaben dürfen.
1967 hielt der Kritiker und Schriftsteller Reinhard Baumgart in Frankfurt Vorlesungen unter dem Titel Aussichten des Romans oder Hat Literatur Zukunft? Also hat man sich schon damals Sorgen um die Existenzfähigkeit der Literatur gemacht. Vielleicht immer schon? Ich glaube nicht. Also seit wann, und warum? Weil Literatur, wie Baumgart unterstellt, von neuen Techniken der Darstellung und neuen Genres an den Rand gedrängt wurde?
Was Baumgart vom Roman Mitte des 20. Jahrhunderts erwartet und auch fordert, ist eine Art Kollektivierung, ein von Kollektiven gesteuertes Erzählen, in dem die Subjekte nur noch eine untergeordnete Rolle spielen. (Solche Ideen fügten sich nahtlos in den damals hegemonialen Zeitgeist, aber diesen Aspekt lasse ich jetzt einmal beiseite. Ist auch wurscht, Zeitgeist hin oder her.) Da gibt es dann, wenn ein Autor tatsächlich einen bürgerlichen Roman à la Balzac zu schreiben versucht, nur noch »flaue Anti-Helden«. Durchschnittsmenschen, auf welche die von Massenmedien beeinflußte und letztlich geformte Massengesellschaft ihre Mitglieder reduziert. Diesem Druck entkommen die Figuren nicht, sie implodieren oder werden flau. In Reinstform hat das Elfriede Jelinek in zahlreichen ihrer Werke gemacht. Kritik kommt nur noch durch den Sprachwitz, die unablässige Sprachakrobatik – in diesem Sinn sind alle ihre Bücher »Sportstücke« – in die Fiktion hinein, nicht aber durch einzelne Figuren, denn die haben nichts mehr zu sagen, sie haben sich in die Medialität, ins Mittelmäßige hinein aufgelöst. Die Figuren werden durch die Sprache der Autorin, die sie, die Figuren, erst schafft, entlarvt und verhöhnt. Ohne Werturteile, genau – das ist den Herren und Damen Kritikern, sofern es noch welche gibt, wichtig: Bloß keine Moral! (Während sich die Gesellschaft, mittlerweile sind wir im 21. Jahrhundert, unterschwellig moralisiert hat).
Baumgart zitiert Adorno und diagnostiziert für seine Gegenwart – Achtung: nouveau roman! – einen »Realismus aus Realitätsverlust«, den Adorno schon an Balzac festgestellt habe, eine phantastische Überdeutlichkeit und Überfülle kleinster Realien als Ersatz für das unbegriffene, unfaßbare Ganze. Was immer es sein mag, dieses Ga-ganze. Daß Totalität nicht mehr darstellbar sei – war sie es je? Meister Hegel hatte das behauptet –, ist eine der philosophischen Obsessionen Adornos. »Epik, die des Gegenständlichen, das sie zu bergen trachtet, nicht mehr mächtig ist, muß es durch ihren Habitus übertreiben, die Welt mit exaggerierter Genauigkeit beschreiben, eben weil sie fremd geworden ist.« Ach, diese verräterische, überkandidelte, piekfeine Sprache Adornos! Statt »exaggeriert« hätte er ebenso gut »übertrieben« schreiben können. Aber das war ihm zu vulgär. Übertriebene Genauigkeit von Balzac bis Robbe-Grillet… Warum nicht? Im Detail liegt doch das ganze Vergnügen! Und zweitens: Im Detail blitzt das Ganze auf, das wir, versteht sich von selbst, niemals zu fassen kriegen. Wußten schon die Romantiker von Novalis bis Walter Benjamin.
Baumgart zitiert Tolstoi, der angeblich im Jahr 1905 meinte, in Zukunft würden die Autoren ihre Erzählungen nicht mehr erfinden, sondern vorfinden. Baumgarts Kommentar dazu läßt an den erst später aufgekommenen Begriff »Autofiktion« denken. Nur das Selbsterlebte ist der Darstellung wert. Andererseits: Fiction is everywhere, ohne Fiktion kann sich keines der Milliarden Individuen ein Selbstbild zimmern und niemand Erinnerungen gestalten und bewahren. Aber Baumgart driftet 1967 in eine andere Richtung, nämlich zum Kollektivismus. Er wünscht Erzählungen, die nicht Realitätsillusionen schaffen, sondern dokumentieren, vor allem auch Sprache dokumentieren. Kollektive Sprache, die Sprache der Medien, das Gegenteil von individuellem Ausdruck. Er verweist auf Alexander Kluge, der sprachliche objets trouvés wie zum Beispiel Chruschtschows Rede beim 20. Parteitag der sowjetischen Kommunisten in eines seiner Bücher hineinmontiert. Collagiert. Dokumentarisch wiedergibt.
»Herkömmliche Erzählung kann sich nicht lösen von dem, was sie erst stiftet, von der individuellen Erfahrung.« Das scheint Baumgart zu bedauern. Sein heimlicher Wunsch (unterstelle ich): Streifen wir, die Autoren – und alle Zeitgenossen – unsere Individualität ab, existieren wir nur noch im Kollektiv, sei es politisch bewußt, sei es als Teilnehmer, d. h. Konsumenten der Massenkultur, der sogenannten Kulturindustrie. Andere mögen, rückwärtsgewandt, daran festhalten, daß das freie Individuum nicht im, sondern gegen das Kollektiv existiere. Und ihre Erzählungen aus der Differenz dazwischen ziehen.
Ganz im Gegensatz zu Baumgart befindet sich, zwanzig Jahre später (1986) Milan Kundera, der den Kollektivismus sowjetischer Machart am eigenen Leib zu spüren bekommen hatte. Im Gegensatz zu Baumgart und allen Tod-des-Romans-Verkündern. Es gebe, so Kundera in L’art du roman, seinem ersten auf französisch geschriebenen Buch, immer wieder neue existentielle Erfahrungen, auch in der Moderne und der Spät- und Post- und Was-weiß-ich-was-Moderne gebe es welche. Und genau diese Erfahrungen versucht der Romancier darzustellen, das ist, so Kundera, seine Aufgabe. Im Vergleich zu Clemens Setz‘ vielleicht vom Punk oder Post-Punk angehauchter »Messiness« klingt dieses historisch aufgeladene Zukunftsprogramm gediegener, aber womöglich meinen die beiden dasselbe. Oder etwas ähnliches. Annäherung an diese spezifischen, oftmals schwer zu benennenden individuellen Erfahrungen über methodisches Chaos, sukzessive Komplexität.
Baumgart hingegen meint mit Adorno, es gebe gar keine individuellen Erfahrungen mehr, die Massenmedien alias Kulturindustrie hätten diese ausgerottet. Also nur noch kollektive Ströme und stereotype Figuren. Friedhöfe der Namenlosen.
© Leopold Federmair