Wie führt man sich als neuer Feuilleton-Chef eigentlich in eine Redaktion ein? Welche Akzente setzt man? Was ist programmatisch zu erwarten? Schwierig. Richard Kämmerlings, von der F.A.Z. kommend seit 1. Oktober Chef des Feuilletons leitender Kulturredakteur bei der »Welt«, versucht es erst gar nicht mit Originalität. Er belebt eine Leiche, die man eigentlich vor einigen Jahre recht gerne zu Grabe getragen glaubte. Kämmerlings darf jetzt endlich darüber schreiben. Er will den »großen deutschen Roman«. Wobei dies nicht ganz stimmt. Damit jeder sofort weiß, wo die Vorbilder zu suchen sind, wird das Vermisste sofort anglifiziert: »Wo bleibt die Great German Novel?« Wow. Was für ein Mut!
Natürlich ist Jonathan Franzen das aktuelles Vorbild. Kämmerlings sucht nach einem Äquivalent, welches einem Amerikaner den Deutschen erklärt. Dabei geht er stillschweigend von zwei Prämissen aus: Zunächst glaubt er, Franzens Buch »erkläre« dem tumben Deutschen die amerikanische Seele. Und zum anderen glaubt er, Literatur als Referenz für eine Entität oder Nation heranziehen zu können.
Diese Prämissen sind von einer fast kindlichen Einfalt. Der große Gesellschafts- oder Epocheroman als Geschichts- und Mentalitätsunterricht in ästhetischer Form. Als gäbe es nicht schon genug Realismus in der deutsch(sprachig)en Literatur. Weiter: Kämmerlings huldigt – ganz dem Zeitgeist gemäss – den amerikanischen Fernsehserien. Keine sperrigen soziologischen Analysen mehr, sondern der belletristische Roman, die authentische Fernsehserie als Instanz, als Botschafter. Ausdrücklich bezieht sich Kämmerlings übrigens auf das »deutsche«, nicht das »deutschsprachige«. Österreich und die Schweiz sind ihm politisch zu anders (wie abfällig er dann dieses Namedropping betreibt). Er strebt den gesamtdeutschen Roman an und obwohl er ihn erwähnt, lässt er Tellkamps »Turm« dann offensichtlich nicht als solchen gelten, wobei er dem Autor den Ehrgeiz nicht abspricht.
Die deutschen Schriftsteller, die aufgezählt werden, genügen den Anforderungen nicht. In einem Satz stellt er zwar die »Stärken« der deutschen Literatur heraus (»im Historischen, in der Beschwörung des Vergangenen, im mikroskopisch genauen Blick auf das Allerkleinste«), verwirft dies jedoch als »Recherche-Literatur« mit dem »Hang zum Musealen, zum Archiv, zur Vitrine.« Ein Diktum, dass auch Fünfzehnjährige hätten treffen können, die das alles für »zu schwierig« halten und ihre Überforderung mit Ablehnung speisen oder es schlichtweg für veraltet erklären.
»Das wiedervereinigte Deutschland hat seinen Chronisten noch nicht gefunden« stellt Kämmerlings im Brustton der Überzeugung fest. Man braucht keine großen hellseherischen Qualitäten um prognostizieren zu können, dass es diesen »Chronisten« vermutlich auch in den nächsten zwanzig Jahren nicht geben wird bzw. ihn in der gewünschten Form vielleicht gar nicht geben kann.
In Kämmerlings’ Traum spiegelt sich nämlich eine Sehnsucht, die disparate Gesellschaft- und Kulturentwürfe, ein Wesensmerkmal der Moderne, nicht zur Kenntnis nimmt. Wenn er schon den deutschsprachigen Kulturraum verengt auf das »deutsche« respektive das »ostdeutsche« – wie soll dann als Beispiel für eine zweihunderte Jahre gewachsene Einwanderungskultur wie die USA ein äquivalenter Roman entstehen können? Woraus speist sich die Annahme, dass Franzens Familie in irgendeiner Form repräsentativ für die USA ist? Da macht man sich ernsthaft Sorgen um Kämmerlings’ Amerika-Bild.
Wie ein Lehrer, der das Talent seines Schülers dadurch motivieren möchte, indem er ihm einen kleinen Vorschuss seiner Erwartungen gibt, werden die Namen nur so herausgeschleudert: Hettche, Goetz, Clemens Meyer, der scheinbar unvermeindliche Ingo Schulze. ‘Mensch Leute, Ihr könnt’s doch’ scheint sein Zuruf zu sein. Und all diejenigen, die den Roman oder Ansätze dazu längst publiziert haben und gar nicht oder kaum in den »großen Feuilletons« besprochen werden, weil die dortigen Leseknechte längst ausschließlich auf die kommerziellen Kampagnen der Verlage abfahren, schütteln den Kopf, zerreißen ihre Manuskripte oder beißen in die Tischplatte.
Den Roman, den Kämmerlings und all die anderen Klageweiber und ‑kerle wünschen, wird kaum oder gar keinen Verleger finden oder er wird verschwinden im Wust der Neuerscheinungen. Das deutsche (!) Feuilleton leistet sich lieber 25 Besprechungen von Franzen oder Grass als dafür jeweils einen neuen, unbekannten, sperrigen, hanebüchenden, schrecklichen, fürchterlichen, wunderbaren Roman eines Unbekannten. Das ist ihnen vermutlich zu anstrengend, den sie müssten ihn entdecken, lesen und besprechen. Und er wäre vielleicht gar nicht so realistisch, gar nicht so journalistisch, sondern – oh je – anspruchsvoll! Und es könnte dann sein, dass sie nicht mehr über die ausbleibende »Great German Novel« schwadronieren müssten…
Vielleicht sehnen sich Kämmerlings & Co. nach diesem Großen Deutschen Roman nur, weil sie schon seit Jahren umsonst die Textbausteine für den unvermeidlichen Verriss in der Schublade hin und her schieben. Denn natürlich werden sie es anders erlebt haben, als sie es zu lesen bekommen werden.
Was halten Sie denn von der dreiteiligen »Bestandsaufnahme« in der ZEIT?
Sorry, zur »Zeit«-Lektüre definitiv nicht gekommen. Legen Sie vor? Bitte.
Na ja, ist ja erst der erste Teil erschienen (Radisch zu Stilfragen).
Naja, Radisch zu Stilfragen?! Ausgerechnet sie, die den Literaturclub sukzessive trivialisiert...
Den Verdacht, dass die Textbausteine für den Verriss des angeblich ersehnten »großen deutschen Romans« schon vorbereitet sind, hege ich auch.
Was die vielleicht nicht »ganz großen«, aber originellen, niveauvollen, gut geschriebenen – und vom Feuilleton weitgehend ignorierten – deutschsprachigen Romane angeht: ich fürchte, sie fallen der alte Feuilletons-Faustregel für Bücher nicht-etablierter Autoren zum Opfer: »Gut gemacht und gern gelesen? Das wär’ nichts für uns gewesen.« Denn dann ist weder ein saftiger Verriss noch ein Hochjubeln eines angeblich »unverstanden« Buches möglich.
Ich darf drauf aufmerksam machen.
Kämmerlings amtiert nicht als neuer Feuilletonchef der »Welt«.
»Einmal Prosa mit alles bitte«. Im Jargon der Dönerbude, ist das doch eigentlich ein schönes Bild – gerade weil man weiß, wie utopisch der Wunsch nach zuviel Einlage sein kann, wenn’s ans Aufessen geht. Dass »alles« auch für für einen gegenwartssatten Roman zuviel sein kann, lässt Kämmerlings ja durchblicken, wenn er sagt, dass das soziologische Erzählen womöglich längst in anderen Medien stattfindet, etwa in Serien. Diese These hat er natürlich schon in diversen FAZ-Artikeln vorgebracht, z.B: hier
Die Sehnsucht danach, Gesellschaft im Gesamttableau auch weiterhin als Roman anzutreffen, finde ich trotzdem legitim, unabhängig von den subjektive Einschätzungen darüber, wie wahrscheinlich das heute ge- oder misslingen mag. Was den politischen Roman betrifft, sagt Rainald Goetz ja (neulich im ZEIT-Magazin), Günter Bannas habe ihm dieses Genre unmöglich gemacht.
Und sind wir selbst in Deutschland überhaupt die Richtigen, um die Frage nach der »Great German Novel« der gegenwart zu beantworten? Spannend wäre es doch mal zu fragen, an welche Romane aus Deutschland sich das Ausland hält: Dann war und bleibt der erfolgreiche deutsche Romanexport letztlich immer historischer Stoff, siehe Süskind, siehe Schlink, siehe Kehlmann. Und dann hat Kämmerlings schon recht, dass man einem Amerikaner damit nicht das Deutschland von heute erklären kann.
@Marcuccio
Zunächst einmal: Okay, mein Fehler. Kämmerlings ist »nur« »leitender Redakteur«. Und seine Hommage an »The Wire« hatte ich gelesen, wobei ich mir darüber naturgemäss kein Urteil erlauben kann, weil ich die Serie nicht gesehen hatte. Dass eine Fernsehserie jedoch den umfassenden Gesellschaftsroman sozusagen »ersetzen« kann, das zweifle ich an. (Oder es ist derart zeitlich gespreizt wie diese deutschen »Tatort«-Folgen, die heute tatsächlich ein Panorama Deutschlands zeigen können.)
Zur Sache: Ich glaube nicht, dass eine Moderne in einem Romanprojekt heute umfassend zu spiegeln ist. Das ist ungefähr so wie mit dem letzten Universalgelehrten (das soll ja Leibniz gewesen sein [den die Leute heutzutage fast nur mit Keksen assoziieren]). Wer wird heute noch so bezeichnet? Stephen Hawking? Vielleicht. Aber jeder weiss, dass der auch nicht alles wissen kann.
Ein bisschen erinnert das auch an die Diskussion die Ende des 19./zu Beginn des 20. Jahrhunderts um die »Nachfolge« von Goethe geführt wurde. Da waren Namen im Gespräch, die heute kaum noch jemand kennt (bspw. Wilhelm Raabe, Rudolf Huch).
Dies war möglich, weil – und da sprichst Du einen sehr wichtigen Punkt an, den ich unerwähnt ließ – der zeitliche Abstand erst die »richtige« Einordnung möglich machte. Goethe war ja zu seiner Zeit keinesfalls unumstritten (man spielte auf dem Theater lieber Kotzebue). Erst ein, zwei Generationen später zeigte sich das Genialische. Es war dann im 20. Jahrhundert Thomas Mann, der sich durch Anverwandlungen in seinen Büchern zum Goethe-Nachfolger stilisierte. Etwas, was wir heute eher als unverschämt empfinden würden.
Tatsächlich obliegt es vielleicht wirklich nicht an uns, die Welt- bzw. »Deutschhaltigkeit« des zeitgenössischen Romans zu beurteilen. Insofern wäre Kämmerlings Sehnsucht auch fast überflüssig, weil man die Schönheit eines Gemäldes nicht aus zehn Zentimeter Entfernung geniessen kann.
Tellkamps »Turm« kommt dem Wunsch des Großen Romans dahingehend nahe, weil er einen fast hermetischen Raum beschreibt – eben dieses Dresdner Bildungsbürgerviertel und die »Parallelgesellschaft«, die dort auf kleinstem Raum als »Anti-DDR« existiert. Etwas anderes machen die Amerikaner aber in ihren Mittelstandsromanen auch nicht. Auch sie zeigen mehr oder weniger gelungene Milieustudien. So erfahre ich von Updike sehr viel vom amerikanischen Mittelstand, dto. bei Ford. Franzens »Korrekturen« empfand ich als zuweilen sehr ausladend; insgesamt wenig Erkenntnisse (in dieser Hinsicht). Zu Roth sage ich jetzt nichts.
Aber unabhängig davon, ob man diese Art des Erzählens schätzt oder nicht: Wer hieraus sein Amerikabild konstruiert, wird immer entscheidende Nuancen nicht mitbekommen. New York oder Newark ist nicht Montana oder ein Dorf in Colorado. Und das ist kein Vorwurf an diese Bücher, sondern der Unübersichtlichkeit geschuldet, die in einem solchen Anspruch liegt. (Als Gegenbeispiel fallen mir Sjöwall/Wahlöö der 1970er Jahre ein, die tatsächlich versuchten, das Schweden der damaligen Zeit »abzubilden«.)
Und was passiert, wenn ein Buch – unbeabsichtigt oder nicht? – deutsche Mittelstands-Befindlichkeiten der Jetztzeit spiegelt? Was ist mit Büchern wie Stephan Thomes »Grenzgang« oder auch Hennigs »Die Ängstlichen«? Sie werden des Provinzialismus gescholten!
Einen Ansporn würde ich das gerade nicht nennen.
Man meint einen abgespreizten kleinen Finger bei der Erwähnung von »The Wire« zu sehen.
Kämmerlings Hommage, die mir bisher entgangen war, beschreibt in idealer Weise mein Empfinden. Einmal darin, dass ich mich zwingen musste, jeden Tag nur eine Folge zu sehen, die allgegenwärtigen Junkies der Serie spiegelnd. Andererseits in der Bewertung, dass »The Wire« nur an der Oberfläche eine sehr spannende und in allen Belangen professionelle Fernsehserie ist, sondern vor allem ein Soziogramm der Stadt Baltimore im 21.Jahrhundert und eine mit feinem Pinsel gezeichnete Charakterisierung amerikanischer Lebensläufe ist.
Es ist soviel über diese Serie geschrieben worden, dass ich hier nicht weitere Superlative verbreiten muss. Ich habe zumindest in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren nichts gelesen, was in seiner Komplexität und Genauigkeit »The Wire« das Wasser reichen könnte. Der Tatort ist dagegen Bastei-Lübbe und Roth der Erzähler banaler Wohlstandskinder. Die große Form kann man den fünf »Seasons« sicherlich nicht absprechen.
Wer sich auf die Serie einlassen möchte, tut vermutlich gut daran, sich mit den amerikanischen Strukturen (z.B. bei USA erklärt ) nochmal vertraut zu machen.
@Jimmy McNulty – Kein gespreizter Finger...
...wirklich nicht. Im Gegensatz zu den professionellen Kulturmenschen steht mir nur leider nicht die Zeit zur Vefügung, auch noch amerikanische Serien anzuschauen.
Wenn Ihnen »The Wire« mehr gegeben hat als die Literatur der letzten fünfzehn Jahre müsste man mindestens diese ansatzweise kennen. (Ihr Urteil zu Roth teile ich; meine »Tatort«-metapher hieße diese Serie überfrachten – auch hier haben Sie recht.) Und dann stellt sich immer noch die Frage, ob ich Soziogramme in fiktionaler Form lesen, sehen möchte bzw. ob mir dies genügt. (Warum ich dazu etwas im Vorfeld zu lesen habe, verstehe ich auch nicht.)
Das Problem mit der Zeit hat wohl jeder
und erfordert immer eine Abwägung. Man kann sich z.B. fragen, ob man den neuen Grass wirklich gelesen haben muss, reicht die Shortlist oder muss es gar die Longlist sein. Ich ärgere mich jetzt noch, meine Zeit mit Tellkamp vertan zu haben.
Das kleine Wort »noch« hat mich etwas irritiert. Warum sollte man dann noch einen Bolaño lesen. Na, weil es interessant ist, den Horizont erweitert oder gar einfach Spaß macht. Und weil »The Wire« eben wirklich den Blick auf das große Ganze richtet, das Gefüge der modernen Zivilisation plastisch macht, ohne die ganzen Tragödien der Einzelschicksale aus dem Blick zu verlieren. Und das noch mit viel Wärme.
Die Ursprungsfrage war ja, ob es heute noch die »Great american/german novel« gibt, ob z.B. Franzen dies wieder geschafft hat (habe ich mit Vergnügen gelesen). Ich denke es gibt sie nicht, aber »The Wire« kommt dem für viele amerikanische Städte schon sehr nahe.
Die Vorabinformation ist übrigens einfach nötig, da sonst vieles unverständlich bleibt. Beim amerikanischen Zuschauer kann das Wissen über die Strukturen vorausgesetzt werden. Außerdem hilft es gegen die Michael Moores gefeit zu sein und begründen zu können warum Bush ein schlechter Präsident war.
Jetzt bin ich gespannt, was Sie zu Radisch sagen!
Es gehörte nämlich eigentlich, was sie im Feuilleton-Aufmacher sagt, zu dem von Ihnen glossierten Thema dazu... wenn es den Kämmerling nicht ganz ersetzte.
Ich finde nämlich, Sie spricht einen der entscheidenden Punkte an: Die (als im Verschwinden konstatierte) »Literarizität« als eine der zu vermissenden Primärqualitäten von Literatur – die sich eben nicht in diesem Geläufigkeitston des angeblich normalen Sprechens, die sich nicht in Unterhaltungformaten erschöpfen sollte. (Jede »beherrschte« Sprache ist eben auch eine – im doppelten Sinne.)
Und das geht über die (von einem Vorredner so genannten) »Stilfragen« doch ziemlich hinaus. Ich fürchte nur, solcherart Literarizität – die bewusst-sprachliche Verfassung also als Teil des Kunstwerks verstanden, als Willen dazu – ist wieder mal etwas Altmodisches, womöglich tatsächlich immerhin ehemals »Deutsches« (oder Europäisches – die Franzosen etwa da auszunehmen wäre ignorant).
Die Fernsehserien sollte man dann wirklich den Amerikanern überlassen, das können sie nun mal besser. Obwohl ich persönlich diese Serien belangslos finde, scheinen sie doch vielen etwas über das »moderne« Erzählen an sich zu sagen – das »plot-driven« Erzählende also, ja auch eine weitere Qualität von Literatur. (Das woran sich – und von Radisch beklagt: sich eben damit begnügend – auch die Deutschen versuchen.)
Aber »alles« reicht eben noch lange nicht. Vielleicht für den Buchmarkt, aber nicht für Literatur.
[EDIT: 2010-10-02 14:15]
So, jetzt I. R. gelesen...
Es ersetzt den Kämmerlings nicht; die Beiträge ergänzen sich m. E. sogar ein wenig.
Wobei sie durchaus disparat schreibt – immer dann, wenn sie auch die eigene Zunft angreift (»kindergeburtstagsfröhliche Literaturkritik«; »Packungsbeilage zu den bestehenden Harmlosigkeiten«) verliert sie für mich den Faden. Diese selbstkritischen Elemente wirken etwas zu pflichtschuldigst, als das sie ehrlich gemeint sind. Der Vorwurf der Kritik als bloße Inhaltsangabe ist nicht neu – kein geringerer als Reich-Ranicki hatte sie immer wieder vorgebracht. Aber: Wer hatte denn jahrelang bei der »Zeit« mitzubestimmen, welche Rezensenten dort schreiben durften? Und: Da spricht eine Kritikerin von »Packungsbeilagen«, die in 3:30 Videotips rund zwei Drittel Inhaltsangabe abgibt und »Harmlosigkeiten« für das Lesevolk empfiehlt, die ich schon 25 x anderswo gelesen, gehört und beworben sah.
Ein bisschen erinnern mich solche »Jeremiaden« (!) an Fussballmanager, die den fehlenden Nachwuchs beklagen, aber mit Millioneneinkäufen selber dafür sorgen, dass Spieler aus den Jugendmannschaften erst gar nicht zum Zuge kommen. Da heisst es dann mit verblüffender Naivität: »Die Literaturkritik ist meistens nicht ehrlich«. Radisch vermisst das ästhetische Urteil, die Würdigung von Sprache und Stil. Ausgerechnet sie, die Hegemann im Februar wenn nicht vehement, so doch äußerst wohlwollend betrachtet hatte. Ausgerechnet sie, die – ich bleibe dabei – den »Literaturclub« zum bloßen Meinungsforum praktisch abgeschafft hat (freilich mit Ausnahmen in den letzten 2–3 Sendungen).
Für mich ist diese Entrüstung zu sehr geheuchelt, dass ich sie glauben könnte.
Oh Gott, die nächste Folge wird von Ursula März, Radischs Busenfreundin, verfasst. DAS ist auch eine Zustandsbeschreibung der aktuellen Misere der Literaturkritik...
[EDIT: 2010-10-02 18:03]
Anschwellender Bocksgesang
Das vereinigte Deutschland braucht also seine Nationalepopöe, natürlich »mit alles bitte«: Ein bisschen Holocaust, aber nicht zu viel, dafür reichlich Wende und DDR sowie als Sättigungsbeilage die Atomkraftwerkelaufzeitverlängerung und die Patchwork-Familie. Und fertig ist die Master Thesis, mit der sich einer unserer Erbintellektuellen aus der Kulturkaste in die Herzen der Feuilleton-Professoren schreiben kann.
Dass gute Literatur oft nur ausschnitt- und bruchstückhaft ist und man für eine umfassende Information über eine Epoche besser zu einer geschichtswissenschaftlichen Monographie greift: Geschenkt. Aber dass Kämmerlings in einem Land, in dem das Verlagswesen und das Feuilleton originelle Federn gar nicht aufkommen lässt, es sei denn, sie sind dynastisch als Kulturschaffende legitimiert; dass er in einem solchen Land zu einem großen Wurf auffordert, spottet jeglicher ernsthaften Würdigung.
Ganz abgesehen davon: Warum muss es der große deutsche Roman sein? Warum nicht der große Roman tout court? Die wirklich großen Schriftsteller haben ihre Stoffe immer der Zeit und dem Raum entrückt und sind deshalb überall und alleweil lesbar geblieben. Oder traut Kämmerlings den zeitgenössischen Autoren derartiges (realistischerweise) von vornherein nicht zu?
Ich halte die deutschsprachige, zeitgenössische Literatur für besser als ihr Ruf (speziell im eigenen »Land«). Man mag daran denken, dass ein Kafka zu seiner Zeit auch nahezu unbekannt war. Die Massenproduktion verschafft ja nur die Illusion, alles bekannt zu machen. Natürlich würde ein Kafka (um bei diesem Beispiel zu bleiben; es gäbe ‑zig andere) heute verlegt, aber ob er auch entdeckt würde, ist fraglich. Das ist das, was Sie mit den Verkrustungen des Betriebs ansprechen.
Poppiger, peppiger Paternalismus
Lieber Herr Keuschnig, für Ihren Satz:
Das deutsche (!) Feuilleton leistet sich lieber 25 Besprechungen von Franzen oder Grass als dafür jeweils einen neuen, unbekannten, sperrigen, hanebüchenden, schrecklichen, fürchterlichen, wunderbaren Roman eines Unbekannten.
würde ich gerne zum Claqueur werden. Der saß.
Dabei, und nun könnten wir die Klagekerle beklagen, gäb es doch Potential. Wenn es von Herrn Kämmerlings heißt: »zog er wieder in seine Wahlheimat Köln und begann eine literaturwissenschaftliche Dissertation, die wie ihr Gegenstand, die Autobiographie in der Moderne, notwendigerweise Fragment bleiben musste.« dann steckt da zwar auch schon jener lockerflockige Ton drin, dem auch der inkriminierte Artikel eignet, und die geflüstert-wisperte Dissertation riecht so FAZ-hochfeuilleton, aber trotzdem könnte man noch eine gewisse Leidensfähigkeit für möglich halten, die auch den großen Roman nicht übersieht, der ebenfalls Fragment bleibt, weil er an seinen hehren Zielen grandios scheitern muss. Aber nein, stattdessen kippt er auch ins Seichte. Warum denn nur? Er sieht es doch aus: Jonathan Franzen natürlich wieder. Aber statt dass er ihn in der Luft zerreißt, dass einer mal sagt, diese tollen, übermächtigen Namen, die er da auffährt.. wär’n ja »nett« und die schrieben bestimmt auch »nette« Bücher, aber die »Leinwand« täte es auch. – »John Updike, Richard Ford, Don De Lillo, David Foster Wallace.« Also sorry, dass ich da nicht crumble to dust vor Ehrfurcht. Selbst Schuld, wenn man Roche und Hegemann hochjazzt, dann sollt man auch dazu stehen. Dabei gibt’s soviel Zeugs mit Substanz, dass man gar nicht dazu kommen würde, das alles zu lesen, aber so’n shit kriegt man vom Feuilleton ja net, die ham immer nur das verschnittene, billiger Reimport.
Demnaechst sollte ich es nicht unterlassen, mich aus lauter Faulheit nicht einzuloggen, damit ich solche naechtlichen Einlassungen noch korrigieren koennte.
Nach dem Eintippen erschien mir dann noch klarer, was mir und vielleicht auch Ihnen so aufgestossen ist an dem Artikel: Es geht nur noch um Marken. Dass er Kehlmann, Roche und Hegemann als »Kandidaten« nennt, zeigt doch nur zu deutlich, dass man sich erst ueber Auflage, Preise, Skandale die Zulassung erwirbt. Nur der Marktwert, das Label zaehlt. Selbst die schon sorgfaeltige Aufzaehlung (auch vieler fuer mich unbekannter) Autoren geraet dann zu einem Schaulaufen der preisgekroenten Pferde. ‘Mensch Leute[Gaeule], Ihr könnt’s doch’ scheint sein Zuruf zu sein.(wie Sie schrieben) Springt doch bitte ein bisschen hoeher noch, fotogener, fuer Deutschland, heilig Kulturland.
Als ob das auch nur einen Dichter motivieren koennte, der es ernst meint mit seinem Werk. Gerade auch ein Botho Strauss haette vermutlich fuer jemanden, der so kurz springt, nur Verachtung uebrig. Und Kaemmerlings ‘aufgeklaerter’ Realismus waere wohl schon zu Zolas Zeiten antiquiert gewesen. Aber bitte, vielleicht kaufte ja trotzdem jemand dieses 1000seitige Reiseprospekt, das dem Ausland »den« Deutschen erklaert – aber schreiben, schreiben wuerde das wohl keiner wollen.
PS. Gerade festgestellt, dass Christian Kracht Schweizer ist. Das ist doch sehr schoen, wo auch noch ein Oesterreicher die Hymne geschrieben hat.. ob er die dann auch zur heutigen »Nation« rechnet?
PPS. Die Zeit wird ja einfach darueber befinden: In ein paar Jahren oder Jahrzehnten wird man dann sehen, was von den Franzens, Roths und Updikes bleibt... da mache ich mir doch jetzt nicht ins Hemd!
PPPS. Beschweigt das Feuilleton eigentlich das neue Buch von Handke ein bisschen? Bisher habe ich nur eine Rezension in der Zeit gesehen und eben die Ihrige gelesen,.. und wieder Lust bekommen die Handke-Lektuere endlich wieder aufzunehmen – vielen Dank!
@Phorkyas
Um mit dem letzten zu beginnen: Handkes »Immer noch Sturm« ist schon sehr speziell. Und natürlich nicht griffig. Und nicht »hip«. Zudem ist es fast kein Roman, sondern ein erzähltes Stück. Die Österreicher besprechen das mehr, weil es sie natürlich mehr angeht.
Ich weiß nicht, wann Sie Ihre Handke-Lektüre abgebrochen haben, aber wenn Sie einsteigen wollen, dann besser mit der »Morawischen Nacht«.
–
Zu Kämmerlings:
Naja, Botho Strauß erwähnt er nicht namentlich, weil der natürlich niemals auf die Idee käme eine »GGN« zu schreiben, wobei gerade die Summe von Strauß’ Stücken und Erzählungen durchaus ein Bild ergeben könnte.
Das verräterischste Attribut habe ich immer bei Elke Heidenreich gehört: Ein Buch sollte »süffig« sein. Kämmerlings ist da nicht weit weg. Er kommt mir ein bisschen vor wie ein Trainer, der Schachspielern sagt, die könnten doch auch mal ganz gut Dame spielen.
Die Handke-Lektüre fällt bei mir leider sehr schmal aus. Außer »Kaspar«, noch zu Schulzeiten, und »Wunschloses Unglück«, glaube ich mich nur noch an eine Lektüre zu erinnern, die ich für »Begrüßung des Aufsichtsrates« hielt, was allerdings mit den Inhaltsangaben, die ich bisher gesehen hatte nicht zusammenpasst. – Bei der Diskussion um die »Idylle« oder einer ähnlichen hatten Sie mir glaube ich, auch schon die Morawische Nacht empfohlen und der Buchhändler hat unterstützte dies auch, trotzdem bin ich doch nur mit Nootebooms »Rituale« herausgekommen, welches ich leider immer noch nicht wiedergelesen habe. (Insofern das Steckenbleiben.. Aber vielleicht erfolgt demnächst ein ähnlicher Spontankauf wie bei Steins »Leinwand« mit anschließender Sofortlektüre.)
- Botho Strauß erwähnte ich nur in Hinblick auf Zehners Titel -
»Süffig« ist gut. In der Tat erscheint mir ein Großteil der erfolgreichen Bücher oder gar Bestseller dieser Bezeichnung zu eignen. – Wobei ich gerade doch etwas zögere: Verstanden als apettitanregend, sozusagen den eigenen Intellekt befeuernd, müsste man doch gestehen, dass jeder Leser bemüht sein sollte, die für ihn »süffigen« Bücher auszuwählen. (Befremdend wäre dann höchstens, dass so ein großer Teil auf den gleichen Gedankenstoff verfällt, sich eine solche Übereinkunft bildet, jetzt doch wieder unbedingt über Vegetarismus oder Umweltkatastrophe zu debattieren – als hätt’ man das vor 20 Jahren nicht schon getan – und die FAZ ist sich auch nicht zu schad’ andauernd Eisbären dazu abzudrucken... hach.) – Auch wenn dann die tatsächlichen Horizonterweiterungen, die einen auf neue Gedankenbahnen lenken, mehr die Zufallsprodukte sein dürften?
»Süffig« ist ein Wort, dass ich nicht mag. Meine Mutter nannte süsse Weine »süffig« und als ich einen solchen dann mal probierte, war ich abgestossen. Literatur, die nur »süffig« ist, ist langweilig. Etwas kann »eingängig« erzählt sein, oder »zügig« oder »temporeich« oder sonstwas. Aber »süffig« ist für mich der Inbegriff des trivialen Mainstream, der keine Widerhaken mehr zulassen will, weil sie den Lesefluss stören. »Lesefutter« (ein Wort, dass Handke gelegentlich benutzt) ist oft, ja fast immer »süffig«. Aber dann meist nur Gebrauchsliteratur.
Hm, »Rituale« statt »Morawische Nacht«. Ich staune.
Ich kenne das Wort nur in Zusammenhang mit Bier: Ein süffiges Bier trinkt sich leicht und daher schnell; es stellt keine »Ansprüche«, ist aber auch nicht schlecht, so dass man ein anderes wollte – gut geeignet um sich zu betrinken (auf die Literatur gemünzt: Vermutlich nichts woran man wächst oder das bleibenden Eindruck hinterlässt, außer den Rausch, der vielleicht im Gedächtnis bleibt...).
Ein womöglich nicht ganz gerechter Vergleich: »Die Straße« (The road) von Cormac McCarthy geht in diese Richtung, ein ungemein spannendes, atmosphärisches Buch, das es aber (bei mir) nicht geschafft hat sich festzusetzen (man muss sich nicht abarbeiten; aber das gelingt auch nicht jedem Buch).
@Metepsilonema
Cormac McCarthy schießt gerade in den Ladbrokes-Quoten für den heutigen Literaturnobelpreis in die Höhe. Er ist jetzt Favorit.
Vielleicht war der erste Impuls doch der richtigere. Vom Wein ausgehend ist süffig für mich auch negativ besetzt; das fiese suesse Zeugs (hoechstens als Federweisser noch ertragbar, aber dann ist es ja mehr so ein suesses Getraenk wie Apfelschorle oder Traubensaft).
Nur bin ich dann auf der Assoziationskette von der Negativitaet abgerutscht. Das mit den Widerhaken hatte ich auch ueberlegt und es ist schon so, dass ich Buecher mehr Wert schaetze, die ich erst erobern, erringen musste. Nur erinnerte ich mich gerade wieder an die Leinwand und dann tauchte eine etwas ketzerische Frage auf – Es passte einfach zu gut. Es wurden Romane hervorgehoben (Meister und Margarita), die ich auch wertschätze, ueber die yevonnische Welt zerbrech’ ich mir auch gern den Kopf und die Vorgriffe entfalteten einen Sog und gleichzeitig ließ der klare Stil ein hohes Lesetempo zu.. bereit verschlungen zu werden. Für andere sind die Zichronischen Reflexionen vielleicht etwas ermuedend, aber für mich war es genau meine Gedankenwelt. Wäre der Roman für mich vielleicht schon ’süffig’? (Ich glaube eher nein, aber das zu begründen, finde ich schon nicht so ganz leicht.)
Um wieder (m)einen Lieblingsfeind zu bemühen dachte ich auch an Kehlmann. Der seine Prosa wohl auch gerade an der angelsächsischen geschult hat und für mich auch gerade wie diese Bestseller schreibt: leicht weglesbar, mit guten Einfällen, geistvoll.. aber letztlich folgenlos. – Vielleicht war es diese Zwickmühle: Dass es eben auch gute, handwerklich saubere Prosa ist, und es nur meinem subjektiven Empfinden entspringt zu sagen, sie habe mir etwas wirklich Neues gebracht oder nicht? Aber man darf eben auch nicht in einen völligen Relativismus verfallen, auch wenn man die eigenen Werturteile ja nicht Ranicki-mäßig als päpstliche Bulle verschicken muss,.. da beginnt dann eben der (intersubjektive) Diskurs(;
PS. Da bin ich ja froh nur die Verfilmung von »The Road« gesehen zu haben (ich glaube, was diese Art Dystopie anbelangt würde ich Austers »In the Country of Last Things« doch bevorzugen – auch wenn ich mir über das Buch natürlich eigentlich kein Urteil anmaßen kann)...
PPS. Auch wenn die Diskussion schon erkaltet ist und ich’s nicht überstrapazieren möchte, hab’ ich mal was Lyrik dagegengesetzt