Transversale Reisen durch die Welt der Romane
Langsame Heimkehr wiedergelesen, den Roman, der sich Erzählung nennt. Natürlich erzählt da einer etwas, das ist unbestritten, und ob es dann zum Roman wird . . . ist letztlich egal. En fin du compte. Am Ende des Tages, wie die derzeit modische Floskel lautet: Die Mediensprache und damit die Gemeinsprache, denn alle sind mediatisiert, werden immer floskelhafter, rhetorischer, Freundschafts- und Following-Algorithmen tragen viel dazu bei, auch Emojis, im vergangenen Jahrhundert hätte ich mir nicht träumen lassen, daß die Rhetorik so massiv wiederkehrt (und ich meine nicht NLP, neurolinguistics for politicians, das ist wieder ein anderes Kapitel).
Egal. Enfin. Langsame Heimkehr, egal welchem der vier Teile, kann ich mich nicht nähern, ohne an die 1982 gesehene Aufführung von Über die Dörfer, dem ich glaube, dritten Teil der Tetralogie (oder war es der zweite?) in der Salzburger Felsenreitschule zu denken, die in mein literarisches wie auch bildliches Gedächtnis eingegangen ist. Regie Wim Wenders, auf der Bühne Martin Schwab, Libgart Schwarz, Handkes Ex, in der Rolle der Nova, der Heilsverkünderin, beeindruckend ernsthaft. Ich war damals für sowas empfänglich. Das allgemeine Publikum verschmähte Handke, den ehemaligen Pop-Star, der Zeitgeist fand das alles zu pathetisch. Das gab mir die Möglichkeit, für wenig Geld die Aufführung gleich noch einmal zu sehen.
Nova spricht da von der Mauer herab einen heideggerianisch-nietzscheanischen Aphorismencocktail, der schießt genauso ins Hirn wie die Karawanenmusik, die Wenders ausgewählt hat. Achtung, Kitschverdacht! Schon für den Roman (oder einfach: vor dem Roman), das erste Stück der Langsame-Heimkehr-Tetralogie, hatte Handke Heidegger gelesen. Ist man einmal von der Sprache des Philosophen affiziert, geht das nicht so schnell ab, und wie soll man ein Buch wie Sein und Zeit lesen, ohne für die Emotion empfänglich zu sein, das heißt, ohne sich zu öffnen? Langsame Heimkehr, der Roman, ist schon ein bißchen heideggerianisch. Und nicht nur deshalb schwer zu lesen. Besonders am Anfang, aber eigentlich über mehr als die Hälfte des Buchs hinweg, bis es endlich Schwung aufnimmt, ist die Syntax komplex, ihre bildhaft-bedeutungsschwere Belastung groß, so daß der Leser gezwungen ist, viele Sätze zweimal und öfter zu lesen.
Bei Lyrik ist das selbstverständlich, ein Gedicht kann man nicht verstehen, wenn man es nur einmal hört. Das gilt natürlich nicht für jedes Gedicht, aber für die meisten des 20.–21. Jahrhunderts, und für viele ältere, Hölderlin z. B., Goethe nicht ausgeschlossen. Für Heines Gedichte gilt das nicht, oder doch, eigentlich schon, denn sogar bei dieser geschickten, routinierten und fröhlichen Reimerei entdeckt man, sobald man den Text noch einmal vornimmt, immer wieder neue Elemente, vorher übersehen, überlesen, überhört. Die Leichtigkeit, um nicht zu sagen: Oberflächlichkeit etwa des Buchs der Lieder ist wunderbar, aber sie ist nicht alles, bei weitem nicht. Handke hatte sie ebenfalls, diese Leichtigkeit, auch und besonders in seinen (prosanahen) Gedichten, aber davon ist er abgekommen, the old magic has gone, Ende der siebziger Jahre fürchtete er, wie die Biographen erzählen, überhaupt nicht mehr schreiben zu können, und die entsprechende Verkrampfung des armen Schriftstellers scheint den Sätzen von Langsame Heimkehr durch, sie treibt dort sozusagen semantisch-syntaktische Blüten. Das meine ich ernst, die Auseinandersetzung mit den schwierigen Sätzen zieht den Leser, soweit er sich öffnen kann, in ein Blütenmeer hinein. Auch das ist wunderbar, kann wunderbar sein.
Handke lockert sich über die Etappen des Romans hinweg, wirklich locker wird er bzw. Sorger, sein Alter Ego, aber erst im dritten Teil, »Das Gesetz« überschrieben, der in New York spielt. Man könnte, wäre man Psychologe, aber das sind wir nicht, in Langsame Heimkehr auch einen therapeutischen Prozeß ausmachen.
Erzählerisch – »narrativ« sagt man jetzt: unter narrativem Gesichtspunkt – entfaltet sich das Werk durch Spaltungen und Verdoppelungen (jede Verdoppelung geht auf eine Ablösung, eine Spaltung zurück). Handke war und ist ein narzißtischer Autor, ein Narziß der Erzählliteratur, wie es sie zahlreich gibt, Autofiktion heißt nichts anderes: Selbstspiegelung und Vervielfachung des Selbst, die Figuren in Romanen, Geschichten, Epen usw. sind nichts als Varianten des Ich. All die Millionen Selbstvervielfacher, die multiplen Nickname-Inhaber, die sich in den sog. Sozialen Medien oder in seriösen (?) Foren von Tageszeitungen etc. tummeln, müßten eigentlich dafür Verständnis haben. Haben sie aber nicht, denn die Pluralität des Ichs ist dort nur Schein, Versteckspiel, Namen sind, wie man einst wußte, Schall und Rauch, und ein bißchen ist das auch bei Sorgers Kollegen und Zufallsbekanntschaften der Fall, ihr Ursprung ist das Spiegelbild des Ich, ehe sie sich, immer bis zu einem gewissen Punkt, wie ein Hündchen an der Leine, verselbständigen. Esch zum Beispiel, auch wenn sein Name auf einen österreichischen Romancier verweist, spiegelt das Autoren-Ich – eine Seite von ihm, Spiegel spiegeln immer nur eine Seite –, dem Sorger, die Zentralfigur des Romans, am nächsten kommt, deshalb nennen wir ihn »Alter Ego«. Es ist eine Welt von Doppelgängern, worüber manche Figuren in der Fiktion erschrecken, die meisten merken es nicht. Unter produktionsästhetischem Gesichtspunkt könnte man sagen: Ich-Abziehbilder, immer leicht verschwommen, entstellt, verändert, verzerrt, verschönert. Sorger ist übrigens ein heideggerianischer Name; sein Grundproblem: Wie kann ich überhaupt und weiterhin und bewußt – denn zunächst einmal bin ich geworfen, sonst nichts – in der Welt sein? Und dann auch: Wie kann ich mit anderen sein? Das fällt ihm besonders schwer. In Über die Dörfer gibt uns Handke dafür einen Entwurf, es ist ein dörfliches, überschaubares Miteinander, wo sich alle kennen, keine Großstadtanonymität, dieses Dörfliche paßt zu Heidegger und zu Handkes Biographie. Die Großstadt wäre danach als Verbund von Dörfern zu sehen, New York der Zentralort des globalen Dorfes. Aber Sorger will heim. Er setzt sich ins Flugzeug. Endlich die wahre Heimkehr, transatlantisch. Da endet der Roman. Dann nichts, wir schließen die Augen, öffnen sie wieder, schlagen das nächste Buch auf oder sitzen im Theater. Und finden uns im Dorf wieder. Jeder stammt aus einem Dorf.
Nach dem Roman, dem ersten Stück der Tetralogie, schreibt Handke sie ganz anders weiter, mit anderen Figuren/Faktoren und anderen Mitteln. Mit freudigem, schlichterem Gestus, wenn auch beladen mit Anspielungen in sämtliche Richtungen, Einflüssen aus allen Richtungen, nicht nur sogenannt klassischen. In der Kindergeschichte, Abschluß der Tetralogie (wenn ich nicht irre), erzählt Handke wieder fast so locker wie in den frühen siebziger Jahren. Ja, das ist eine Erzählung, sie verdient diese Bezeichnung.
Das Mehrmals-Lesen von Sätzen, das einen natürlich aus dem Erzählfluß herauszieht, wonach man nicht immer so leicht in diesen hineinfindet – nichts da mit »Der Roman hat mich in seinen Sog hineingezogen« oder »Das Buch kann man sich so richtig reinziehen«; das Gegenteil ist der Fall – empfinde ich manchmal wie einen Cluster in der Musik, einen Cluster sowohl der Produktion wie auch der Reproduktion des Werks. Man liest dasselbe mehrmals, und doch nicht genau dasselbe, die Sätze und ihre Varianten, also die mehrfache Bedeutung, der mehrfache Akzent und die schillernde Nuance desselben Satzes, sind wie Schindeln oder Schichten oder Plättchen, aus denen das Haus errichtet wird, auch wenn es ein offener, im ersten Teil von Langsame Heimkehr sehr weiter, unbegrenzter Raum mit oft sehr großen Formen ist: immer noch Erzählung, zeitlicher Ablauf, kein reiner Raum, sondern Wohnraum, mit Wänden, durch die man geht, vielleicht also mit Türen, Fenstern zum Lüften oder Rausspringen.
Bewegung von Westen nach Osten. Im Kurzen Brief zum langen Abschied war es umgekehrt, die Begegnung mit dem Western-Regisseur John Ford gegen Ende der Erzählung sehr schlüssig. In Langsame Heimkehr lockert sich der verkrampfte, durch das eigene Spiegelbilder oder die Vervielfachung der Spiegel- und Abziehbilder gefährdete Weltraum-Geologe, der eigentlich kein ganz anderer als der Schriftsteller ist (letzte und erste Spiegelung).
So, Schluß mit Handke. Er paßt nun einmal so gut in mein transversales Programm. Vielleicht habe ich die Idee ja von ihm, von seiner ewigen Zusammenhangssuche, die letztlich die unermüdliche Formgebung bedingt. Formgebung oder Formfindung? Egal. Beides. Jede Spiegelung verzerrt, verändert, verbessert, verschönert, zerstört.
- »›Der Zusammenhang ist möglich‹, schrieb Sorger, unter die Zeichnung (vom Erdbebenpark, von der Maske, dem Tanz, der Indianerin usw.). ›Jeder einzelne Augenblick meines Lebens geht mit jedem anderen zusammen – ohne Hilfsglieder. Es existiert eine unmittelbare Verbindung: ich muß sie nur freiphantasieren.‹«
Er – Sorger oder Handke oder du selbst – phantasiert also den Zusammenhang, der letztlich einer von vielen möglichen Zusammenhängen und damit von Formen ist, in die wahrgenommene Welt hinein. So wie die Sternbilder, die vor langer Zeit irgendwer ausgedacht hat, man kann sie jederzeit mit ein bißchen Phantasie neu zusammendenken.
Formel: Die Praxis der Transversalität ist der entschiedene Zusammenhang. Der Zusammenhang ist niemals das Ganze. Es braucht dazu Mut zur Lücke, zur Luftigkeit. Wer so vorgeht, verdient den Namen »Luftikus« oder »Luftpoet«, poeta aerius. Was er, als Architekt des offenen Raums oder Geologe bodenständiger Wörter, errichtet, sind Luftschlösser.
Mich stören diese hin und wieder aufbrechenden, in den insgesamt doch so zarten Text hineinplatzenden, entsetzlichen Männerphantasien. Zum Beispiel der flotte Dreier mit den weiblichen Movie Stars irgendwo in Kalifornien, nahe der Küste, Santa Barbara oder wo das ist. Sie stören den Text, zerstören den Roman für Momente. Aber vielleicht ist das gut so. Funken von Ehrlichkeit jenseits der anstrengenden Formarbeit. Rohe Einsprengsel im sich formenden Werk. Lassen wir uns stören!
»Überhaupt scheint mir der Fortschritt der Literatur in einem allmählichen Entfernen von unnötigen Fiktionen (sic!) zu bestehen (...), es geht mehr um die Mitteilung von Erfahrungen, sprachlichen und nicht sprachlichen, und dazu ist es nicht mehr nötig, eine Geschichte zu erfinden.« Ein Satz aus Handkes Essay – von 1967! – Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms. Man könnte ihn als Gründungserklärung der autofiktionalen Literatur ansehen. Wäre Literatur nicht an sich erstens romantisch, zweitens autofiktional. Literatur lebt seit jeher und immer von der und durch die Phantasie, und sie kann nicht auskommen ohne mehr oder weniger große Beigaben des Selbst. Autofiktionale Literatur im engeren Sinn geht umgekehrt vor, es sind keine Beigaben, sie keimt und entfaltet sich und blüht aus einem Selbst, vervielfacht das Selbst, zieht sich immer neu aus dem Zauberhut.
Was ist ein Selbst? Was sind seine Merkmale? Seine Ingredienzien? Dazu später, auf einem anderen Kanal.
© Leopold Federmair
Fortsetzung folgt...eventuell.
Lothar,
diese Gedanken, die Gedankenfolge mag ich. Langsame Heimkehr langsam gelesen.