Peter Sloterdijk schreitet mit der Übertragung seiner Notate bis 2013 fort.
Nahtlos knüpft Peter Sloterdijk mit »Neue Zeilen und Tage« an sein Notizextrakt »Zeilen und Tage« von 2012 an. Die Aufzeichnungen des neuen Buches beginnen dort, wo das andere abschloss (am 8. Mai 2011) und enden am 23. September 2013, unmittelbar nach der Bundestagswahl, knapp zwei Jahre vor jenen politischen Eruptionen, die Sloterdijk fast prophetisch vorwegnahm, als er unmittelbar nach dem Fernsehduell zwischen Peer Steinbrück und Angela Merkel konstatierte, dass man sich bald nach den Jahren des vorgeblichen Stillstands sehnen werde, sobald der Sturm zu ernten ist, der im milden Wind dieser Tage gesäht [sic!] wurde.
Der letzte Teil des Satzes, jenes mystisch-semivisionäre Halbpathos, ist zuweilen typisch für diese Notate, die schon wie in »Zeilen und Tage« mit mäandernd-pointierten, zuweilen aphoristisch-sprunghaften Schilderungen aufwarten. So lässt diese Stoffsammlung weiterhin den Blick in die Werkstatt des Lesers Sloterdijk zu, der nach Belieben Unterstützung zu seinen Thesen in nahezu allen verfügbaren Werken bis hin zur Bibel findet. Man begleitet man ihn bei Nach- und Vorgedanken zu seinen Büchern, sieht ihm praktisch zu beim Sortieren der »Zeilen und Tage« (in dem seine aktuellen Aufzeichnungen nahezu zum Erliegen kommen) und erfährt allerlei über die Arbeiten an ein Libretto zu einer Oper namens »Babylon« (Musik von Jörg Widmann), welche dann im Oktober 2012 in München uraufgeführt wird.
Sloterdijk ist viel unterwegs, zu Kongressen, hält Reden (einmal vor FIFA-Funktionären über den wenig erforschten Unterschied von Angebotsreligionen und Nachfragereligionen [Reaktionen werden bedauerlicherweise nicht überliefert]), sitzt in Fernsehdiskussionen oder im Flugzeug, macht Urlaub und sortiert dabei seine Gedanken zum Erlebten. Nur am Rande kommen seine universitären Pflichten vor, etwa wenn ein unterschriftsreifer Sponsoring-Vertrag mit einem Drogeriemarktinhaber doch noch in letzter Minute platzt. Oder wenn es um Nachfolgeregelungen geht. Unterhaltsam dagegen die Kollegenbeobachtungen, die manchmal in Spott münden. Etwa über Redner, die wir brauchen sagen. Oder nach dem Ende eines Philosophiekongressen. Der Boden sei nach 400 Referaten von Worthülsen übersäht [wieder die falsche Schreibweise]. Überhaupt hadert er zuweilen mit seiner Wissenschaft. Was heißt denken?, fragt er einmal. Um dann die verblüffende Antwort zu geben: Feuer in Papiertüten transportieren.
Sloterdijks Stärke ist es über alle Disziplinen hinweg Allegorien oder, noch besser, Vergleiche zu konstruieren, die Sachverhalte nicht nur erhellen sondern einem in den besten Momenten vollkommen neue Wege aufzeigen (die allerdings hier und da durchaus ins Nichts münden). Dabei ist für ihn klar: Der postmoderne Patient ist das Subjekt, das keine Vergleiche mehr produzieren kann. Das Vermögen, zu vergleichen, ist aber die Quelle des vitalen Elans, wenn Elan die Fähigkeit meint, Älteres auf Neues zu beziehen. Sloterdijk praktiziert dies in beide Richtungen: Er bezieht eben auch Neues auf Älteres, findet verborgene, zuweilen verblüffende, manchmal etwas gewollte Parallelen, Gleichförmigkeiten oder Widersprüche – dort, wo man sie am wenigsten vermutet.
Zuweilen stoppt er allerdings etwas abrupt seine Ausführungen. So hätte man gerne mehr erfahren, warum Staaten mit schwachen Sozialsystemen besser gerüstet sein sollen größere Einwanderungsgruppen zu »integrieren« (Sloterdijk vergleicht in einer anderen Notiz Integration mit Unterwerfung, daher integrieren in An- und Abführung). Der angegebene Grund, dass das auskömmliche Nebeneinander der Schwachen leichter falle, leuchtet nicht ein.
Anregend indes seine Überlegungen über den Staat und Steuern, die in gewisser Weise ein Fortschreibung seines Essays »Die nehmende Hand und die gebende Seite« darstellen. Verknüpft wird dies mit Überlegungen über den Nationalstaat, mit dem ihn eine Hassliebe verbindet. Auf der einen Seite sieht er ihn immer noch als unentbehrlich an, weil er zum Beispiel soziale Sicherungen vornimmt, aber vor allem, weil er Steuern erheben kann. Dies ist, so die These, eine der Antriebsfedern für Nationalstaaten vom 19. Jahrhundert bis heute gewesen. Damit würden sich beispielsweise Sezessionswünsche erklären, die nicht selten mit Streits um Länderfinanzausgleiche begonnen haben (bis hin zur Eskalation eines Bürgerkrieges). Zudem kann Sloterdijk mit der EU in der aktuellen Verfassung wenig anfangen (er nennt sie sogar einmal verächtlich EUdSSR). Andererseits ist er sich nicht zuletzt durch die national agierende französische Linke durchaus bewusst, dass der Nationalstaat als Schutz gegen globale Infiltrationen nicht mehr taugt.
Schwer kann sich Sloterdijk mit Antiterrorgesetzen anfreunden, hinter denen er seine Freiheit eingeschränkt sieht. Die wirklichen Herausforderungen von Politik sieht er in der sukzessiven Zerstörung der ökologischen Lebensgrundlagen. Dies konstatierend vermisst man jedoch konstruktive Lösungsideen.
Trotz großer EU-Skepsis hegt Sloterdijk von Beginn an keinerlei Sympathien für die sich unter Lucke konstituierende AfD. Seltsam die Leerstelle zu Merkel und der Union; kein böses Wort hierüber. Die SPD hingegen bekommt als Anästhesist[] der Unterschichten ihr bzw. sein Fett weg. Der damalige Kanzlerkandidat Peer Steinbrück sei begabt aber ungenügend. Womöglich spielt da auch noch der Groll mit, dass dieser unmittelbar nach der Proklamation zur Herausforderung seine zugesagte Teilnahme am »Philosophischen Quartett« abgesagt hatte.
Breiten Raum nehmen nachträgliche Überlegungen zu seinem 2009 erschienen Buch »Du mußt dein Leben ändern« ein, in dem er nichts anderes als eine Anthropologie des übenden Lebens verfasst haben möchte. Gegen Ende dann Gedanken und Thesen zum 2014 erscheinenden »Bastard«-Buch »Die schrecklichen Kinder der Neuzeit«. Der Bastard ist für Sloterdijk der Springer nach vorne, der Beweger, ein Handelnder, der gelernt und gelebt hat Erbfolge und Tradition hinter sich zu lassen. In den Notizen wird die Intention des Themas greifbarer als im überkomplex strukturierten Buch.
Häufig finden sich beim frankophilen Geist Sloterdijk Betrachtungen zu Frankreich – vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Im französischen Fernsehen spricht er im Wahlkampf unter anderem mit dem Kandidaten François Hollande. Sein Urteil ist ähnlich wie das Helmut Schmidts über Jimmy Carter. Für Hollandes nach seiner Wahl entwickelten Reichensteuerdekrets hat der Steuerskeptiker Sloterdijk nur Spott übrig und gerät in Verzückung wenn er sich dagegen an das phantastische Denken de Gaulles erinnert. Bei Präsidentschaftswahlen möchte er am liebsten alle abstimmen lassen, nicht nur die jeweiligen Angehörigen einer Nation. Er verspricht sich hiervon bessere Resultate. Demokratie ist für ihn der nützliche Aberglaube, Kämpfe seien in Debatten auflösbar. Demokratisch organisierte Länder mit Royals bieten überdies durch diese Ferien von der Realität.
Immer nachdenkenswert sind seine zuweilen etwas sprunghaften Überlegungen zu soziologischen und gesellschaftlichen Themen. Generell sieht er die Gesellschaft als einen überdiagnostizierten Patienten, was ihn aber nicht daran hindert weitere Diagnosen anzubieten. Etwa wenn von der zunehmenden Epidemie von aggressiven Überempfindlichkeiten, die in eine Professionalisierung des Beleidigtseins insbesondere von Scheinprogressiven münden würden, die Rede ist. Ohne Klageroutine und Jammerbetrieb gebe es praktisch kein Gehör mehr, so der zutreffende, mittlerweile prophetische Befund. Passend dazu die Charakterisierung in Nationen heutzutage nur mehr Überreaktions-Gemeinschaft(en) in psychopathischer Synchronschaltung zu sehen. Auslöser für solche Gewitterdonner sind die Berichterstattungen beispielsweise über Terrorakte wie den Anschlag beim Boston-Marathon 2013. Sloterdijk nimmt die These führender Forscher, dass Terrorakte Mitteilungen seien, die durch die Berichterstattung über sie erst zu dem Rang führen, den sie beabsichtigen, schlichtweg ernst. Mit der jeweils großen und streckenweise hysterischen Berichterstattung erfülle man exakt das Ansinnen des Terroristen. Dies sei, so Sloterdijk, eine perverse Überbelohnung einer marginalen Untat durch Medienaufmerksamkeit ohne Grenzen. Kaum ein Berichterstatter sei sich seiner Komplizenrolle bewußt. Es liegt in der Natur der Sache, dass diese These, die Sloterdijk in ähnlicher Form mehrfach in Interviews äußerte, gerade bei Medienvertretern auf wütende Ablehnung stösst.
Der Spagat zwischen medialem Überreagieren und notwendiger Berichterstattung wird deutlich, wenn es um den Massenmord von Breivik 2011 geht, der ebenfalls in den Beobachtungszeitraum des Buches fällt. Sloterdijk wirkt hier fast überfordert – einerseits versucht er nach Motivationen zu forschen, anderseits ist die Monstrosität des Verbrechens einfach zu groß. Ob es daran liegt, dass im Buch konsequent der Name des Mörders falsch geschrieben wird?
Überhaupt bietet »Neue Zeilen und Tage« Erinnerung an Ereignisse, die man fast schon vergessen hatte. So beschäftigt sich Sloterdijk mit der vom ihm als lächerlich empfundenen Strauss-Kahn-Affäre (hier unterschätzt er das Potential, welches dann Jahre später in die sogenannte #MeToo-Bewegung mündet). Wenig kann er mit der Beschneidungs-Debatte anfangen. Naturgemäß sehr interessiert und mit skeptisch-ironischen Volten begleitet er die Euro-Krise um und mit Griechenland. Hier räumt er mit der Verklärung Griechenlands als »Erfinder« der Demokratie gründlich auf: Zum einen wäre dies nur eine kurze Episode als Nebenfolge der themistokleischen Flottenpolitik gewesen. Und zum anderen könne hieraus mehr als 2500 Jahre später kein Freibrief für eine Prokopf-Verschuldung von 30.000 Euro abgeleitet werden. Mit Genuß spießt er eine Habermasiade seines Intimfeindes auf, der forderte, die 10,7 Millionen Griechen über die in Aussicht gestellten Hilfsleistungen votieren zu lassen. Es komme dem alten Herrn nicht in den Sinn, die übrigen Europäer (502,5 Millionen Personen bzw. 330 Millionen Euro-Benutzer) könnten ihrerseits einer Befragung zu diesem Thema würdig und bedürftig sein.
Lesenswert bis amüsant sind die zuweilen spitzen Charakterisierungen über Personen. Obama, dessen Mordkommando gegen Bin Laden mit äußersten Mißfallen von Sloterdijk kommentiert wird, sieht er als Ohnmächtigen, weil er zulässt, wie Geheimdienste ungeachtet aller Kritik Verbündete ausspähen. Aber auch der Tea-Party sieht er sehr kritisch gegenüber; den Trumpismus sieht er durchaus voraus, allerdings ohne Trump. Handkes Selbstbezichtigung als »Träumer« stört ihn, weil damit Bedeutsamkeit suggeriert würde. Martin Walser ist für ihn ein Sehnsuchtsforscher. Emmanuel Todd scheitere an seiner Teutonophobie. Bei Michel Houellebecq sieht er kaum literarisches Niveau; sein Erfolg beruhe in seiner ostentativen Selbstablehnung. Alice Schwarzer ist nur noch eine Selbstparodie. Joschka Fischer sei mit der Kritik an Merkels »Sparpolitik« ins inflationistische Lager übergewechselt. Grass ist für ihn ein Hybris-Beauftragter, der sich in Stratosphären des Unsinns bewegt (sein Israel-Gedicht nennt er einen verkalkte[n] Monolog). Ulrich Beck, den er schätzt, nennt er einen Berufseuropäer. Dylan habe lichte Momente aber mehr auch nicht. Treffen mit dem Freund Wolf Wondratschek. Auch bereits Verstorbene sind vor seiner Ironie nicht gefeit. Carl Schmitt ist der Frisör an der metaphysischen Perücke Hitlers. Heiner Müller ein Kaputtheits-Artist. Bei Stifter schätzt er immerhin den Beschönigungs-Trotz.
Nur wenige bestehen vor Sloterdijks Urteil. Nietzsche natürlich (den er an einer Stelle wunderbar weiterschreibt: Hoffnung ist die Option, daß die Verzweiflung unrecht behält). Auch Hegel und einiges von Heidegger (außer dessen Nietzsche-Interpretationen). Weiter: Carl Amery, Joseph Vogl und Eugen Rosenstock-Huessy. Ohne ihn direkt zu erwähnen stützt er diverse Male Hypothesen des Wirtschaftssoziologen Gunnar Heinsohn. Einige Notate zeigen Sloterdijks Eitelkeit, etwa wenn er aus unerwarteter Richtung gelobt oder zitiert wird. Und ab und zu rühmt er sich gewisser prognostischer Fähigkeiten aus vergangenen Werken.
Bei allen heiteren, selbstironischen Volten nehmen die blass-melancholischen Momente zu. Mal stützt er vom Fahrrad (um kurz darauf eine Eloge auf die velomanische Beweglichkeit anzustimmen). Oder ein Klinikaufenthalt steht an. Interessant eine Stelle, an der kurzfristig so etwas wie Lesehemmung auftritt: Scheinbar ist alles ausgelesen; kein »Stoff« mehr verfügbar.
Sloterdijk kommt langsam ins Pensionsalter. Er sei zu alt für törichte Feindschaften, zu jung für Gleichgültigkeit. Dieses Interregnum merkt man den Aufzeichnungen an. So wacht er einmal als asymmetrische Vase auf und mindestens zwei Mal hört er gar den Tod anklopfen. Da ist ein himmelweite[r] Unterschied zwischen dem erlebten Tag und dem, was sich davon sagen läßt. Er, der Publikationswütige, referiert über den Terror von Publikationsverfahren, scheint ermüdet von Deutungsspielen. Um dann nach jedoch lustvoll über Leistungsträger, die in Deutschland ohne intellektuelle Fürsprecher seien, Entwicklungen im Ancien Régime in Frankreich, Bad banks und Rettungsschirme, Spam-Mails als Speerspitze einer organisierten Evangelisierung, die Dürftigkeit der Weltspiele der Faselei (gemeint ist die »documenta 13«), das Professorengehabe mit Weltveränderungsansprüchen, den Gegenwartsmensch als denjenigen, der zum Vertrauen verurteilt sei oder über den Haß an Textilien bei Fahnenverbrennungen im arabischen Raum zu räsonieren. Sogar das Sexualleben von Pinguinen, Tannhäusers Impotenz, Gottfried Benns Reisen oder die Fremdenfremdheit der Japaner finden Beachtung. Seine Notizen betrachtet er als eine Sammlung von Symptomen des monströsen Zustands. Der zweite Teil des Buches (Notizen von August 2012 an) heißt denn auch Momente der Entewigung.
Gegen Ende wird vierzehn Tage gefastet. Die diätetische Mahlzeiten unterstützt er trotzig mit einer Diät der Meinungen, wohl einige Tage später wissend und mit den Hufen scharrend, dass bald die meinungslose (vulgo: schöne) Zeit wieder vorüber sei.
Der Leser lehnt sich nach der Lektüre zurück. Gleichzeitig erschöpft und erfrischt, glücklich und traurig. Was will man mehr?
Die kursiv gesetzten Stellen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.
Schöne Rezension; verblüffend wie der kritische Denker Sloterdijk in seinen Begriffsschöpfungen sofort erkennbar wird, etwa bei der »Epidemie der aggressiven Überempfindlichkeiten«.
Einige Positionen kennt man ja schon, die Steuer-Kritik, die EU-Skepsis, den Medienerfolg des Terrors. Anderes, wie die soziologische Abstufung des Integrations-Begriff wirken wie spontane Abwehrgedanken, aus der Nötigungserfahrung aktueller Politikbeobachtung heraus.
Ich habe mich gefragt, wie die zukünftige Einteilung der Tagebuch-Reihe weitergeht. Unschwer, prognostiziert der Zwei-Jahres-Tournus den nächsten Abschnitt bis September 2015.
Das wäre natürlich höchst bedauerlich, denn das Annus mirabilis 2015 nimmt dort erst Fahrt auf, als das zu Rettende übermächtig wird.
Sein »Lob der Grenze« mit einschneidender Kritik formuliert Sloterdijk erst im Januar 2016; dem folgen noch die Zurechtstutzungen seiner rechtslastigen Interpretation, die seine Reaktion in den Notizen interessant machen.
Ja, man kann es eigentlich kaum erwarten, das nächste Notiz-Konvolut.
@ die_kalte_Sophie
Sloterdijksches Grenzlob gibt es in »Zeilen und Tage II« durchaus – und auch profunde EU-Kritik.
»Seit Jahren hört man viel aufgespreizten Unfug über das notwendige Ende der Nationalstaaten (...).« S 147
Dann haut er auf S. 148 die Damen und Herren Sozialwissenschaftler, die diesen Murks hinausposaunen, sie wüssten einfach nicht, wovon sie sprächen, weil ihnen die reflexive Kraft fehle, die Begrenzungen, die in der relativen Jugend ihrer Fächer liege, geistig zu durhcdringen (im Klartext: Sie sind hitlerfixiert und erklären durch diese Fixierung hindurch vermeintlich den ganzen Lauf der Welt – in Wirklichkeit aber nur ihre eigenen Focussierfehler) und dann, nach diesen wohlerwogenen Seitenhieben konkludiert Sloterdijk »einwandfrei« (Rolf Miller – ein anderer Badener, der als einigermassen zurechnungsfähig noch wird durchgehen dürfen, nebenbei gesagt) – konkludiert also Sloterdijk einwandfrei so: »In Wahrheit sind die Nationalstaaten unentbehrlicher denn je (...).«
Beim Himmel: ja! Und nein: Es ist nicht die ganze deutsche Geschichte eine von und zu Hitler. Echt nicht, Kids – Take That!, der Karslruher schmale Bruder des lustigen Obelix hat Recht, Recht, Recht und nochmals Recht – und- eh, nicht dass ich es vergesse: Hitler hatte Unrecht.
Verflixt.
@ Gregor Keuschnig:
»Zuweilen stoppt er allerdings etwas abrupt seine Ausführungen. So hätte man gerne mehr erfahren, warum Staaten mit schwachen Sozialsystemen besser gerüstet sein sollen größere Einwanderungsgruppen zu »integrieren« (Sloterdijk vergleicht in einer anderen Notiz Integration mit Unterwerfung, daher integrieren in An- und Abführung). Der angegebene Grund, dass das auskömmliche Nebeneinander der Schwachen leichter falle, leuchtet nicht ein.«
This is old hat. Die US-Neocons wollten so in der glorreichen zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts der Sozialdemokratisierung der USA und gleichzeitig der Einschränkung der Zuwanderung wehren. Und sie haben da Erhebliches erreicht.
Die Logik dieser ex-Linken (viele ex Trotzkisten) ist klar und einfach: Wenn man die Fremden sozialstaatlich verwöhnt, werden sie die besonderen Härten, mit denen sie die neue Umgebung konfrontiert, nicht kämpferisch (=arbeitend, auch unter harten Bedingungen!) bestehen wollen, sondern sich einfach zurücklehnen und genießen, was sie vorher nicht hatten: Perfekten (militärischen) Schutz (=Sicherheit vor äusseren und inneren Feinden) und grössere materielle Ressourcen als sie sie zuhause je hatten – in jeder Form. (Ich habe gerade eine kleine Geschichte im Zeitmagazin gelesen, da ist von einer Kleinstadt (15 000 Einwohner) in Sibirien die Rede, die keine Klinik hat. Die nächste Klinik ist drei Stunden entfernt. Ein paarmal im Jahr kommt der Arzt-Zug vorbei. Das wars!
Wenn hier der Notarzt nicht nach sechs Minuten (kein Witz, geehrte Leserschar) um die Ecke braust, werden im Landtag kleine Anfragen gestartet, und wenn ein Asylant wegen solcher Zeitüberschreitung zu Schaden käme, wäre das ein nationaler Aufreger. Das sind ja alles in allem paradiesische Bedingungen...und unsere Damen und Herren Zuwanderer sind tatsächlich entsprechend begierig auf Gegenleistungen...
Sehr schön ist übrigens auch der Stüber, den Sloterdijk den Angestellten im öffentlichen Dienst, nicht zuletzt an seiner Hochschule in KA verpasst. Wer sich da zur Faulheit entschließt, braucht die Rüge niemals zu fürchten, denn ihm kann keiner mehr was. Auch die Faulen im Öffentlichen Dienst sind im Paradies, sagt ihr Dienstherr (=Rektor der HDK) Sloterdijk, solange die Steuerzahler das mitmachen. Es wäre übrigens problemlos möglich, dass solche Leute dann ihren Chef in der Süddeutschen als Frauenfeind öffentlich an den Pranger stellen (ich wüsste das nicht, wenn mir das der einzige linke Buchhändler, den ich kenne, und der tatsächlich noch Rezensionen liest, nicht brühwarm persönlich erzählt hätte: In der SZ ist Sloterdijk entlarvt worden als Frauenfeind, sein neues Buch ist bedenklich – vorgetragen mit ernster Mine...Ein alternder drahtiger Feminist...immerhin aufrecht.
Am Beispiel von Hollande erzählt Sloterdijk, wie der linke Traum der Staatssanierung qua Höchststeursatz an eine praktische Grenze stößt, denn Hollandes Pläne, einfach die Spitzensteuersätze auf 85% hochzuschrauben und so die französischen Haushaltsdefizite zu kurieren, ist perfekt gescheitert*** – und Sloterdijk kann sagen, dass er das in einer öffentlichen Debatte m i t Hollande korrekt vorhergesagt hat! – »Ahh ned schleschd!« (Der Datterich)
*** Das tatsächlich eingehobene Steueraufkommen war nach der gloriosen Hollandschen Reform geringer als zuvor – - – das Geld hat einfach Füsse bekommen... – nicht zuletzt übrigens das Geld vieler linker reicher Genossen... – aber das nur nebenbei...
Die ganze Angelegenheit war jedenfalls eine Totalpleite. Die Reichen sind unter sozialstaatlichen Bedingungen nämlich nicht die Feinde der arbeitenden Bevölkerung, sondern, ganz wie Schmidt, Schiller, Erhard und Schröder das gesagt haben: Partner!
Man muss fair miteinander umgehen, sonst zerstört man den Sozialstaat von oben; auch da hat Sloterdijk recht, und seine gefühlslinken Kritiker von »Freund Assheuer« (Sloterdijk) angefangen bis hin zu Habermas, dem Eliten-Forscher Hartmann und Heitmeyer und so weiter haben allesamt vollkommen unrecht.
Howgh!
@Dieter Kief
Eine Logik des (dieses) Sozialstaats übersieht Sloterdijk: Die Sozialleistungen tragen zur Befriedung bei. Und in gewissem Maße auch zur Dekriminalisierung. Er ahnt es, wenn er von den Anästhesisten der Unterschicht spricht. Würde man die Leistungen heruntersetzen, wäre dies immer noch nicht das »gewünschte« Signal.
Interessant an den Äußerungen zu Hollande ist die sich zeigende Konzeptionslosigkeit der französischen Linken, ihre Unfähigkeit außer mit »Reichensteuer« oder ähnlichen fiskalischen Maßnahmen das Land zu reformieren. Hier ist Sloterdijks Blick hilfreich, wenn auch nicht neu.
Wenn man den Reichen ihre mit Hilfe der Politik ausgebeuteten Reichtümer nicht nehmen will, muss man – da ist PS konsequent – das Mäzenatentum in den Mittelpunkt sozialstaatlichen Denkens rücken. Aber die Notizen zeigen, dass er damit auch nicht so ganz zufrieden ist.
@ Gregor Keuschnig
Dass Sloterdijk die Logik des Sozialstates nicht versteht, kann ich nicht finden – haben Sie mal in Zorn und Zeit hineingegeuckt? Da steht u. a. das, was Sie hier gegen Sloterdijk an Argumenten aufführen (und vieles mehr) bereits genau ausgeührt.
Sloterdijks Hollande-Kritik konnte und wollte nicht neu sein, weil diese Debatte um gerechte Steuersätze schon seit Jahrhunderten geführt wird. Aber ich wüsste jedenfalls nicht einen (nicht einen!) anderen Deutschen Intellektuellen, der Hollande right away – noch vor der Wahl! – dessen Scheitern korrekt prophezeit hätte. Das zeugt von erheblicher Geistesgegenwart – und das ist absolut rühmenswert, wie ich finde.
Ihr letzter Abschnitt ist »evendöll« ein wenig irreführend: Das Beispiel Hollandes lehrt nicht, dass da einer den Reichen ihren Reichtum nicht nehmen wollte – das gerade nicht! Hollande wollte ja unbedingt! – Das Beispiel lehrt, dass das nicht ging!
Dann machen Sie noch ein wirklich großes Thema auf, wenn Sie fragen, was denn sonst zu tun sei? Es Stimmt, Sloterdijk sagt, man soll mehr auf Mäzenatentum setzen. Aber er scheitert auch sehr drollig gerade auf diesem Feld in Z u T II – weil der sehr reiche Drogeriemrkt dm-Besitzer Werner ihm erst fünf Jahre lang den Mund wässrig macht, und ihn scheints auch ziemlich oft antanzen und an Besprechungen und Planungen teilnehmen lässt, die seine Unterlinge mit Sloterdijk abhalten, hehe, aber dann – aber dann – - – kommt die kalte Dusche, und aus dem mittels des mit Drogerie-Geld zu etablierenden Psycholopolitischen Forschungsinstituts in Karlsruhe wird haargenau: Nichts... Peter S. im wiederholten großen-Geld-Pech, weil ja auch (Handke-) Milliardärs-Mäzen Burda längst nicht mehr in Sloterdijks Sinn tickt.
Die Herren, vermute ich, halten dann doch lieber zum Merkelschen Mainstream, der für sie viel weniger anstrengend – und letztlich auch viel lohnender als dieser unberechenbare Karlsruher Kusthochschuldirektor und philosophische Schriftsteller ist.
Die klassische sozialdemokratische Antwort auf die Frage,was neben Steuersätzen zu leisten sei, lautet: Die Wachstumsgewinne (!) fair teilen und die Härten fair abfedern. Der erste Teil der Rechnung ist seit Schröder so ca. aus der öffentlichen Diskussion verschwunden.
Sieferle und Sarrzin (auch Sinn, eigentlich) bieten dafür eine Erklärung, die in meinen Augen erheblich ist, aber offenbar zu komplex, um Fahrt aufzunehmen: Dass nämlich die Globalisierungsgewinne die regional (=national) destabilisierenden Effekte, die mit ihnen einhergehen, im anlophon bestimmten Westen nicht mehr aufwiegen.
Die internationale Konkurrenz ist (erheblich) härter geworden (=Gewinne schwerer zu erzielen), und die regionalen (=nationalen) Folgekosten der offenen Grenzen steigen gleichzeitig täglich an (auch diesjahr wird es wieder rund 200 000 glatt unterdurchschnittlich leistende Zuzüger geben (und j e d e r nicht ü b e r d u r c h s c h n i t t l i c h (!!) leistungsfähige Zuzüger verschlechtert die sozialstaatliche Bilanz (cf. Bernd Raffelhüschen/ Hans Werner Sinn).
Naja, Sieferle und den Sarrazin als seriöse Ökonomen hinzustellen – das hat schon eine gewisse Chuzpe. Ich tu’ mir nicht den Tort an, das zu diskutieren.
Ich habe versucht zu erklären, warum der deutsche Sozialstaat so ist wie er ist: Er ist ein Befriedungsinstrument (Anästhesisten überall). Sloterdijk sieht das eigentlich auch so, obwohl er natürlich unzufrieden ist, dass ohne seine Genehmigung das Finanzamt einfach die Einkommensteuer abzieht während dies bei Konzernen (und Steuerschlupfloch-Millionären) nicht der Fall ist. Die Lösung hat er eben nicht, sondern stochert ein wenig im Nebel herum – zugegeben mit hübschen Volten und Parallelen.
Sloterdijk war übrigens im Sommer 2015 so richtig »Merkel-Mainstream«. Seine Eloge zum 10jährigen
ThronAmtsjubliäum von Merkel im Handelsblatt war nicht zum aushalten. Kurz danach kam dann der Herbst – und alles wurde anders.Sarrazin kein Ökonom? Enzenberger über »Deutschland braucht den Euro nicht« – es sei erfreulich, dass sich hier jemand äussere, der von der Sache etwas verstehe.
Im Übrigen ist ja der Referenzrahmen egal – denn Sinn sagt cum grano salis haargenau dasselbe: Die Luft wird dünner, die Internationalisierungsgewinne fallen (cf. die asiatische Konkurrenz) und die Gemeinkosten der Internationalisierung (=der offenen Grenzen, aber auch des Euro, darüber lässt sich Sinn vollkommen unmissverständlich aus) steigen bedenklich an. Na – und sowohl Sinn als auch Raffelhüschen sagen, dass der Sozialstaat unter dem unregulierten Zuzug erheblich leidet. Der aber ist ökonomisch umo ausschlaggebender, je weniger einer auf dem Konto hat. Der Nationalstaat verbürgt die (hierzulande sehr wertvolle) soziale und auch finanzielle Hauptressource des kleinen Mannes, sozusagen. Das haargenau sind die einsichten, die die SPD verweigert, und die sie ihre Bedeutung kosten – es geht ihr da haargenau wie dem Spiegel, übrigens.
- Und diese basalen und existentiell hochwirksamen Zusammenhänge hat Sieferle natürlich nicht entdeckt, aber er hat sie (wie die oben genannten, und wie auch explzit Michael Klonovsky) durchaus verstanden – und intellektuell beackert – s. insbeondere seinen wirklich funkelnden Essay Das Migrationsproblem.
(Zu Klonovsk pflegt Sloterdijk offenbar ein intellektuelles Austauschverhältnis, das er aber in Zeilen und Tage II nicht explizit gemacht hat. Ich würde Sloterdijk und seinen Freund Rüdiger Safranski jedenfalls zum einsichtsreichen und leider nicht gerade riesengroßen Club derer rechnen, die in Sachen Zeitdiagnostik momentan zählen. – Siehe oben meinen ersten Post, den Anfang, das Sloterdijk-Zitat über den Nationalstaat).
Gerade Sarrazins Euro-Buch zeigt, dass er fast nur seine Ideologie durchgehen lässt. Ich hatte das seinerzeit hier besprochen – der Referenzrahmen des Buches besteht sehr stark aus (von ihm natürlich ausgesuchten) FAZ‑, FT- und Handelsblatt-Zitaten garniert mit Verschwörungstheorien, etwa Frankreich und die anderen wollten Deutschlands Wirtschaftskraft schwächen. Tatsächlich galt es »nur« gegen die starke bzw. übermässig stark empfundene D‑Mark vorzugehen. Hierfür dann der Kuhhandel Einheit vs. Euro. Jedes Kind musste bei der Implementierung wissen, dass Länder wie Griechenland oder Italien die Kriterien entweder ergaunert erreicht hatten oder sich einfach nur schönrechneten. Aber der Euro war immer und ausschließlich ein politisches, nie ein ökonomisches Projekt. (Sarrazins permanente Entrüstung das »No-Bail-Out«-Prinzip verlassen zu haben ist in etwa so naiv wie ein Kind, das weinend zur Mama kommt weil es keinen Weihnachtsmann gibt.)
Die Linke entdeckt in den Sozialsystemen ein gigantisches Konjunkturprogramm. Die Kosten werden heruntergerechnet, weil man davon ausgeht, dass die Sozialleistungen wieder in Güter umgesetzt werden (was ja auch stimmt). Somit wäre der erste Schritt zu einem fast bedingungslosen Grundeinkommen erreicht. Das Problem ist, dass die Langzeit-Alimentierung keinerlei Anreize bietet, sie zu verlassen. Das ist womöglich mehr ein Problem der »deutschen« Bevölkerung als der migrantischen Zuwanderung.
Das Problem der SPD ist tatsächlich, dass sie einem Universalismus das Wort redet, der mit den Interessen ihrer (einstigen) Kernwählerschaft nichts zu tun hat. Ob es nun eine Familienzuwanderung von 1000 oder 10000 Personen im Monat gibt, tangiert die Leute nur dahingehend wie es Konkurrenz um die Ressourcen durch diese Zuwanderung gibt. Gabriel hatte das einmal sehr gut auf den Punkt gebracht, als er monierte, dass Sozialwohnungen nicht aber Flüchtlingsunterkünfte sehr wohl gebaut würden. Das fiel ihm natürlich sofort auf die Füße.
Die Probleme sind andere: Mit der fortschreitenden Digitalisierung wird sich der Arbeitsmarkt in den nächsten Jahrzehnten radikal verändern. Das Stichwort ist »Industrie 4.0«. Derzeit wird dies weitgehend ignoriert, obwohl Nahles in ihrer Eigenschaft als Arbeitsministerin vor einigen Jahren bereits ein Gegenprogramm (»Arbeit 4.0«) formuliert hatte. Warum daraus nichts geworden ist, weiß ich nicht. Denn dies wäre exakt das, was die Mittelschicht tangiert: Die Angst vor dem sozialen und ökonomischen Abstieg.
Starker Tobak, Herr Keuschnig – der Sarrazin von »Deutschland braucht den Euro nicht« sei ein Verschwörungsthoretiker!
Und Hans-Werner Sinn, der cum grano salis (aber wirklich allenfalls um ein Winziges Körnlein verschieden!) in Sachen Euro genau wie Sarrazin argumentiert? Sagen Sie bitte nicht, dass Sie den auch für einen Verschwörungstheoretiker halten.
Das Konjunkturprogramm durch Zuzug ist real, da stimme ich Ihnen zu, und auch die CDU und die CSU und der schlaue Herr Kubicki schätzen das sehr. Freilich entsteht der Reichtum der Nationen heute nicht mehr im Binnengeschäft, sondern im internationalen Wirtschaften. D. h. unterm Strich ist die durch Migration angefachte Binnenkonjunktur leider ein Strohfeuer – das überdies weitere Schulden und/ oder Defizite zeitigt (s. Krankenkassen, Ärzteversorgung, Gefängnisplätze...).
Dass sich Teile der migrantischen Unterschicht wirtschaftlich besser schlügen als die Hiesigen in der Unterschicht lässt sich nach meiner Kenntnis nicht für Schwarzafrikaner und nicht für Muslime belegen – : – für andere durchaus – : ‑siehe Sarrazins exzellentes statistische Material zu diesem Komplex in gleich dreien seiner Bücher, auch im Islam-Buch.
Die Idee, dass die Mittelschicht vor der Digitalisierung Angst habe oder wenigstens Angst haben sollte, ist, Sie machen das dankenswerter Weise explizit, eine Aussage, die die Zukunft betrifft; was aber die Zukunft angeht, neige ich zu erheblicher Skepsis und bevorzuge die Zurückhaltung, wie ich sagen muss.
(Wenn Sie mich sozusagen ganz persönlich fragen würden, würde ich sagen, dass diese Zukunftsängste wg. Digitalisierung die Leute (jedenfalls in meinem Umfeld) nicht so stark umtreiben, wenn überhaupt. Etliche leben ganz gut davon – die SAP z. B. ist um mein Heimatdorf herum entstanden, und der geht es nach wie vor ganz gut. Viel besser übrigens als dem direkt neben der SAP gelegenen Weltmarktführer, also der Heidelberger Druckmaschinen AG in Walldorf – die kämpfen um Anteile in einem schrumpfenden Markt...an uphill battle...).
Die Zukunftsängste zeigen sich natürlich nicht bei SAP oder den Produktionsbetrieben. (Noch nicht.) »Industrie 4.0« will in großem Stil die Dienstleister betreffen. Übertrieben gesagt sind die kaufmännischen Berufe der Bergmann des 21. Jahrhunderts. Die Enthusiasten sehen mehr neue Jobs entstehen als alte Jobs zurückgehen. Tatsache ist aber, dass überall versucht wird, Personalkosten herunterzubringen.
Die Zuwanderung erfolgt ja zumeist von Personen mit eher geringen Qualifikationen. Genau diese Jobs werden aber immer weniger nachgefragt. Als ich in den 1970ern ins Berufsleben einstieg war selbst für einen Menschen mit sehr geringem Intellekt irgendwo ein Platz, an dem er auskömmlich und seinen Fähigkeiten gemäss arbeiten konnte. Heute braucht man für die meisten etwas anspruchsvolleren Tätigkeiten mindestens Abitur (s. hier). Und dies sind zumeist Berufe, die auf dem absteigenden Ast sein werden. (Der Buchhändler wird in wenigen Jahren im Museum zu bewundern sein.)
Ein Verschwörungsredner ist Sarrazin dort, wo er stetig Angriffe anderer Europäer auf Deutschland bzw. die deutsche Industrie wittert. Tatsache ist, dass die Teilnahme Italiens am Euro sozusagen alternativlos war (Italien war Gründungsmitglied der EWG). Bei Griechenland haben alle versagt – es betrifft noch die Kohl-Regierung. Waigel hat diesbezügliche Aussagen gemacht in der er sich selber überrumpelt sah. Der Glauben, dass im Falle einer Schieflage eines anderen Staates die anderen zusehen werden, wie alles zusammenbricht, war naiv. Die »No-Bail-Out«-Klausel stand auf dem Papier. Und alles was dort steht, kann geändert bzw. ignoriert werden. So ist es denn auch geschehen. Wer sich darüber wundert, ist entweder ein Anfänger oder ein Dummkopf.
Viel interessanter ist die Frage, wie sich Situationen weiter entwickeln. Wann fällt uns Draghis Staatsanleihenhöllenritt vor die Füße? Wann fällt Italien? Oder erst Frankreich? Die hochfliegenden Träume von einem europäischen Bundesstaat werden spätestens dann pulverisiert. Die Fehleranalyse könnte jetzt schon beginnen.
(PS: Ich hab das jetzt mal teilweise korrigiert @Dieter Kief. Aber bitte in Zukunft etwas mehr Sorgfalt auf die Rechtschreibung insbesondere von Namen. Das sieht nicht schön aus.)
Oh – ich freue mich immer über Korrekturen, danke. Ein bisschen entspringt meine diesbezügliche Fehlbarkeit jedoch einer Abnormalität meiner Augen, ichab deswegen einen übenatürlich großen blinden Fleck und seh’ kleines Zeug (=Buchstaben) nicht so richtig, bitte also um Nachsicht.
Meine Frage wegen Sinn haben Sie leider nicht beantwortet.
Sinn sagt dasselbe wie Sarrazin, nur »wara ebbes hindedrei«, wie die Schwaben sagen – er hat ein zwei Jährchen länger gebraucht zu sehen, dass die Euro-Regularien dem korrumpierenden Ansturm etwelcher verschuldeter Länder nicht würden standhalten können. Zwei Anfänger und Dummköpfe namens Sarrazin und Sinn also – und ein starker Mann, Gregor Keuschnig?
Ob Sie’s auch »’ne Nummer kleiner« (Gerhard Schröder) hätten?
Danke.
Sloterdijk macht übrigens etwas sehr Richtiges in dieser Lage: Er nennt einfach ein paar Zahlen – etwa die Verschuldungsquoten, und ihm tu ich’s nun nach mit Italien. Die links-rechts Regierung dortselbst hat sich auf die Fahne geschrieben, »die Armut abzuschaffen«, und sich daher entschlossen, in Brüssel einen Haushalt einzureichen, dessen Schuldenquote um satte dreihundert Prozent über den Maastricht-Kriterien liegt. Nachverhandlungen wurden vom Strong man Matteo Slavini abgelehnt. Das ist spannend, muss ich sagen. Diese Woche sind immerhin ein paar nordeuropäische Länder hellhörig und laut geworden. Ich warte schon lange auf den Protest aus der Slowakei zum Beispiel, aber auch aus Irland oder dem Baltikum oder auch Austria.
Prognosen sind schwierig, Gregor Keuschnig, denken Sie nur mal daran, wie lange schon orakelt wird, die Arbeit werde überflüssig. Und was Sie über Kaufleute sagen ist genauso eine Prognose wie das, was Sie über Buchhändlerinnen sagen. Aber die Beschäftigen bei den Heidelberger Druckmaschinen haben natürlich Sorgen, zum Teil auch Ängste, während die ITler, die ich kenne allesamt – egal wo sie arbeiten – hoffnungsfroh in die Zukunft sehen.
Interessant: In den USA (auch in Großbritannien) sind die Buchhändler sowas von verschunden, aber in der Schweiz nicht. Jede Schweizerische Kleinstadt bereits hat ihre ordentliche, manchmal sogar hervorragende Buchhandlung. Das war so, ist so und bleibt so – zumindest die nächsten zehn Jahre, würde ich meinen. Ich war am letzten Wochenende bei der schweizerischen Minipressenmesse in Fraunefeld – volles haus, drei Tage lang, un dkeine schelchten Umsätze. Aba juuut – dit is de Schweiz, wa?!
Warum der organisierte Deutsche Buchhandel keine Online-Palttform macht um amazon entgegenzutreten, ist mir nicht klar. Wahrscheinlich eine Mischung aus Trägheit und Fatalität. Jedenfalls stellt amazon eine Form von intellektueller Öffentlichkeit dar, die schon imponierend ist, wie ich finde. Ich gucke sehr oft Dinge da nach – auch in den Rezensionen. Auch zu anspruchsvollen Büchern, gerade zu denen, übrigens.
PS
Sie wissen bestimmt, dass sowohl Jean Paul als auch Goethe ziemlich gleichgültig gegenüber Druckfehlern waren. – Was Sie vielleicht nur ahnen ist, dass ich beide ziemlich mag. – Heute wieder einmal ein Goethe-Enthusiasmus ziemlichen Ausmaßes
– wegen einer seiner Maximen.
Goethe zieht sich übrigens auch durch Zeilen und Tage II bis zm Schluss, wo dann aber doch noch Safranski für seine Goethe-Begeisterung eingebremst wird von seinem Karlsruher Freund, er sei dem Geheimen und wirklichen Rath zu Weimar in seinem Goethe-Buch in nun schon allzugroßem Enthusiasmus erlegen. – - – - Nebbich!
Sinn steht hier nicht zur Diskussion, sondern Sloterdijk. Und der hat weder mit Sarrazin noch mit Sinn viel im Sinn (naja). Sein Steuer- und Finanzdiskurs ist sozusagen philosophierend. Zwischendurch empören ihn eben nur die 30.000 Euro Prokopf-Verschuldung der Griechen. (Wofür im übrigen die Griechen selber am wenigstens konnten).
Das Ende der Arbeit ist ja durchaus in einigen Bereichen eingetreten. Die goldene Lösung seit den 1980er und verstärkt 1990er Jahren waren dann die Dienstleistungen. Zwischenzeitlich hatte man das Gefühl, dass jeder jedem die Haare schneidet und dann die Volkswirtschaft ganz prima funktioniert. Inzwischen wird es eng. Viele Dienstleistungsberufe sind prekäre Beschäftigungen. Andere werden irgendwann ersetzt. Es kommen sicherlich andere Jobs dazu, aber welche bitte?
Das ITler die Welt in rosaroter Brille sehen, ist verständlich. Und natürlich wird es noch BuchhändlerInnen in 20 Jahren geben, etwa so wie es heute Tante-Emma-Läden gibt. Haben Sie sich schon mal die Mühe gemacht festzustellen, welche Dienstleistungen man vor 30 Jahren noch nicht erbringen musste (vom Obstabwiegen im Supermarkt angefangen bis zur Boarding-Karte). Nun, wir werden sehen. (Die Schweiz ist in der Tat ein Sonderfall. Sie leistet sich eine Landwirtschaft, die losgelöst ist von allen ökonomischen »Logiken«. Sie lebe damit lange!)
Noch ein Wort zu Italien: Würde eine andere, stark linksdominierte Regierung in einem EU-Land einen ähnlichen Haushalt wie die rechts dominierten Italiener vorlegen, würden sie von ihren Genossen bejubelt werden. Die ital. Regierung weiss genau, das ihr nichts geschehen wird. Brüssel ist längst kein »sanftes Monster« (Enzensberger) mehr, sondern eine nur noch eine vor sich hinrostende Ruine.
Sinn sagt in Sachen Euro haargenau das gleiche wie Sloterdijk (!) und Sarrazin: Dass nämlich die ewige Geldmengenausweitung, Kreditschaffung (»Target-Salden«), Vertragsbrüchigkeit nicht sehr nachhaltig sind. Dass auch Sinn das mittlerweile sagt, wiegt natürlich schwer, weil der so ein hohes Ansehen unter den FachkollegInnen hat. Sinn ist auch noch so sportlich, einzuräumen, dass er ein paar Jahre gebraucht hat, die Euro-Schieflage richtig zu verstehen. Aber er ist ein fester Charakter: Wenn er etwas einmal eingesehen hat, hält er daran fest und redet un schreibt darüber (übrigens wirklich gut – s. seine Bücher und Aufsätze, aber auch seine Vorträge und seine tolle Netztseite, wo siehc vieles davon gratis auffinden lässt!).
Nebenbei: Peter Schneider hat den Euro erheblich fehlgedeutet anfangs, aber er hat immerhin einen Versuch (= Essay) im Atlantic gemacht. Dann hat er leider das Interesse verloren – so sind sie, unsere Intellektuellen, manchmal... aber das nur nebenbei. Sloterdijk ist da aus anderem Holze. Sehr erfreulich!
Was Sie über die italienische Regierung sagen ist nicht ganz richtig, es handelt sich nämlich nicht um eine rechte Regierung, sondern zur vollkommenen Verblüffung der deutschen Linken um eine links-rechts-Koalition unter linker Führung, übrigens! Außerdem bin ich nicht einverstanden mit Ihrer Einschätzung, die Idee der Italiener, ihre Armut per Kredit auf Kosten der Nachbarn abzuschaffen, sie irgendwie links.
Ich tue mal so, als ob das links-rechts Schema (Michael Rutschky – er ruhe in Frieden!) noch intakt wäre: Dann würde z. B. Eichel oder Schiller oder wer natürlich gesagt haben: Man schafft Armut nicht auf Kredit ab, weil das die Gesamtwirtschaft belastet und auf mittlere Sicht bereits erheblich an Produktivität kostet, von der aber unterm Strich alle leben.
Verteilt werden als Zuwächse der statlichen Sozialleistungen sollen daher immer und zuvörderst die realen Zuwächse. Das war für Schmid und auch Schröder noch Gesetz! Der Rheinische Kapitalismus hat eine Reparatur-Seite und eine Produktivitätsseite, und die Finanzpolitik soll diese beiden Seiten ausbalancieren. Das ist gerade der Witz am Rheinischen Kapitalismus! – Auch am Dänischen oder Schwedischen, nota bene – auch am Niederländischen...
Naja, die Österreichische und die Schweizerische Landwirtschaft sind wie die Deutsche komplett durchsubventioniert. Das ist erst mal die Gemeinsamkeit, die Unterschiede liegen in den Deatails – und in den Traditionen – nicht zuletzt den volksdemokratischen. Die Schweizer Bauern haben seit alters eine Stimme und werden als Gruppe gehört, und das schlägt sich in tausenden (!) von Dingen nieder – regionale Wasserwirtschaft, Strassenbau, Weiterverarbeitung, sehr hoher Marktanteil des genossenschaftlich organisierten Verkaufs der einheimischen Produkte (Migos, CooP), lokale und regionale Schulen (bis in den hintersten Winkel – bis heute!), öffentlicher Verkehr...Myriaden von Einzelheiten – die Nähe der Kirchen zu den Bauern, dei förderung der lokalen und regionalen Kultur (mal ins Appenzeller Heimatmuseum gehen – ein Traum!)... und der städtischen gebildeten Schichten, die die heimischen Produkte befürworten – - – und zu (aus deutscher Sicht – - z. T. geradezu unglaublichen Preisen kaufen...). Da gäbe es sehr viel zu lernen! Und dann dei Grenzen – und die Zölle – bis heute.
Das aber wird ja hierzulande voll verpönt – wer für Grenzen und mehr Volksdemokratie eintritt, muss neuerdings mit dem scharfen Widerstand von Herbert Grönemeyer rechnen (obwohl der früher dafür war, also für mehr direkte Demokratie...- – nur heute halt nicht mehr, definitiv nicht!
Doch dafür sind nun die vielen Fremden da. Und das, sagt der fidele Herbert heute in der FAZ – und auch da unterscheidet er sich von Slotedijk, sei »ein Glücksfall« für uns alle! – Es hat das leider nur noch nicht jeder gemerkt, sagt der Herbert (demnächst werde er aber britscher Statsbürger, sagt er noch dazu – er hat halt ein große Herz, da passen viele Länder rein, ja so isser, unser Herbert – eine ehrliche Haut, letzten Endes, ne, aber wohl auch ein erheblicher Wirrkopf.
Mit Sloterdijk zu schließen: Auch der Gute Herbert ist offenbar der Ansicht, es gebe »eine nationale Pflicht zur Selbstschädigung« – die Sloterdijk freilich rundheraus ablehnt. Folglich ist Sloterdijk jetzt ein Rechter – »einwandfrei« (Rolf Miller)...
Seufz.
Ich verstehe nicht, dass Sie Leute wie den Steuerflüchtling Grönemeyer ernsthaft in den politischen Diskurs einführen. Das ist Zeitverschwendung.
Ich bin nicht der Meinung das die rechts-links-Muster veraltet sind. Das stimmt nur teilweise. Richtig ist, dass der Begriff des Konservativen gedehnt ist bis in die Grünen hinein deren Progressivität als konservativ im Sinne der Bewahrung der »Schöpfung« wahrgenommen wird. Das hat viel von Ablaß.
Ein Punkt hat sich tatsächlich um 180 Grad gedreht – Sie erwähnen ihn: Wer für mehr Beteiligung der Bürger bei politischen Entscheidungen antritt gilt inzwischen tatsächlich als rechts. Dabei war dies ursprünglich ein Primat der Linken. Als sie jedoch feststellten, dass ihre Positionen nur eher selten mehrheitsfähig sind, begannen sie, Partizipationen zu diffamieren. Wir niedrig deren demokratischer Sinn ausgeprägt ist sieht man wenn Entscheidungen gegen ihre Auffassung getroffen werden, wie bspw. der Brexit. Flugs fordern sie eine neue Abstimmung. Die Logik dahinter ist nicht einzusehen. Würde diese dann gegen den Brexit fallen, d. h. die vorher getroffene Entscheidung korrigiert werden, könnte die unterlegene Seite abermals eine neue Abstimmung fordern, usw.
(Zur Schweiz: Die stark überteuerte Produktion in der Landwirtschaft der Schweiz kann nur deshalb existieren, weil man protektionistisch agiert. Das ist in Österreich und Deutschland nicht möglich.)
Hier wird von einem Kommentator frei phantasiert.
»[...], in Brüssel einen Haushalt einzureichen, dessen Schuldenquote um satte dreihundert Prozent über den Maastricht-Kriterien liegt.«
Das Maastricht-Kriterium für die Schuldenquote liegt bei 60% des BIP.
Dreihundert Prozent über diesem Kriterium sind 240% Schuldenquote.
Die aktuelle Schuldenquote Italiens liegt bei 130% des BIP.
Gemeint sein dürfte vermutlich die Defizitquote (Staatshaushaltsdefizit), die für 2019 zu 2,4% des BIP berechnet ist. Das Maastricht-Kriterium für die Defizitquote ist mit 3% des BIP definiert. Das geplante Haushaltsdefizit Italiens liegt unzweifelhaft darunter.
Die zitierte Aussage ist daher, wie man es auch dreht und wendet, unhaltbarer Unfug, daran aber scheinheilig moralisierendes Gedöns von wegen »Abschaffung der Armut auf Kosten der Nachbarn« sich anknüpft.
Staatshaushaltsdefizit bzw. ‑überschuss bildet eine Stromgröße in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung und nennt sich allgemein Finanzierungssaldo, derer noch – gemeinhin aber unterschlagene – vier weitere existieren (private Haushalte, nicht-finanzielle Unternehmen, finanzielle Unternehmen und Rest der Welt, vulgo Ausland). In Summe berechnen sich diese Finanzierungssalden zu Null. Daraus ergeben sich zwingende Schlussfolgerungen, denen sich allzu viele Zeitgenossen (insbesondere Politiker) verweigern.
Italien weist nämlich für den Unternehmenssektor (nun vereinfachend zusammengefasst) seit 2012 jährlich einen positiven und tendenziell steigenden Finanzierungssaldo auf, der über dem der privaten Haushalte liegt. Die privaten Haushalte haben zwar ebenfalls einen positiven – seit 2014 aber sinkenden – Finanzierungssaldo. Dem stehen gegenüber Staat (ohne Zinszahlungen mit Ausnahme 2009 auch dieser Saldo im Plus) und Ausland. So sieht die gegebene Gleichung aus, mit Ausnahme Frankreichs, wo der Unternehmenssektor noch einen negativen Finanzierungssaldo beiträgt, für sämtliche Euro-Staaten.
Wer vor diesem Hintergrund einen ausgeglichenen Staatshaushalt fordert, sagt damit gleichzeitig, dass sich allein das Ausland zu verschulden habe. Dies ins Bewusstsein gehoben, muss Vertretern des ausgeglichenen Staatshaushaltes in einem solchen Szenario auch die Lösung des daraus entstehenden Problems mit Nachdruck abgefordert werden: Viel zahlungsfähiges Ausland ist schon jetzt nicht mehr übrig, was aber dann? Und außerdem: Wie legitimieren sie die »Pflicht zur Verschuldung« des Auslands, davon ein Teil Nachbarn?
Im Rheinischen Kapitalismus eines Karl Schiller war noch üblich und selbstverständlich, dass sich die Unternehmen zu Investitionszwecken verschuldeten. Wer heute in dieser makroökonomisch höchst explosiven Lage dem Rheinischen Kapitalismus das Wort redet, muss allerdings dazu sagen, wie er die Unternehmen zurück in die volkswirtschaftliche Schuldnerposition bringen will. Auch wenn es ihm schwerfällt.
Die Option, Sarrazin als ernstzunehmenden Ökonomen zu bezeichnen, verflüchtigt sich spätestens mit seiner Aussage »Entweder wir erfüllen das No-Bail-Out-Prinzip mit neuem Leben, oder wir müssen grundsätzlich andere Lösungswege beschreiten, die auch den Austritt aus der Währungsunion nicht ausschließen.« (ausdrücklicher Dank an Gregor Keuschnig für seine gewissenhafte Rezensionsarbeit). Der deutsche Euro ist derzeit um rd. 20% unterbewertet. Daraus folgt zwingend, dass im Falle eines Austritts Deutschlands aus der EWU (aber auch im Falle der Auflösung der EWU) eine entsprechende Aufwertung einer neuen »D‑Mark« binnen weniger Tage stattfindet. Wegen der Wirtschaftsstruktur Deutschlands, der Exportanteil am BIP beträgt knapp unter 50%, lässt sich unschwer ermessen, dass eine Wechselkurs bedingte Verteuerung deutscher Exporte zu massiven Arbeitsplatzverlusten im deutschen Exportsektor führen wird. Von bis zu 5 Mio. Arbeitsplätzen, also rd. 1/8 der gesamten deutschen Arbeitsplätze, ist hier die Rede. Der Ereigniszeitraum ist auf wenige Monate beschränkt. Ich unterstelle Sarrazin, dass er darum weiß, und verurteile energisch sein Verschweigen dieser gigantischen Bedrohung. Gerade Deutschland ist darauf angewiesen, dass der Euro Bestand hat. Dafür wird es einen angemessenen Preis zahlen müssen, so oder so.
Zur Ablenkung wird indes auf »unterdurchschnittlich leistende Zuzügler« und die durch diese verursachte Verschlechterung der sozialstaatlichen Bilanz verwiesen. Blankes Ressentiment, das noch dazu rechnerisch zu widerlegen ist. (vgl. https://bersarin.wordpress.com/2017/11/14/mit-rechten-reden-mit-linken-leben-rechtsaussen-und-die-moralisierung-der-diskurse/#comment-12811 , Zi. 3)
Auf derartige Vorhaltungen pflegt geflissentliches Schweigen zu folgen. H.W. Sinn macht da keine Ausnahme. Insbesondere wenn es um die verfehlte Vorstellung von Gleichgewichtstendenzen auf dem Arbeitsmarkt geht oder die zerstörerische Wirkung von andauernden und erheblichen Leistungsbilanzüberschüssen. Letztere sind noch dazu offener Steuerdiebstahl am Nachbarn. Im Falle Deutschlands sind das rd. 90 Milliarden jährlich, die auf Kosten des Auslandes eingestrichen werden.
Was Sloterdijk dazu zu sagen hat, ist, offen gesagt, so uninteressant, wie Enzensbergers »Testimonial«. Es zeigt höchstens, mit welch beeindruckender Überheblichkeit über derart existenziell bedeutsame Zusammenhänge hinweg fabuliert wird.
Die Frage Gregor Keuschnigs nach dem Fall Italiens ist von nicht überschätzbarer Bedeutung. Die damit untrennbare Frage nach dem Ende der Demokratie ebenso. Griechenland war vielleicht ein Probelauf. Italienische Arbeiter sind aber aus einem anderen Holz geschnitzt. Erst recht im Vergleich zu deren deutschen Entsprechung.
Meine Conclusio: Widerstand gegen »Kommisionsdiktate« muss von den Betroffenen in Italien, aber nicht nur dort, selbst kommen (und kam auch, wie in Griechenland). Dies nannte sich noch bis vor Kurzem Demokratie. Dagegen argumentierende Zeitgenossen haben sich einem geordneten und sachlichen Diskurs zu stellen, ansonsten ihnen mittlerweile derb über’s Maul zu fahren ist. Meines Erachtens haben sich die »Europäischen Linken« durch dieses Versäumnis zutiefst schuldig gemacht. Sie bekommen’s denn auch zu spüren mit der unsäglichen politischen Verschiebung nach rechts und deren Versinken in Bedeutungslosigkeit.
@ Gregor Keuschnig wg. Grönemeyer
Grönemeyer sagt in der FAZ unwidersprochen, dass er kein Steuerflüchtling sei und erhebliche Mengen Steuern in Deutschland zahle. Im übrigen dürfte Grönemeyers politischer Einfluss um Größenordnungen über meinem liegen und selbst Ihren als stolzer Publizist und Influencer noch übertreffen, meinen Sie nicht (ok, das war ein wenig selbstironisch mit Blick auf – uns beide sogar, wie ich denke, – - wenn Sie mir das bitte nachsehen)?
Insofern ist die Befassung mit solchen Leuten (leider...) überhaupt keine Zeitverschwendung, sondern durchaus interessant und sinnvoll, wie ich finde.
Zur Wirtschaft der Schweiz und den Schweizer Bauern
Die Schweizerischen Bauern profitieren in der Tat von den nationlen Grenzen – und das ist ein Grund, warum die Schweiz diese Grenzen beibehalten will, obwohl das auch bisher schon die Wirtschaft beeinträchtigt.
Man zahlt diesen Preis gerne, und bekommt dafür eine zufriedene Arbeiter (!)- Bauern- und Handwerkerschaft, mehr Sicherheit und – nicht zuletzt Schutz vor ungeregeltem Zuzug. Die schweizerische Wirtschaft brummt übrigens wie kaum eine sonst in Europa – ohne den Euro (cf. Sarrazin)!
Korrektur und erneuter Blick auf Italy
Wg. Italiens Wirtschaft ist es so richtig, h. z. : Italien reisst die EU-Schuldenquote, indem seine Regierung eine Verdreifachung der Staatsverschuldung im aktuell in Brüssel eingereichten Haushaltsentwurf angekündigt hat und gleichzeitig verkündete, in Italien »die Armut abzuschaffen« – d. h. mithilfe dieser Kredite ein Füllhorn sozialer Transferleistungen über den Italienerinnen auszugießen. So steht das im manager magazin:
»Doch allein die Tatsache, dass die neue Regierung die avisierte Verschuldung des Landes auf einen Schlag von ursprünglich 0,8 Prozent auf nun 2,4 Prozent des Bruttoinlandsproduktes verdreifacht, sorgt bei den europäischen Partnern für großen Ärger.« Normalerweise gilt in Europa eine Defizit-Grenze von 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Weil Italien jedoch einen enormen Schuldenberg in Höhe von etwa 2,3 Billionen Euro aufweist (mehr als 130 Prozent des BIP), muss es nach früheren Beschlüssen strengere Vorgaben erfüllen und mittelfristig seine Schulden reduzieren.
Entsprechend attestierte die EU-Kommission Rom denn auch einen »besonders gravierenden Verstoß« gegen die EU-Regeln. Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz stellte in einer am Montag verbreiteten Erklärung gleich einmal klar, sein Land sei »nicht bereit, für die Schulden anderer Staaten geradezustehen, während diese Staaten die Verunsicherung der Märkte bewusst in Kauf nehmen.« Kurz forderte die EU auf, das Budget zurückzuweisen. Schließlich, so der österreichische Finanzminister Hartwig Löger, würde ein Regelbruch »auch Tür und Tor für andere Länder öffnen«.
Italienische Anleihen wurden von Moody’s auf die vorletzte Stufe vor Ramsch heruntergestuft, und: Die Italiener kaufen ihre eigenen Staatspapiere (!) nicht – das ist einer der großen Unterschiede zu Japan: Die Japaner tragen große Teile ihres gesparten Geldes zu den Japanischen Banken und geben es dem Staat praktisch ohne Zins als Gegenleistung. Eine stabile nationale Schuldenwirtschaft, zum großen Verdruss der internationaln Finanzspekultion, übrigens, während Italien offenbar eine höchst instabile nationle Schuldenwirtschaft führt. 5stelle und die Lega setzen auf den bisherigen Schelmen anderhalbe. Klaus Georg Koch resümierte in der FAZ sehr deutlich: Italien bereite »die Zerstörung der EU vor« (20. 10.).
Ein anderer italienischer Hemmschuh, laut Sinn: Italiens Industrieproduktion darbt immer noch erheblich. Und wie es aussieht, wird das auf absehbare Zeit auch so bleiben. – Italien hat die längste Phase ohne Wachstum der Industrieproduktion aller EU-Länder hinter sich, so nochmal Sinn.
(Ich habe übrigens das Gefühl, als griffen wir hier »Zeilen und Tage IV« vor, hehe – schönes Gefühl!)
Ich halte fest, dass die gestellte Frage nach der Rechtfertigung einer Verschuldungspflicht allein des Auslandes unbeantwortet bleibt. Dann fehlt jegliche Einlassung zur hervorgehobenen Problemstellung, dass zahlungsfähiges Ausland bald nicht mehr vorhanden sein wird (und als Folge einer zwanghaften Sparpolitik die Wirtschaft in gewaltigem Ausmaß einbrechen muss). Wie der Unternehmenssektor wieder in die ihm volkswirtschaftlich zukommende Schuldnerposition (Stichwort »Rheinischer Kapitalismus«) gebracht werden soll? Schweigen. Dieter Kief, ich fordere Ihnen dringend Antworten ab.
Stattdessen wird erneut die Moralkeule gegen Italien geschwungen. Trumpism at its best.
»Ein anderer italienischer Hemmschuh, laut Sinn: Italiens Industrieproduktion darbt immer noch erheblich. Und wie es aussieht, wird das auf absehbare Zeit auch so bleiben. – Italien hat die längste Phase ohne Wachstum der Industrieproduktion aller EU-Länder hinter sich, so nochmal Sinn.«
Die Ursache dafür verschweigt Sinn maliziös grinsend – den real effektiven Wechselkurs nämlich, der die Unterbewertung des deutschen Euros abbildet. Dies wurde bereits dargestellt; von einer Wiederholung möchte ich absehen dürfen. Die Folgen sind auch klar: Deutschland als Volkswirtschaft gewinnt Jahr für Jahr Weltmarktanteile dazu, während »Konkurrenten« in der EWU bestenfalls stagnieren. Die von Gregor Keuschnig angesprochene Fehleranalyse, übrigens, wurde bereits betrieben, allerdings von Vertretern der heterodoxen Ökonomie. Die Rechtgläubigen – Sinn et.al. – schweigen sich bekanntlich beharrlich dazu aus.
Die Erwähnung Moody’s weckt bei mir Erinnerungen an die entschlossenen [Sonntags]Reden auf Europäischer Ebene nach dem sich entfaltenden Griechenland-Desaster in 2010. Damals wurde entschieden und lautstark die Einrichtung einer Europäischen Ratingagentur gefordert. Man wolle nicht länger von privaten amerikanischen Firmen abhängig sein. Nun?
Ein Wort noch zu meinem Bundeskanzler Kurz: Diese Pappnase will aktuell ein HartzIV-äquivalentes Modell der sozialen Sicherung durchsetzen. Der Widerstand dagegen, dies hat sich bereits im Frühjahr nach Bekanntwerden der ersten Skizzenstriche eindrucksvoll gezeigt, findet auf der Straße statt.
Nach übereinstimmenden Meinungen in den beginnenden 2000er Jahren galt Deutschland ökonomisch mit rd. 6 Millionen Arbeitslosen als der kranke Mann Europas. Veränderungen wurden von allen Seiten angemahnt. Sozialverbände übrigens wollten Arbeitslosengeld und Sozialhilfe zusammenlegen. Auf der anderen Seite machten Lobbyisten verstärkt Werbung für ein wirtschaftsliberales Modell mit weniger Staat. Schröder hat mit der Agenda irgendwie beides gemacht. Ich bin nun nicht informiert, inwieweit der österreichische Sozialstaat reformiert werden muss, aber eine Agenda-ähnliche Politik wäre interessant, vor allem wenn man die inzwischen sichtbaren Fehler dieser Politik (u. a. schier endlos »befristete« Arbeitsverhältnisse) ausklammern würde. Ob Herr Kurz eine Pappnase ist, wird sich dann womöglich zeigen.
Noch etwas zum Protokoll: Antworten »abzufordern« mag zwar im Sinne einer weiteren Diskussion geboten sein, ist aber hier nicht zwingend vorgeschrieben. Man mag das beklagen...aber es ist so.
Angekommen und verstanden.
Eine erläuternde Anmerkung noch: Die Aufwendungen des »Sozialstaates« werden in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung im Abschnitt »Sekundäre Einkommensverteilung« verbucht. Stellt man die sekundäre Einkommensverteilung gedanklich auf Null, zeigt sich die Wirkung der primären Einkommensverteilung (= direkt ausbezahltes Arbeitseinkommen) recht deutlich: Binnenwirtschaft muss notwendigerweise schrumpfen, weil vorhandene Kaufkraft auf zu wenige Köpfe sich konzentriert. Daraus folgt, dass aggregierte Konsumnachfrage zurückgehen muss. Aus diesem Tatbestand folgt wiederum, dass genutzte Produktionskapazitäten an das Nachfrageniveau angepasst werden müssen, was schließlich steigende Arbeitslosigkeit nach sich zieht. Das kann soweit getrieben werden, bis revolutionäres Potenzial sich Bahn bricht. Insofern kann ein funktionierender Sozialstaat durchaus als Befriedungsinstrument gedeutet werden, was allerdings nur die halbe Medaille beschreibt. Auf der anderen Hälfte der Medaille versammelt sich das Kapitalinteresse, welches ohne funktionstüchtige sekundäre Einkommensverteilung wegen des Nachfrageausfalls in Mitleidenschaft gezogen wird.
(ergänzende Information: die hiesige Arbeitslosenversicherung ist aktuell per Saldo im Plus, daraus lässt sich also kein Reformbedarf ableiten. Die nationale Arbeitslosigkeit beträgt derzeit 7%)
Zum »kranken Mann Europas« – wegen eines lächerlichen Leistungsbilanzdefizits von durchschnittlich rd. 0,75% vom BIP seit der Wiedervereinigung (und als nachvollziehbare Folge davon) – könnte einiges gesagt werden. Damit würde ich nach meinem Empfinden den Rahmen aber endgültig sprengen. Bei gegebenen Interesse lade ich gerne zum Austausch auf privater Ebene ein.
Der Nachfrageausfall fällt ja derzeit wenigstens aus. Das hat natürlich auch mit den niedrigen Zinsen zu tun, die die Mittelschicht veranlasst, Geld auszugeben und zu konsumieren anstatt zu sparen. Hinzu kommt die gewollte Inflation von 2%, die dafür sorgen wird bzw. soll, dass – sollte sich nichts ändern – in 40 Jahren die Sparvermögen aufgebraucht sein würden. Derlei Sorgen brauchen sich die Hartz-IV-Empfänger nicht hinzugeben. Ihnen wird unverändert Teilhabe zugestanden. Neulich erzählte mir jemand, dass er auf ein Samsung-Handy spare, welches aktuell rd. 500 Euro kostet.
Die inzwischen international agierenden Unternehmen setzen zusätzlich immer weniger auf die zum Teil gesättigten europäischen (deutschen) Märkte als bspw. auf Asien. (Während der deutsche Handwerker sich vor Aufträgen kaum noch retten kann, weil kaum mehr jemand seinen Beruf machen möchte.)
Neben dem Zusammenbruch des Euro-Systems (sei es durch Italien, sei es irgendwann vielleicht aufgrund französischer Probleme) liegt das größte Risiko für die Weltwirtschaft in politischen und/oder sozialen Implosionen in China. Sollte China als Produktionsstandort UND gleichzeitig als Nachfrager ausfallen, würde dies gravierende Auswirkungen haben. Dagegen wäre der kleine Zwist zwischen den USA und China ein Kindergeburtstag. Politik- und Wirtschaftslenker sehen sich also gezwungen, den Fortbestand eines diktatorischen Regimes zu befürworten.
Ein Zusammenbruch des Euro-Systems steht noch nicht bevor; aber die Gestaltung des zukünftigen Währungsfonds wird sich unmittelbar an den Herausforderungen Italiens orientieren müssen. Das geht bis zu der Frage des begleiteten Exits aus der Währung, die man für Griechenland noch zur »Verhandlungsmasse« rechnen konnte.
Draghi hat mit seiner Risikobeteiligung der EZB die Kündigungsklausel sogar unwillentlich aktiviert, denn sobald beim nächsten Crash das Geld der anderen Mitgliedsstaaten auf dem Spiel steht, eben über die EZB-Beteiligung, werden Verfassungshüter und Öffentlichkeiten grundsätzliche »ordnungspolitische Fragen« stellen.
Griechenland wollte nicht aus der Währung, aber wird man Italien diese Wahl lassen können?! Sobald ein Schuldenerlass eines Euro-Landes zum Vermögensverlust eines anderen Mitgliedslandes führt, vermittelt über die EZB, sind die Länder selbstverständlich berechtigt, Forderungen zu stellen.
Dabei wird man sich nicht mit dem fiskalischen Ringkampf des (dann wohl aktiven) Währungsfonds begnügen. Ich vermute: man wird sich die Exit-Kompetenz zurückholen. Das geht bis zu den Grundbegriffen der Staatlichkeit.
Der Souverän kann über alles entscheiden, sogar die völlige »Selbstbeschädigung« kann man durchziehen. »Man wird sich ja noch kulturell und sozioökonomisch ruinieren dürfen...«.
Selbstverständlich. Aber die Frage, ob ich eine Fremdwährung behalten darf, fällt nicht darunter. Da sind noch ein paar andere Souveräne am Tisch.
Ich glaube, dass evtl. sich stellende »ordnungspolitische Fragen« einfach abgewürgt werden. Man hätte diese schon anhand des »No-Bail-Out« bei Griechenland stellen müssen – und hat sie geflissentlich ignoriert. Wenn es brennt nimmt man auch gestohlenes Wasser um zu löschen.
Bitte nicht vergessen: Der Euro ist KEINE ökonomische Entscheidung, sondern eine politische. Die Ökonomie spielt wenn überhaupt höchstens die zweite Geige. Geld kann gedruckt werden (und wird gedruckt werden, falls dies erforderlich ist). Der Euro selber ist inzwischen weltweit »too big to fail« geworden. Die Länder sind sozusagen verpflichtet, böse Miene zu bösem Spiel zu machen.
Die Vorstellung, Euro-Mitgliedstaaten würden für »EZB-Risken« anteilsmäßig haften, wäre eine falsche Vorstellung. Die EZB kauft Staatsanleihen, unter anderm italienische, auf dem Sekundärmarkt auf. Ein allfälliger Wertverlust dieser Papiere belastet weder die EZB und schon gar nicht die Euro-Mitgliedstaaten.
Die Vorstellung vom Euro als Fremdwährung trifft hingegen durchaus zu. Dies gilt wiederum für sämtliche Mitglietsstaaten der EWU. Die Währung Euro »gehört« allen oder keinem. Insofern sind Überlegungen, ein Euro-Mitgliedsland von der Teilnahme an der EWU ausschließen zu wollen, in ihrer Wirkung mit der – dann allerdings chaotischen – Auflösung der EWU gleichzusetzen.
Gregor Keuschnigs Hinweis, der Euro sei eine politische Entscheidung, ist fett zu unterstreichen. Ebenso wäre die geordnete Auflösung der EWU eine solche.
Gunnar Heinsohn ist unermüdlich im Bennnen hiesiger Defizite in Sachen Konkurrenzfähigkeit – ein Mann, auf dessen Arbeit Sloterdijk gerne zu sprechen kommt, nebenbei gesagt – und auch Heinsohn schaut nach Asien:
https://www.nzz.ch/feuilleton/die-schere-zwischen-kompetenten-und-inkompetenten-klafft-weltweit-immer-weiter-auseinander-china-stellt-die-digitale-avantgarde-und-westeuropa-zaudert-wie-verschieben-sich-gerade-die-gewichte-ld.1434525
Aus einem Gespräch mit einem hiesigen Grundschullehrer – sehr besorgt wegen der Unmenschlichkeit des – - – Südkoreanischen Schulsystems wegen der dortigen Schülerselbstmorde. – Null Verständnis für die Errungenschaften Südkoreas – jede Bereitschaft, den Koreanern am Zeug zu flicken- und sich selbst zu gratulieren: Wir schneiden schon wieder schlechter ab bei den internationalen Schüler-Tests? – Ohh – dafür ist bei uns die Selbstmordquote geringer!
Im Übrigen ist China nicht das drängendte Problem der EU. Das ist eher die Produktivität im internationalen Vergleich und wohl auch Haushaltdisziplin. Der Italienische Weg mit der Verdreifachung der ursprünglich angepeilten Schuldenquote bei gleichzeitigem Anstieg der Sozialausgaben scheint mir jedenfalls nicht sehr nachhaltig zu sein.
– Ganz im Gegensatz zu Japan – bisher scheint Japan alles richtig zu machen, so wie es aussieht – zumal die Sparer dort mit ziehen. Das ist doch eklatant, dass die Italiener ihre eigenen Statsanleihen eher meiden, während die Japaner sie massenhaft und stetig – seit Jahrzehnten (!) kaufen.
@Dieter Kief
Die italienische Staatsverschuldung liegt derzeit bei 2,28 Billionen Euro und wird nach den Plänen der Regierung auf 2,4 Billionen hochgetrieben werden. Das wären dann 2,4% des BIP. Nur zur Orientierung: Die Grenze der EU liegt bei 3,0% (Griechenland liegt, was ich nachschlagen konnte, 2017 bei
2,9%1,2%). Der Aufschrei der EU geht dahin, dass man nicht glaubt, dass es dabei bleiben wird.Ein anderes Kriterium sind die Gesamtschulden im Verhältnis zum BIP. Hier beträgt die Quote Italiens rund 130%. »Erlaubt« sind allerdings maximal 60%. Aber selbst Deutschland schafft dieses Kriterium nicht (64,1%). Frankreich liegt bei 97%. (Der weltweit größte »Schuldner« in dieser Liste ist übrigens Japan.)
Sicherlich: Dies hier ist ein Blog und ein Kommentar ist ein Kommentar. Aber man sollte die fundamentalsten Regeln der Wahrhaftigkeit sehr wohl versuchen, einzuhalten. Unsinn wird nicht dadurch besser, dass man ihn wiederholt.
Gregor Keuschnig, ich beziehe mich auf dieses Zitat aus der wirtschaftsoche – nichts daran ist sachlich falsch, bitteschön:
»Doch allein die Tatsache, dass die neue Regierung die avisierte Verschuldung des Landes auf einen Schlag von ursprünglich 0,8 Prozent auf nun 2,4 Prozent des Bruttoinlandsproduktes verdreifacht, sorgt bei den europäischen Partnern für großen Ärger.« Normalerweise gilt in Europa eine Defizit-Grenze von 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Weil Italien jedoch einen enormen Schuldenberg in Höhe von etwa 2,3 Billionen Euro aufweist (mehr als 130 Prozent des BIP), muss es nach früheren Beschlüssen strengere Vorgaben erfüllen und mittelfristig seine Schulden reduzieren.
Entsprechend attestierte die EU-Kommission Rom denn auch einen »besonders gravierenden Verstoß« gegen die EU-Regeln. «
Japans Schulden sind interessant, schön, dass Sie das aufgreifen – aber sie sind nicht zuletzt deswegen interessant, weil sie so groß sind, und weil diese enorme Göße der japanischen Schulden der internationalen Spekulation dennoch nichts nutzt, weil die Japaner – anders als die Italiener, ihrer eigenen Regierung bereitwillig Jahr um Jahr neues Geld zu für die Regierung traumhaften Konditionen geben. -
– Und genau das sei, meine ich, ein großer Unterschied, weil Wirtschaft in der Tat in hohem Maß eine Sache des Vertrauens ist, das die Japaner ganz offensichtlich haben, während es den Italienern fehlt – und das vielleicht nicht ganz zufällig jetzt, da sie paradoxerweise mehrheitlich nach der Erhöhung der klar unterfinanzierten staatlichen Transferzahlungen – eheh – - ‑japsen.
Das italienische Modell steckt voller Fallgruben, weckt den Argwohn der Nachbarn (u. a. Kurz!) und ist instabil, während das Japanische seit Jahrzehnten beeindruckend gut funktioniert.
@Dieter Kief
Das Zitat ist nicht von der Wirtschaftswoche sondern vom Manager Magazin. Und es ist absoluter Unsinn, was da steht. Wenn sie sich die Mühe gemacht hätten, den tagesschau-Link vom März 2018 anzusehen, hätten Sie feststellen können, wie die Entwicklung des Schuldendefizits Italiens in den letzten Jahren war. Die Kennzahl lag 2016 bei ‑2,5%. Geschätzt dann für 2017 ‑2,1% , 2018 ‑1,8%. Die Schätzungen beruhten jedoch auf eine Entwicklung, wie sie sich damals zeigte. Mit der neuen Regierung vom März ist das nun hinfällig.
Es ist vollkommen unerheblich, wenn irgendwelche Auguren laut Manager Magazin etwas »anvisiert« hatten. Die 0,8% dienen nur als Skandalisierungsfutter, das Sie dann gerne ausposaunen – auch, wenn man Ihnen längst das Gegenteil bewiesen hat. Von 0,8% Defizit war Italien so weit entfernt wie die Erde von der Venus. Daher ist dieses »Argument« unlauter; es ist Verbreitung von Propaganda.
Auch was die japanischen Staatsanleihen angeht, lese ich überall das Gegenteil dessen, was Sie schreiben. Demzufolge liegt die Rendite noch unter denen der deutschen. Aber hierum geht es ja in diesem Thread nicht.
Ich versuche mal eine Schlichtung, bin aber leider kein Experte. Meines Wissens ist das Maastricht-Kritierium von 3% Defizit ein Rotwein-Kritierium. Generiert bei einem Abendessen der Verhandlungsführer, basierend auf einer leichtfüßigen Gleichung: Stabilität ist, wenn 1% Wachstum auf 2% Inflation treffen, sodass 1+2=3% zusätzliche Verschuldung nicht »schaden«.
So oder so ähnlich war das damals.
Inzwischen hat man die Modelle etwas verfeinert. Da müsste man den Stabilitäts- und Wachstumspakt befragen.
Die Gesamtschau aus Bankenstabilität (etwa ein Drittel der Staatspapiere liegt da), Niedrigwachstum und Geldschöpfung durch Kapitaltransfers im Euro gibt für Italien jedenfalls Anlass zur Sorge.
Dabei wird die politische Bewertung natürlich durch den Populismus der Regierung verschärft. Aber wenn man die unmittelbare Sympathie beiseite lässt, dann findet man immer noch die alte (historische) Differenz zwischen Nord und Süd über den richtigen Umgang mit Staatsschulden.
Italien ist von der Inflation geprägt; Deutschland von der Kriegsschuld, Versailler Vertrag. Deutschland will die Schulden los werden; Italien will die Inflation loswerden. Beide sind ihrem Ziel schon sehr sehr nahe gekommen, ironischerweise führt das bei einer gemeinsamen Währung aber schnurstracks wieder in den »Krieg«.
Eine schlichte Interpretation. Aber Mario Monti bestätigt das in einem Interview in der WELT. Italien war mit dem Maastricht-Vertrag nie zufrieden.
@die_kalte_Sophie
Es geht mir nicht darum, wie dieses 3%-Kriterium entstanden ist oder gar ob es sinnvoll ist. Und auch ich teile die Sorge um die italienische Ökonomie. Insbesondere die Banken sind in Schieflage. Schon die allseits sogenannte »pro-europäische« Regierung Gentiloni (Nachfolger von Renzi) rettete entgegen der bestehenden Vereinbarungen mit enormen Summen zwei Banken. Man sah großzügig darüber hinweg. Jetzt, bei der ungeliebten links-rechts-Regierung, würde das auch anders beurteilt.
Es geht mir ausschließlich darum, dass willkürlich vorgenommene Prognosen plötzlich als Kriterien für das gelten soll, wie Politiker für die Zukunft handeln.
Ja, @ Gregor Keuschnig, das manager magazin.
Ja, die_kalte_Sophie – Italien will die Schuden loswerden – doch wie macht man das? Inflation ist ein Weg gewesen – die ewig schwache Lira, seligen Angedenkens.
Aber da ist man raus. Nun hängt man zwischen der Scylla der in der Verhaltensökonomie wohlbekannten Tatsache, dass Menschen keine Verluste mögen – also keine Nominallohneinbussen – selbst dann nicht, das ist das Paradetheorem des Verhaltenökonomen Fehr, wenn damit Reallohngewinne einhergehen!
Diesen Zusatz braucht man aber nicht weiter beachten, am wichtigsten seit biblischen Zeiten ist die Einsicht: Menschen fürchten Verluste mehr, als sie Gewinne locken.
Das ist die Scylla. Und andererseits würgt Italien an der Charibdis, dass die Industrie des Landes in Sachen Produktivität schwer hinterherhinkt. Schon seit Jahrzehnten – das geht schon vor der Euro-Einführung los, sagt Sinn. Die Terms of competition werden strenger, je mehr sich die Weltwirtschaft internationalisiert. Das ist der große Rahmen.
Kleiner Einschub – an dieser Stelle kommen Leute wie Lafontaine und die Schreiber der Nachdenkseiten und Heiner Flassbeck und sagen: Das Wachstum der Deutschen macht die Nachbarn kaputt. Also müssen in Deutschland die Löhne hoch – und, fügen manche noch dazu: Es müssen die Transferzahlungen »europäisch harmonisiert« werden. Helmut Schmid hat in solchen Diskussionslagen immer gesagt, dass die Wirtschaft nicht mehr europäisch wäre, sondenrn global. Auch Lothar Späth hat das immer wieder gesagt, übrigens. Ich denke, Schmids und Späths Einwand ist richitg, außer man macht ein Europa der Schutzzölle, z. B. – in diese Richtung kann man natürlich auch denken, aber das scheint mir derzeit zumindest keine sehr reale Option zu sein. Es gibt in Frankreich um Marchais z. B. einige, solche Ideen diskutieren: Linke Gewerkschaftler, die die Idee von der Weltwirtschaft langsam verabschieden.
Nun, wenn das Produktivitätswachstum krankt wie in Italien – und wenn es solange krankt wie dort, dann leiden die hochbegehrten Produktivitätszuwächse, die es erlauben, die Löhne usw. (die Sozialausgaben...) zu erhöhen ohne durch ungedeckten Kredit und unsichere Tilgung und damit hohe Zinslasten die wirtschaftliche Gesamtrechnung zu schwächen.
Das ist, wie Sinn sagt, die Lage, und das hat auch Sloterdijk immer wieder in Zeilen und Tage I und II kritisert – man konnte die heutige dramatische Zuspitzung schon seit Jahren kommen sehen.
Dass wir eine dramatische Zuspitzung erleben, kann man so festmachen wie es das manager magazin tut, ohne irgend etwas zu sagen, das faktisch falsch wäre, man kann aber auch schlichter (nicht: irgendwie falscher!) reden – so wie Kurz, z. B.
Die Angelegenheit i s t dramatisch. Italien »reizt« die Partner in der EU durch die beabsichtigte kreditfinanzierte Ausweitung (!) ihrer Sozialtransferzahlungen bei gleichzeitiger Stagnation bei der für diese Dinge entscheidenden Kennziffer, nämlich der der exportfähigen Güter, so Sinn. Und man weiß noch nicht, wo das hinauswill.
Japan ist interessant, Gregor Keuschnig, gerade weil seine Bürger die Staatsanleihen zu diesen geringen Zinssätzen (quasi null) massenhaft und dauerhaft kaufen. Japan hat deshalb stets, was es in der Tat braucht: Eine Menge Geld, um die Wirtschaft und die Gesellschaft des Landes stabil und – - hochproduktiv (!) zu halten. Die Bürger Japans tauschen sehenden Auges nationale soziale und wirtschaftliche Stabilität gegen möglicherweise zumindest besser rentierende internationale Profitoptionen. Ich halte das in der Tat für einen gangbaren Weg, nicht zuletzt deswegen, weil die Japaner nicht auf dem Rücken »ihrer Nachbarn« (Kurz) wandeln – und weil Japan als ganzes einfach gut zu funktionieren scheint.
Die Italiener machen verglichen mit Jpan zwei Dinge, die in gewisser Weise gut zueinander passen: Sie fordern von ihrem Staat, mehr Geld zu verteilen, als sie erwirtschaften – und sie entziehen ihrem nicht zletzt deshalb unsoliden Staat gleichzeitig das Vertrauen in ihrer Rolle als Kreditgeber. – Happy-go-Crazy-go Lucky? Wir werden sehen – und vermutlich bereits in Zeilen und Tage III darüber lesen. Aber Band vier dürfte in dieser Hinsicht fürchte ich noch interessanter werden...
(Ich persönlich hätte es gern so langweilig und stabil wie Japan aus der Ferne – ein frommer Wunsch, ganz klar).
@die_kalte_Sophie
»Rotwein-Kriterium« trifft’s großartig. Die Rechnung geht bloß ein wenig anders. Man ging Anfang der 90er-Jahre von einem jährlichen Wirtschaftswachstum von 5% aus. Der damalige EU-Durchschnitt der Staatsverschuldung lag bei 60%. Mit einer jährlichen Defizitquote von 3% bleibt die Schuldenquote beinahe konstant, bzw. konvergiert gegen 63% unabhängig vom Ausgangsschuldenstand (selbst nachrechnen in einer simplen Excel-Tabelle über 100 Jahre!). Reine Willkür also. Verfeinert hat sich in der Zwischenzeit lediglich das Folterinstrumentarium (Stabilitäts- und Wachstumspakt) für »abtrünnige« Volkswirtschaften. Auf die in Kommentar #15 Abs. 4 ff. dargestellten zwingenden Zusammenhänge wird dabei keinerlei Rücksicht genommen.
Das italienische Modell steckt voller Fallgruben, weckt den Argwohn der Nachbarn (u. a. Kurz!) und ist instabil, während das Japanische seit Jahrzehnten beeindruckend gut funktioniert.
Ressentimentgetragene Tagträumereien, das. Nach meinem nun gefestigten Urteil schreibt da einer über Dinge, die außerhalb seines Wissenshorizonts liegen und über die er partout nichts lernen will. Die Defizitquote Japans ist grob doppelt bis dreifach so hoch, wie jene Italiens – und das seit Jahrzehnten. Die Erklärung für die vermeintliche »Treue« japanischer Investoren liegt in den einschlägigen staatlichen Regularien, nach denen z.B. Pensionsfonds als Richtwert 67% ihres Portfolios in nationalen Staatsanleihen zu veranlagen haben. (Im übrigen: historische Wirtschaftsdaten Japans für Interessierte).
Die EU hingegen drängt unter anderem mit »Solvency II« institutionelle Anleger zum Verkauf von unter einem Bonitätsschwellenwert liegenden Staatsanleihen (die Bewertung erledigen in Ermangelung einer Europäischen Ratingagentur unverändert S&P, Moody’s und Fitch). Was das für die Preisbildung dieser unter Druck geratenen Papiere bedeutet, liegt auf der Hand, ebenso die Auswirkungen auf Banken, die solche Papiere nach dem Fair-Value-Prinzip zu bewerten haben. Wenn dann die EZB durchblicken lässt, italienische Staatsanleihen nicht mehr kaufen zu wollen, setzt sie damit den Banken Feuer aufs Dach, um eine Regierung zu »disziplinieren«. Alles schon dagewesen, siehe Griechenland. Zur Behebung dieses Problems hatte Richard Koo schon vor längerer Zeit vorgeschlagen, den Erwerb von Staatsanleihen auf nationale Anleger zu beschränken, um damit wilder Spekulation Einhalt zu gebieten.
Es ist auch keineswegs so, dass die italienische Volkswirtschaft »seit Jahrzehnten« keinen Produktivitätszuwachs kennt. Das mag Herr Sinn noch leugnen, aber die Zahlen sind andere – s. hier. Tatsache ist, dass nach der Finanzkrise das Wachstum in Italien nicht mehr auf die Beine gekommen ist. Aber von einer jahrzehntelangen Entwicklung kann keine Rede sein.
Die japanische Volkswirtschaft als Vorbild zu nehmen, ist vollkommen absurd. Japan ist das am meisten verschuldete Land der Welt – noch einmal der Beleg hier Herr Kief, einfach nur mal klicken statt ominöse Personen womöglich noch unvollständig zu zitieren – ein bisschen Seriosität darf man doch wohl erwarten. Japan darbt immer noch mit der Deflationsspirale der 1990er Jahre, von der man sich nur langsam erholt.