Wel­ten und Zei­ten XIX

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

← Wel­ten und Zei­ten XVIII

Lang­sa­me Heim­kehr wie­der­ge­le­sen, den Ro­man, der sich Er­zäh­lung nennt. Na­tür­lich er­zählt da ei­ner et­was, das ist un­be­strit­ten, und ob es dann zum Ro­man wird . . . ist letzt­lich egal. En fin du comp­te. Am En­de des Ta­ges, wie die der­zeit mo­di­sche Flos­kel lau­tet: Die Me­di­en­spra­che und da­mit die Ge­mein­spra­che, denn al­le sind me­dia­ti­siert, wer­den im­mer flos­kel­haf­ter, rhe­to­ri­scher, Freund­schafts- und Fol­lo­wing-Al­go­rith­men tra­gen viel da­zu bei, auch Emo­jis, im ver­gan­ge­nen Jahr­hun­dert hät­te ich mir nicht träu­men las­sen, daß die Rhe­to­rik so mas­siv wie­der­kehrt (und ich mei­ne nicht NLP, neu­ro­lin­gu­istics for po­li­ti­ci­ans, das ist wie­der ein an­de­res Ka­pi­tel).

Egal. En­fin. Lang­sa­me Heim­kehr, egal wel­chem der vier Tei­le, kann ich mich nicht nä­hern, oh­ne an die 1982 ge­se­he­ne Auf­füh­rung von Über die Dör­fer, dem ich glau­be, drit­ten Teil der Te­tra­lo­gie (oder war es der zwei­te?) in der Salz­bur­ger Fel­sen­reit­schu­le zu den­ken, die in mein li­te­ra­ri­sches wie auch bild­li­ches Ge­dächt­nis ein­ge­gan­gen ist. Re­gie Wim Wen­ders, auf der Büh­ne Mar­tin Schwab, Libgart Schwarz, Hand­kes Ex, in der Rol­le der No­va, der Heils­ver­kün­de­rin, be­ein­druckend ernst­haft. Ich war da­mals für so­was emp­fäng­lich. Das all­ge­mei­ne Pu­bli­kum ver­schmäh­te Hand­ke, den ehe­ma­li­gen Pop-Star, der Zeit­geist fand das al­les zu pa­the­tisch. Das gab mir die Mög­lich­keit, für we­nig Geld die Auf­füh­rung gleich noch ein­mal zu se­hen.

No­va spricht da von der Mau­er her­ab ei­nen heid­eg­ge­ria­nisch-nietz­schea­ni­schen Apho­ris­men­cock­tail, der schießt ge­nau­so ins Hirn wie die Ka­ra­wa­nen­mu­sik, die Wen­ders aus­ge­wählt hat. Ach­tung, Kitsch­ver­dacht! Schon für den Ro­man (oder ein­fach: vor dem Ro­man), das er­ste Stück der Lang­sa­me-Heim­kehr-Te­tra­lo­gie, hat­te Hand­ke Heid­eg­ger ge­le­sen. Ist man ein­mal von der Spra­che des Phi­lo­so­phen af­fi­ziert, geht das nicht so schnell ab, und wie soll man ein Buch wie Sein und Zeit le­sen, oh­ne für die Emo­ti­on emp­fäng­lich zu sein, das heißt, oh­ne sich zu öff­nen? Lang­sa­me Heim­kehr, der Ro­man, ist schon ein biß­chen heid­eg­ge­ria­nisch. Und nicht nur des­halb schwer zu le­sen. Be­son­ders am An­fang, aber ei­gent­lich über mehr als die Hälf­te des Buchs hin­weg, bis es end­lich Schwung auf­nimmt, ist die Syn­tax kom­plex, ih­re bild­haft-be­deu­tungs­schwe­re Be­la­stung groß, so daß der Le­ser ge­zwun­gen ist, vie­le Sät­ze zwei­mal und öf­ter zu le­sen.

Bei Ly­rik ist das selbst­ver­ständ­lich, ein Ge­dicht kann man nicht ver­ste­hen, wenn man es nur ein­mal hört. Das gilt na­tür­lich nicht für je­des Ge­dicht, aber für die mei­sten des 20.–21. Jahr­hun­derts, und für vie­le äl­te­re, Höl­der­lin z. B., Goe­the nicht aus­ge­schlos­sen. Für Hei­nes Ge­dich­te gilt das nicht, oder doch, ei­gent­lich schon, denn so­gar bei die­ser ge­schick­ten, rou­ti­nier­ten und fröh­li­chen Rei­me­rei ent­deckt man, so­bald man den Text noch ein­mal vor­nimmt, im­mer wie­der neue Ele­men­te, vor­her über­se­hen, über­le­sen, über­hört. Die Leich­tig­keit, um nicht zu sa­gen: Ober­fläch­lich­keit et­wa des Buchs der Lie­der ist wun­der­bar, aber sie ist nicht al­les, bei wei­tem nicht. Hand­ke hat­te sie eben­falls, die­se Leich­tig­keit, auch und be­son­ders in sei­nen (pro­sa­na­hen) Ge­dich­ten, aber da­von ist er ab­ge­kom­men, the old ma­gic has go­ne, En­de der sieb­zi­ger Jah­re fürch­te­te er, wie die Bio­gra­phen er­zäh­len, über­haupt nicht mehr schrei­ben zu kön­nen, und die ent­spre­chen­de Ver­kramp­fung des ar­men Schrift­stel­lers scheint den Sät­zen von Lang­sa­me Heim­kehr durch, sie treibt dort so­zu­sa­gen se­man­tisch-syn­tak­ti­sche Blü­ten. Das mei­ne ich ernst, die Aus­ein­an­der­set­zung mit den schwie­ri­gen Sät­zen zieht den Le­ser, so­weit er sich öff­nen kann, in ein Blü­ten­meer hin­ein. Auch das ist wun­der­bar, kann wun­der­bar sein.

Hand­ke lockert sich über die Etap­pen des Ro­mans hin­weg, wirk­lich locker wird er bzw. Sor­ger, sein Al­ter Ego, aber erst im drit­ten Teil, »Das Ge­setz« über­schrie­ben, der in New York spielt. Man könn­te, wä­re man Psy­cho­lo­ge, aber das sind wir nicht, in Lang­sa­me Heim­kehr auch ei­nen the­ra­peu­ti­schen Pro­zeß aus­ma­chen.

Er­zäh­le­risch – »nar­ra­tiv« sagt man jetzt: un­ter nar­ra­ti­vem Ge­sichts­punkt – ent­fal­tet sich das Werk durch Spal­tun­gen und Ver­dop­pe­lun­gen (je­de Ver­dop­pe­lung geht auf ei­ne Ab­lö­sung, ei­ne Spal­tung zu­rück). Hand­ke war und ist ein nar­ziß­ti­scher Au­tor, ein Nar­ziß der Er­zähl­li­te­ra­tur, wie es sie zahl­reich gibt, Au­to­fik­ti­on heißt nichts an­de­res: Selbst­spie­ge­lung und Ver­viel­fa­chung des Selbst, die Fi­gu­ren in Ro­ma­nen, Ge­schich­ten, Epen usw. sind nichts als Va­ri­an­ten des Ich. All die Mil­lio­nen Selbst­ver­viel­fa­cher, die mul­ti­plen Nick­na­me-In­ha­ber, die sich in den sog. So­zia­len Me­di­en oder in se­riö­sen (?) Fo­ren von Ta­ges­zei­tun­gen etc. tum­meln, müß­ten ei­gent­lich da­für Ver­ständ­nis ha­ben. Ha­ben sie aber nicht, denn die Plu­ra­li­tät des Ichs ist dort nur Schein, Ver­steck­spiel, Na­men sind, wie man einst wuß­te, Schall und Rauch, und ein biß­chen ist das auch bei Sor­gers Kol­le­gen und Zu­falls­be­kannt­schaf­ten der Fall, ihr Ur­sprung ist das Spie­gel­bild des Ich, ehe sie sich, im­mer bis zu ei­nem ge­wis­sen Punkt, wie ein Hünd­chen an der Lei­ne, ver­selb­stän­di­gen. Esch zum Bei­spiel, auch wenn sein Na­me auf ei­nen öster­rei­chi­schen Ro­man­cier ver­weist, spie­gelt das Au­toren-Ich – ei­ne Sei­te von ihm, Spie­gel spie­geln im­mer nur ei­ne Sei­te –, dem Sor­ger, die Zen­tral­fi­gur des Ro­mans, am näch­sten kommt, des­halb nen­nen wir ihn »Al­ter Ego«. Es ist ei­ne Welt von Dop­pel­gän­gern, wor­über man­che Fi­gu­ren in der Fik­ti­on er­schrecken, die mei­sten mer­ken es nicht. Un­ter pro­duk­ti­ons­äs­the­ti­schem Ge­sichts­punkt könn­te man sa­gen: Ich-Ab­zieh­bil­der, im­mer leicht ver­schwom­men, ent­stellt, ver­än­dert, ver­zerrt, ver­schö­nert. Sor­ger ist üb­ri­gens ein heid­eg­ge­ria­ni­scher Na­me; sein Grund­pro­blem: Wie kann ich über­haupt und wei­ter­hin und be­wußt – denn zu­nächst ein­mal bin ich ge­wor­fen, sonst nichts – in der Welt sein? Und dann auch: Wie kann ich mit an­de­ren sein? Das fällt ihm be­son­ders schwer. In Über die Dör­fer gibt uns Hand­ke da­für ei­nen Ent­wurf, es ist ein dörf­li­ches, über­schau­ba­res Mit­ein­an­der, wo sich al­le ken­nen, kei­ne Groß­stadt­an­ony­mi­tät, die­ses Dörf­li­che paßt zu Heid­eg­ger und zu Hand­kes Bio­gra­phie. Die Groß­stadt wä­re da­nach als Ver­bund von Dör­fern zu se­hen, New York der Zen­tral­ort des glo­ba­len Dor­fes. Aber Sor­ger will heim. Er setzt sich ins Flug­zeug. End­lich die wah­re Heim­kehr, trans­at­lan­tisch. Da en­det der Ro­man. Dann nichts, wir schlie­ßen die Au­gen, öff­nen sie wie­der, schla­gen das näch­ste Buch auf oder sit­zen im Thea­ter. Und fin­den uns im Dorf wie­der. Je­der stammt aus ei­nem Dorf.

Nach dem Ro­man, dem er­sten Stück der Te­tra­lo­gie, schreibt Hand­ke sie ganz an­ders wei­ter, mit an­de­ren Figuren/Faktoren und an­de­ren Mit­teln. Mit freu­di­gem, schlich­te­rem Ge­stus, wenn auch be­la­den mit An­spie­lun­gen in sämt­li­che Rich­tun­gen, Ein­flüs­sen aus al­len Rich­tun­gen, nicht nur so­ge­nannt klas­si­schen. In der Kin­der­ge­schich­te, Ab­schluß der Te­tra­lo­gie (wenn ich nicht ir­re), er­zählt Hand­ke wie­der fast so locker wie in den frü­hen sieb­zi­ger Jah­ren. Ja, das ist ei­ne Er­zäh­lung, sie ver­dient die­se Be­zeich­nung.

Das Mehr­mals-Le­sen von Sät­zen, das ei­nen na­tür­lich aus dem Er­zähl­fluß her­aus­zieht, wo­nach man nicht im­mer so leicht in die­sen hin­ein­fin­det – nichts da mit »Der Ro­man hat mich in sei­nen Sog hin­ein­ge­zo­gen« oder »Das Buch kann man sich so rich­tig rein­zie­hen«; das Ge­gen­teil ist der Fall – emp­fin­de ich manch­mal wie ei­nen Clu­ster in der Mu­sik, ei­nen Clu­ster so­wohl der Pro­duk­ti­on wie auch der Re­pro­duk­ti­on des Werks. Man liest das­sel­be mehr­mals, und doch nicht ge­nau das­sel­be, die Sät­ze und ih­re Va­ri­an­ten, al­so die mehr­fa­che Be­deu­tung, der mehr­fa­che Ak­zent und die schil­lern­de Nu­an­ce des­sel­ben Sat­zes, sind wie Schin­deln oder Schich­ten oder Plätt­chen, aus de­nen das Haus er­rich­tet wird, auch wenn es ein of­fe­ner, im er­sten Teil von Lang­sa­me Heim­kehr sehr wei­ter, un­be­grenz­ter Raum mit oft sehr gro­ßen For­men ist: im­mer noch Er­zäh­lung, zeit­li­cher Ab­lauf, kein rei­ner Raum, son­dern Wohn­raum, mit Wän­den, durch die man geht, viel­leicht al­so mit Tü­ren, Fen­stern zum Lüf­ten oder Raus­sprin­gen.

Be­we­gung von We­sten nach Osten. Im Kur­zen Brief zum lan­gen Ab­schied war es um­ge­kehrt, die Be­geg­nung mit dem We­stern-Re­gis­seur John Ford ge­gen En­de der Er­zäh­lung sehr schlüs­sig. In Lang­sa­me Heim­kehr lockert sich der ver­krampf­te, durch das ei­ge­ne Spie­gel­bil­der oder die Ver­viel­fa­chung der Spie­gel- und Ab­zieh­bil­der ge­fähr­de­te Welt­raum-Geo­lo­ge, der ei­gent­lich kein ganz an­de­rer als der Schrift­stel­ler ist (letz­te und er­ste Spie­ge­lung).

So, Schluß mit Hand­ke. Er paßt nun ein­mal so gut in mein trans­ver­sa­les Pro­gramm. Viel­leicht ha­be ich die Idee ja von ihm, von sei­ner ewi­gen Zu­sam­men­hangs­su­che, die letzt­lich die un­er­müd­li­che Form­ge­bung be­dingt. Form­ge­bung oder Form­fin­dung? Egal. Bei­des. Je­de Spie­ge­lung ver­zerrt, ver­än­dert, ver­bes­sert, ver­schö­nert, zer­stört.

  • »›Der Zu­sam­men­hang ist mög­lich‹, schrieb Sor­ger, un­ter die Zeich­nung (vom Erd­be­ben­park, von der Mas­ke, dem Tanz, der In­dia­ne­rin usw.). ›Je­der ein­zel­ne Au­gen­blick mei­nes Le­bens geht mit je­dem an­de­ren zu­sam­men – oh­ne Hilfs­glie­der. Es exi­stiert ei­ne un­mit­tel­ba­re Ver­bin­dung: ich muß sie nur frei­phan­ta­sie­ren.‹«

Er – Sor­ger oder Hand­ke oder du selbst – phan­ta­siert al­so den Zu­sam­men­hang, der letzt­lich ei­ner von vie­len mög­li­chen Zu­sam­men­hän­gen und da­mit von For­men ist, in die wahr­ge­nom­me­ne Welt hin­ein. So wie die Stern­bil­der, die vor lan­ger Zeit ir­gend­wer aus­ge­dacht hat, man kann sie je­der­zeit mit ein biß­chen Phan­ta­sie neu zu­sam­men­den­ken.

For­mel: Die Pra­xis der Trans­ver­sa­li­tät ist der ent­schie­de­ne Zu­sam­men­hang. Der Zu­sam­men­hang ist nie­mals das Gan­ze. Es braucht da­zu Mut zur Lücke, zur Luf­tig­keit. Wer so vor­geht, ver­dient den Na­men »Luf­ti­kus« oder »Luft­po­et«, poe­ta aeri­us. Was er, als Ar­chi­tekt des of­fe­nen Raums oder Geo­lo­ge bo­den­stän­di­ger Wör­ter, er­rich­tet, sind Luft­schlös­ser.

Mich stö­ren die­se hin und wie­der auf­bre­chen­den, in den ins­ge­samt doch so zar­ten Text hin­ein­plat­zen­den, ent­setz­li­chen Män­ner­phan­ta­sien. Zum Bei­spiel der flot­te Drei­er mit den weib­li­chen Mo­vie Stars ir­gend­wo in Ka­li­for­ni­en, na­he der Kü­ste, San­ta Bar­ba­ra oder wo das ist. Sie stö­ren den Text, zer­stö­ren den Ro­man für Mo­men­te. Aber viel­leicht ist das gut so. Fun­ken von Ehr­lich­keit jen­seits der an­stren­gen­den Form­ar­beit. Ro­he Ein­spreng­sel im sich for­men­den Werk. Las­sen wir uns stö­ren!

»Über­haupt scheint mir der Fort­schritt der Li­te­ra­tur in ei­nem all­mäh­li­chen Ent­fer­nen von un­nö­ti­gen Fik­tio­nen (sic!) zu be­stehen (...), es geht mehr um die Mit­tei­lung von Er­fah­run­gen, sprach­li­chen und nicht sprach­li­chen, und da­zu ist es nicht mehr nö­tig, ei­ne Ge­schich­te zu er­fin­den.« Ein Satz aus Hand­kes Es­say – von 1967! – Ich bin ein Be­woh­ner des El­fen­bein­turms. Man könn­te ihn als Grün­dungs­er­klä­rung der au­to­fik­tio­na­len Li­te­ra­tur an­se­hen. Wä­re Li­te­ra­tur nicht an sich er­stens ro­man­tisch, zwei­tens au­to­fik­tio­nal. Li­te­ra­tur lebt seit je­her und im­mer von der und durch die Phan­ta­sie, und sie kann nicht aus­kom­men oh­ne mehr oder we­ni­ger gro­ße Bei­ga­ben des Selbst. Au­to­fik­tio­na­le Li­te­ra­tur im en­ge­ren Sinn geht um­ge­kehrt vor, es sind kei­ne Bei­ga­ben, sie keimt und ent­fal­tet sich und blüht aus ei­nem Selbst, ver­viel­facht das Selbst, zieht sich im­mer neu aus dem Zau­ber­hut.

Was ist ein Selbst? Was sind sei­ne Merk­ma­le? Sei­ne In­gre­di­en­zi­en? Da­zu spä­ter, auf ei­nem an­de­ren Ka­nal.

© Leo­pold Fe­der­mair

Fort­set­zung folgt...eventuell.

1 Kommentar Schreibe einen Kommentar

  1. Lo­thar,
    die­se Ge­dan­ken, die Ge­dan­ken­fol­ge mag ich. Lang­sa­me Heim­kehr lang­sam ge­le­sen.

Kommentar abgeben:

Die E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Angaben sind mit * markiert.