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Ein reich­lich er­nüch­tern­der Text (mit ei­nem skur­ri­len Ti­tel): »Sieg der Es­sig­gur­ke« von Ivay­lo Dit­chev. Dit­chevs Ana­ly­se der be­reits vor der tat­säch­li­chen Mit­glied­schaft in der EU des­il­lu­sio­nier­ten Bul­ga­ren ent­spricht si­cher­lich den Tat­sa­chen. Die »Halb­wert­zeit«, in der die Eu­ro­päi­sche Uni­on noch Bür­ger zu be­gei­stern ver­mag, hat in den letz­ten Jah­ren dra­ma­tisch ab­ge­nom­men. Be­reits bei der letz­ten EU-Er­wei­te­rung im Mai 2005 hiel­ten sich in den Be­völ­ke­run­gen vie­ler neu­er Bei­tritts­län­der (Po­len; Tsche­chi­sche Re­pu­blik) EU-Geg­ner und EU-Be­für­wor­ter die Waa­ge. In­zwi­schen sind die Be­für­wor­ter längst in der Min­der­heit.

Dit­chevs Ana­ly­se, ein neu­er Na­tio­na­lis­mus stem­me sich so­zu­sa­gen ei­nem le­gis­la­ti­ven Bü­ro­kra­tie­mon­ster EU ent­ge­gen, wäh­rend die Na­tio­nal­re­gie­run­gen bei der (nach wie vor fra­gi­len) De­mo­kra­ti­sie­rung der Ge­sell­schaft ver­sa­gen, mag für Län­der wie Bul­ga­ri­en zu­tref­fen. Das be­schrie­be­ne Phä­no­men ist aber in der ge­sam­ten EU vi­ru­lent – auch bei Län­dern, die der Ge­mein­schaft seit Jahr­zehn­ten an­ge­hö­ren.

Er­setzt man die Vo­ka­bel »Na­tio­na­lis­mus« durch »pro­tek­tio­ni­sti­schen Re­gio­na­lis­mus«, so kommt man der Sa­che schon sehr viel nä­her. Die­se Be­we­gung exi­stiert seit Jah­ren – über­all in der EU: Der Usur­pie­rung durch un­kon­trol­lier­te, glo­ba­li­sier­te (und teil­wei­se als »be­droh­lich« emp­fun­de­ne) Wa­ren­strö­me hat sich der Trend ei­ner sanf­ten Re­gio­na­li­sie­rung ent­ge­gen­ge­stemmt.

Je­der Fern­seh­koch legt heut­zu­ta­ge Wert auf jah­res­zeit­li­che und »re­gio­na­le Pro­duk­te«. Wo­zu Spar­gel aus Tai­wan, wenn vor der Haus­tür wel­cher an­ge­baut wird? Und war­um Pop­mu­sik in (meist un­ver­ständ­li­chem und/oder ba­na­lem) eng­lisch hö­ren müs­sen, wenn es auch Tex­te in der ei­ge­nen Spra­che gibt? Wes­halb sich stän­dig An­gli­zis­men aus­set­zen müs­sen? Ist das be­reits Na­tio­na­lis­mus? Oder ist es nur ei­ne Hin­wen­dung zu ei­ner Re­gio­na­li­sie­rung, die (bei­spiels­wei­se in Deutsch­land) im Zwei­fels­fall nicht »deut­sche Kü­che« en vogue er­schei­nen lässt, son­dern »baye­ri­sche« oder »pfäl­zi­sche«?

Man fra­ge ei­nen Bri­ten nach sei­ner Her­kunft: Er ist zu­erst Eng­län­der, Wa­li­ser, Schot­te oder Nord­ire – da­nach geht es noch de­tail­lier­ter in die wei­te­re Re­gio­na­li­sie­rung (Graf­schaft; Stadt). Auf die Idee, er sei Bri­te, kommt er meist gar nicht (oder zu­letzt). Das schot­ti­sche Par­la­ment hat un­ter To­ny Blair gro­sse au­to­no­me Rech­te er­hal­ten. Ähn­li­che Re­gio­na­li­sie­run­gen gab es in Spa­ni­en. In Ita­li­en mün­de­ten Re­gio­nal­be­stre­bun­gen in die fa­schi­sti­sche »Le­ga Nor­te«, die of­fen für ei­ne Se­zes­si­on des »rei­chen Nor­dens« vom »ar­men Sü­den« ein­tritt; auch in Bel­gi­en trei­ben sich wahr­lich na­tio­na­li­sti­sche Kräf­te um – wie man vor ei­ni­gen ta­gen vor­ge­führt be­kam.

Wir er­le­ben eu­ro­pa­weit ei­ne Wie­der­be­le­bung von Re­gio­nal­struk­tu­ren, die im be­sten Fall fö­de­ral or­ga­ni­siert sind bzw. wer­den. Dies ist nicht zu­letzt ein Ver­dienst links­li­be­ra­ler Kräf­te der 80er und 90er Jah­re (in Deutsch­land ins­be­son­de­re der Grü­nen), die im Schul­ter­schluss mit kon­ser­va­ti­ven EU-Geg­nern als ei­ne Art Domp­teur den Re­gio­na­lis­mus in der Be­völ­ke­rung auf­ge­grif­fen, do­me­sti­ziert und ir­gend­wann in­sti­tu­tio­na­li­siert ha­ben (»Eu­ro­pa der Re­gio­nen«). Er dien­te in der Ur­form als Ab­wen­dung ge­gen je­ne zen­tra­li­stisch-see­len­lo­sen Po­li­tik- und Ge­sell­schafts­ent­wür­fe, die in hun­der­te Sei­ten um­fas­sen­den Ver­ord­nun­gen den Sitz des Trak­tors oder den Krüm­mungs­grad der Ba­na­ne de­fi­nie­ren – aber den Bür­ger mit den Sor­gen des All­tags al­lei­ne las­sen und nicht in der La­ge sind, die oh­ne Zwei­fel gra­vie­ren­den Vor­tei­le ei­ner Eu­ro­päi­schen Uni­on (jen­seits ei­nes ge­mein­sa­men Mark­tes) ver­ständ­lich her­aus­zu­ar­bei­ten.

Da­bei ist üb­ri­gens die Eu­ro­päi­sche Uni­on – hier­über sind sich vie­le Ex­per­ten ei­nig – kei­ne lu­pen­rei­ne de­mo­kra­tisch le­gi­ti­mier­te Or­ga­ni­sa­ti­on. Der Ver­fas­sungs­ver­trag hät­te dies nicht ge­än­dert. Die Ver­ord­nungs­mon­ster, die in im­mer kür­ze­ren Zy­klen die Au­to­no­mie re­gio­na­len Han­delns ein­schrän­ken, sind oft der­art welt- und kul­tur­fremd, dass es ei­nem schau­dern mag.

Wenn im Ja­nu­ar 2007 Deutsch­land die EU-Rats­prä­si­dent­schaft über­nimmt, so wer­den die ge­schwol­le­nen Sonn­tags­re­den der po­li­ti­schen Eli­ten sich ir­gend­wann so weit von der »ge­fühl­ten« La­ge wei­ter Tei­le der Be­völ­ke­rung un­ter­schei­den, dass je­de zu­sätz­li­che Be­lo­bi­gung des »ge­mein­sa­men Eu­ro­pa« just das Ge­gen­teil des­sen be­wirkt, was er­reicht wer­den soll: das Prin­zip kom­mu­ni­zie­ren­der Röh­ren.

An­ge­la Mer­kel hat an­ge­droht, den EU-Ver­fas­sungs­ver­trag wie­der auf die Agen­da zu set­zen. Viel­leicht er­klärt ihr noch recht­zei­tig vor der er­sten Rats­sit­zung un­ter ih­rem Vor­sitz je­mand, dass die­ser in min­de­stens zwei Län­dern mit de­mo­kra­ti­schen Mit­teln ge­schei­tert ist. Es macht al­so kei­nen Sinn, am be­stehen­den Ent­wurf ein­fach fest­zu­hal­ten oder nur mar­gi­nal zu ver­än­dern und im Zwei­fel so lan­ge ab­stim­men zu las­sen, bis das Er­geb­nis stimmt. Die­se Hal­tung – von vie­len EU-Funk­tio­nä­ren trot­zig an­ge­nom­men – of­fen­bart das in­zwi­schen dra­ma­ti­sche De­mo­kra­tie­de­fi­zit, wel­ches sich in Brüs­sel und Strass­burg her­aus­schält.

1998 trumpf­te der da­ma­li­ge neue Au­ssen­mi­ni­ster Josch­ka Fi­scher voll­mun­dig auf, man wer­de die neu­en Bei­tritts­län­der erst nach aus­gie­bi­gen und wich­ti­gen Re­for­men in­ner­halb der be­stehen­den EU auf­neh­men – erst in­tern re­for­mie­ren und da­nach neu auf­neh­men. Po­li­ti­sche Zu­sa­gen der Kohl-Re­gie­rung – das stell­ten Schröder/Fischer schnell fest – wa­ren schon längst wei­ter­ge­gan­gen; der Dicke hat­te of­fen­sicht­lich nicht aus­führ­lich ge­nug die Ele­ven in­for­miert. So sehr sich auch die rot-grü­ne Re­gie­rung noch um kos­me­ti­sche De­tails be­müh­te – der Zug war längst un­ab­än­der­bar in die Er­wei­te­rungs­rich­tung ab­ge­fah­ren. Hi­sto­ri­ker wer­den ir­gend­wann ein­mal die­se voll­kom­men über­ha­ste­te und auch me­di­al un­ge­heu­er schlecht ver­mit­tel­te Po­li­tik als den An­fang vom En­de der po­li­ti­schen, eu­ro­päi­schen Uni­on aus­ma­chen.

Als die Völ­ker der neu­en Bei­tritts­län­der in et­wa die Wel­le er­kann­ten, die mit ei­ner Mit­glied­schaft auf sie zu­kommt, war es zu spät. Jah­re­lang war ih­nen sug­ge­riert wor­den, die EU sei ei­ne Or­ga­ni­sa­ti­on, in der man oben ei­nen Eu­ro ein­wer­fe und un­ten zwei Eu­ro her­aus­be­kom­me. Der Schock war gross, als die Be­din­gun­gen und Zeit­räu­me ge­nannt wur­den. Sie wuss­ten noch nicht, dass man in Ver­trä­gen das Klein­ge­druck­te auch le­sen muss.

Bil­li­ge und pri­mi­ti­ve Po­pu­li­sten hat­ten ein leich­tes Spiel: Sie konn­ten mit an­ti­eu­ro­päi­schen Res­sen­ti­ments auf Stim­men­fang ge­hen und tra­fen frucht­ba­ren Bo­den an. Wenn man die her­un­ter­ge­fal­le­nen Äp­fel nicht auf­sam­melt, muss man sich nicht wun­dern, wenn ein an­de­rer sie ver­mark­tet.

Die Tür­ken wer­den sich 2020 weh­mü­tig dar­an er­in­nern, dass sie nun ei­gent­lich der EU hät­ten bei­tre­ten wol­len. Nur wird es die EU in der jet­zi­gen Form dann nicht mehr ge­ben. Ei­ni­ge we­ni­ge wer­den ob der ver­lo­re­nen Chan­cen nach­trau­ern, die man ver­spielt hat. An­de­re wer­den be­frie­digt fest­stel­len, dass die Klam­mer ei­nes ge­mein­sa­men Mark­tes aus­reicht, um in Eu­ro­pa auch wei­ter­hin au­ssen­po­li­tisch kon­flikt­frei zu hal­ten. In Bul­ga­ri­en wird man auch wei­ter­hin die lo­ka­le Es­sig­gur­ke be­vor­zu­gen und in Deutsch­land die Spree­wäl­der. War­um auch nicht.


Dank für den Hin­weis auf den TAZ-Ar­ti­kel an Mi­cha­el Rol­off.

1 Kommentar Schreibe einen Kommentar

  1. Ei­ne An­fra­ge an Sie!
    In mei­nem Web­log ha­be ich ei­ne Ru­brik mit Na­men Kuss-Samm­lung er­öff­net. Ich be­ab­sich­ti­ge ei­nen Bei­trag mit Ant­wor­ten von two­day-Blog­gern zu po­sten, auf die Fra­ge »Was ist ein gu­ter Kuss?«.
    Ich fin­de es schö­ne, wä­re Ih­re ge­schätz­te An­to­wrt da­bei.

    Mit freund­li­chen Grü­ßen
    Ro­sen­herz