Wolf­gang Kraus­haar: Acht­und­sech­zig – Ei­ne Bi­lanz

Wolfgang Kraushaar: Achtundsechzig - Eine Bilanz

Wolf­gang Kraus­haar:
Acht­und­sech­zig – Ei­ne Bi­lanz


Wolf­gang Kraus­haar legt mit sei­nem Buch »Acht­und­sech­zig – Ei­ne Bi­lanz« ei­ne kri­ti­sche Wür­di­gung der deut­schen uto­pi­sti­schen Stu­den­ten- und Ge­sell­schafts­sub­kul­tur von un­ge­fähr 1967 an vor. In ei­nem aus­führ­li­chen Pro­log do­ku­men­tiert er zu­nächst die Wur­zeln der stu­den­ti­schen Pro­te­ste Mit­tel­eu­ro­pas in der US-ame­ri­ka­ni­schen »Beat-Generation«-Bewegung aus­ge­hend von den Li­te­ra­ten Bur­roughs, Ke­rouac und Gins­berg Mit­te der 50er Jah­re über die »Flower-Power«- und Hip­pie-Ära, die dort Mit­te der 60er Jah­re als zu­nächst ge­sell­schaft­li­che Pro­test- und se­xu­el­ler Be­frei­ungs­be­we­gung und – pau­schal be­trach­tet – Ka­pi­ta­lis­mus­ver­wei­ge­rung auf­kam (und be­reits im Herbst 1967 ver­san­de­te) bis zum po­li­ti­sier­ten An­ti-Viet­nam-Pro­test und der mi­li­tan­ten »Black Power«-Gruppierung En­de der 60er/Anfang der 70er Jah­re.

Die­se er­sten rund 40 Sei­ten zei­gen, dass der in­tel­lek­tu­el­le und stu­den­ti­sche Pro­test, der sich En­de der 60er Jah­re in Deutsch­land (aber auch an­de­ren eu­ro­päi­schen Län­dern wie Frank­reich und Ita­li­en) zeig­te, nicht oh­ne Vor­ge­schich­te war, wo­bei Kraus­haar nicht ex­pli­zit dar­auf ein­geht, wie­viel In­spi­ra­ti­on im­por­tiert wur­de. Der wei­te­re Ver­lauf des Bu­ches zeigt, dass es ne­ben dem Viet­nam­krieg-Pro­test, ei­ner Neu­de­fi­ni­ti­on des Se­xu­el­len (stark an­ge­lehnt an Wil­helm Reich, der zum Gu­ru wur­de) und dem spä­ter reich­lich prak­ti­zier­ten Dro­gen­kon­sum kaum Par­al­le­len gab. Das oft spie­le­ri­sche der ame­ri­ka­ni­schen Hip­pie­be­we­gung bei­spiels­wei­se war den zu­meist bier­ern­sten und frän­ki­schen Ak­teu­ren, die von ei­ner pro­te­stan­tisch ge­präg­ten Mo­ra­li­tät spe­zi­ell in Deutsch­land durch­drun­gen schie­nen, ziem­lich fremd.

Wie muss man nun heu­te, rund vier­zig Jah­re nach »1968« (und drei­ssig Jah­re nach En­de des »Deut­schen Herbsts« – der in die­sem Buch nur ei­ne un­ter­ge­ord­ne­te Rol­le spielt) die Grup­pie­run­gen und Ver­än­de­run­gen be­wer­ten? Kraus­haar macht am An­fang drei Deu­tungs­mu­ster aus:

Er­stens: Von wert­kon­ser­va­ti­ven Po­li­ti­kern wird be­haup­tet, die fun­da­men­ta­le Kri­tik an Staat und In­sti­tu­tio­nen, Fa­mi­lie und Rol­len­mu­stern sei ein ge­fähr­li­cher Irr­weg ge­we­sen und ha­be die Ge­sell­schaft in ih­rem Zu­sam­men­hang be­droht. […]

Zwei­tens: Von so­zi­al­de­mo­kra­ti­schen Zeit­hi­sto­ri­kern wird er­klärt, die Acht­und­sech­zi­ger sei­nen nichts an­de­res als un­frei­wil­li­ge Ka­ta­ly­sa­to­ren ei­ner um­fas­sen­den Mo­der­ni­sie­rung ge­we­sen. Die meisten…Veränderungen wä­ren Aus­druck ei­nes tief­grei­fen­den, oh­ne­hin un­ab­wend­ba­ren, von ih­ren Ak­teu­ren je­doch nicht in­ten­dier­ten Struk­tur­wan­dels ge­we­sen.

Drit­tens: Von Sei­ten ei­ni­ger der ehe­mals wich­tig­sten Ak­teu­re wird nun be­haup­tet, dass es ih­nen vor vier­zig Jah­ren in Wahr­heit um ei­ne na­tio­na­le Re­vo­lu­ti­on ge­gan­gen sei, die sich ge­gen die USA und die So­wjet­uni­on und da­mit ge­gen die west­li­chen wie öst­li­chen Be­sat­zungs­mäch­te ge­rich­tet ha­be.

Ei­ne »na­tio­na­le« Re­vo­lu­ti­on?

Kraus­haar geht am En­de des Bu­ches auf die­ses drit­te Deu­tungs­mu­ster ein. Tat­säch­lich gibt es mit Horst Mahler, Bernd Ra­behl und Rein­hold Ober­ler­cher aber auch Rai­ner Lang­hans, Man­fred Lau­er­mann und Pe­ter Furth pro­mi­nen­te Acht­und­sech­zi­ger, die heu­te rechts­na­tio­na­le bis fa­schi­sto­ide Ge­sin­nun­gen (bis hin zu Mahlers Rechts­he­ge­lia­ner­tum) he­gen und da­bei ver­su­chen, die da­ma­li­gen so­zi­al­re­vo­lu­tio­nä­ren Ak­tio­nen um­zu­deu­ten.

So war zwar Ru­di Dutsch­ke ein Ver­fech­ter der na­tio­na­len Ein­heit Deutsch­lands (al­so das, was ge­mein­hin Wie­der­ver­ei­ni­gung ge­nannt wur­de) als Kern­ziel deut­scher Po­li­tik, aber ei­ne Um­deu­tung Dutsch­kes und/oder von »Acht­und­sech­zig« ge­ne­rell in »Na­tio­nal­re­vo­lu­tio­nä­re« kä­me ei­ner Ge­schichts­klit­te­rung gleich. Dutsch­kes deutsch­land­po­li­ti­sche Re­fle­xio­nen, die er an­fangs aus Angst vor ne­ga­ti­ven Sank­tio­nen durch die Weg­ge­fähr­ten un­ter ei­nem Pseud­onym ver­öf­fent­lich­te, sah West­ber­lin als »Trans­mis­si­ons­rie­men« der Ein­heit. Die Wie­der­ver­ei­ni­gung, die Dutsch­ke vor­schweb­te, soll­te al­ler­dings we­der un­ter ka­pi­ta­li­sti­schen noch un­ter na­tio­na­len Vor­zei­chen statt­fin­den – ein­zig und al­lein die Ar­bei­ter­be­we­gung in West- und Ost­deutsch­land [konn­te] der Ak­teur in die­ser Mis­si­on sein.

Aus­führ­lich legt Kraus­haar am An­fang sei­ne Be­den­ken hin­sicht­lich der Sub­sum­mie­rung »Acht­und­sech­zi­ger« dar. Er spricht von ei­gent­lich un­taug­li­chen Be­zeich­nun­gen, macht so­zia­le Kon­struk­tio­nen aus, fä­chert Karl Mann­heims Ge­ne­ra­tio­nen­theo­rien kurz auf und spricht vom Be­griff »Acht­und­sech­zi­ger« als nach­träg­li­che Über­zeich­nung und Ma­rot­te, die sich zwar bes­ser für rhe­to­ri­sche Ge­fech­te eig­ne, aber das Phä­no­men all­zu stark sim­pli­fi­zie­re. Zu Recht be­tont Kraus­haar die He­te­ro­ge­ni­tät der (so­ge­nann­ten) Acht­und­sech­zi­ger und weist dar­auf hin, dass es be­sten­falls 10.000 Ak­ti­vi­sten gab (und die nur in den Zei­ten der höch­sten Mo­bi­li­sie­rung). Die­se Ein­wän­de be­nen­nend, bleibt er schliess­lich – ein we­nig über­ra­schend, aber si­cher­lich auch, um die Les­bar­keit des Bu­ches zu ge­währ­lei­sten – beim Be­griff der »Acht­und­sech­zi­ger«.

Durch den Dschun­gel von Er­klä­rungs­mu­stern kommt der Au­tor zum Er­geb­nis, dass es sich bei der Acht­und­sech­zi­ger­be­we­gung um ei­ne im Kern an­ti­au­to­ri­tä­re Re­vol­te han­del­te. Die­se Deu­tung, am An­fang des Bu­ches vor­ge­bracht, wird am En­de re­sü­mie­rend be­stä­tigt – die ei­ne oder an­de­re Fa­cet­te aus der ge­schicht­li­chen Ent­wick­lung noch hin­zu­fü­gend.

Kraus­haar zeich­net die Grund­kon­zep­tio­nen der Acht­und­sech­zi­ger nach (nebst knap­per hi­sto­ri­scher Dar­stel­lung), zeigt ih­re Ent­wick­lun­gen und Trans­for­ma­tio­nen und ru­bri­ziert ih­re Be­deu­tung für die Bun­des­re­pu­blik (bis heu­te). Er ist, wie er schreibt, be­müht, die Kakophonien…und Dis­so­nan­zen des Er­in­nerns, sei­en sie ver­klä­ren­der oder auch ver­teu­felnd, aus­zu­blen­den, was auch gut ge­lingt.

Gra­dua­li­sten vs. Ma­xi­ma­li­sten

Als die bei­den Grund­ty­pen der Acht­und­sech­zi­ger­be­we­gung setzt Kraus­haar die Gra­dua­li­sten und die Ma­xi­ma­li­sten der Ge­sell­schafts­ver­än­de­rung. Die Gra­dua­li­sten ent­schie­den sich in ih­rer über­wie­gen­den Mehr­zahl, in ei­ne der bei­den als re­form­ori­en­tiert gel­ten­den Parteien…einzutreten und sich dort zu ar­ti­ku­lie­ren, wäh­rend die Ma­xi­ma­li­sten zwi­schen Au­sser- und An­ti­par­la­men­ta­ris­mus, ei­ni­ge so­gar ei­nem ve­ri­ta­blen An­ti­in­sti­tu­tio­na­lis­mus chan­gier­ten. Arg ver­kür­zend könn­te man be­haup­ten, dass im Lau­fe der Zeit die mei­sten Ma­xi­ma­li­sten zu Gra­dua­li­sten mu­tier­ten. An­hand von Da­ni­el Cohn-Ben­dit und Josch­ka Fi­scher wer­den die­se Me­ta­mor­pho­sen wun­der­bar vor­ge­führt. Wo­bei Cohn-Ben­dit – ähn­lich dem Igel – im­mer schon wie­der weg war, wenn (der »Ha­se«) Josch­ka mü­de ei­nen wei­te­ren Schritt Rich­tung In­sti­tu­tio­na­li­sie­rung mach­te.

Die »üb­rig­ge­blie­ben­den« Ma­xi­ma­li­sten ver­zet­tel­ten sich ent­we­der in eso­te­ri­sches oder in po­li­ti­sches Sek­tie­rer­tum. Es gibt sehr klu­ge Be­schrei­bun­gen im Buch von den un­ter­schied­li­chen Welt­fluch­ten, die schon im Win­ter 1968/69 ein­setz­ten – von den K‑­Grup­pen-Grün­dun­gen (bei­spiels­wei­se KPD/ML, KPD/AO oder dem to­ta­li­tä­ren KBW, in dem sich be­son­ders vie­le Pol Pot-An­hän­ger fan­den) bis zur Hin­wen­dung zu Psy­cho­sek­ten wie Ha­re Krish­na, Bhagh­wan oder an­de­ren skur­ri­len eso­te­ri­schen Ver­ei­ni­gun­gen (AAO; ZEGG).

So­wohl die K‑Gruppen wie die Psy­cho­grup­pen wa­ren Zer­falls­pro­duk­te ei­ner in ih­ren Haupt­zie­len als ge­schei­tert an­ge­se­he­nen Protestbewegung…In den Po­lit­sek­ten kam das ob­jek­ti­ve Mo­ment in ver­selb­stän­dig­ter Form zum Vor­schein, in den Psy­cho­sek­ten das sub­jek­ti­ve. Er­ste­re zo­gen aus, um die al­lei­ni­ge re­vo­lu­tio­nä­re Kraft, das Pro­le­ta­ri­at, wie­der­zu­er­wecken und auch an­zu­füh­ren, Letz­te­re be­ga­ben sich auf die Su­che nach dem be­frei­ten Sub­jekt, das es…freizulegen galt. Bei­de ver­lang­ten nach Füh­rungs­fi­gu­ren, de­nen qua­si­re­li­giö­se Zü­ge zu­ge­schrie­ben wur­den (am Ran­de the­ma­ti­siert Kraus­haar den christ­li­chen Glau­ben Dutsch­kes).

Das setz­te sich üb­ri­gens auch im spä­te­ren Ter­ro­ris­mus von RAF und RZ fort (bei­de nennt er ter­ro­ri­sti­sche Sekte[n]); ex­em­pla­risch in der Fi­gur des An­dre­as Baa­der, wo­bei ei­ne ge­wis­se Ver­blüf­fung ob der heu­te eher ru­sti­kal wir­ken­den Aus­strah­lung auf­kommt. Kraus­haar stellt bei Baa­der ei­ne Mu­ta­ti­on vom nar­ziss­ti­schen Dan­dy in der An­fangs­zeit (Baa­der und Ens­slin als Bon­ny und Cly­de) bis zum ge­schei­ter­ten, sich sel­ber rich­ten­den und sei­nen Tod in­sze­nie­ren­den De­spe­ra­do am En­de.

Schnell mu­tier­te die als an­ti­au­to­ri­tä­re Re­vol­te apo­stro­phier­te Be­we­gung zum au­to­ri­tä­ren An­ti­au­to­ri­ta­ris­mus – auch und ge­ra­de dort, wo man sich be­tont »an­ti­au­to­ri­tär« gab, wie bei­spiels­wei­se in den »Kin­der­lä­den« und den (an­fangs mao­istisch an­ge­leg­ten) »Kom­mu­nen«, je­nen Spiel­wie­sen, die die Fa­mi­lie als »re­pres­siv-neu­ro­ti­schen Zwangs­ver­band« sa­hen, die Rol­le der El­tern aus­lö­schen und die »ödi­pa­le Grund­struk­tur in der bür­ger­li­chen Klein­fa­mi­lie« aus­he­beln woll­ten, in dem u. a. Kin­der be­reits frei ih­re Se­xua­li­tät »aus­le­ben« soll­ten.

Na­tür­lich wet­tert Kraus­haar in sei­nem Buch nicht im Ab­rech­nungs­fu­ror ei­nes Götz Aly. Den­noch macht es Ver­gnü­gen, sei­ne wohl do­sier­ten (und manch­mal gut ver­steck­ten) Spit­zen zu le­sen. Der Ei­fer der Rot­gar­di­sten der chi­ne­si­schen Kul­tur­evo­lu­ti­on dien­te ei­ni­gen Acht­und­sech­zi­gern wie bei­spiels­wei­se Pe­ter Schnei­der, da­mals ein glü­hen­der Ver­fech­ter, der im Buch aus­führ­lich zi­tiert wird (al­ler­dings auch sei­ne spä­te­re Keh­re Er­wäh­nung fin­det), als Vor­bild. Hin­zu ka­men die Pro­jek­tio­nen in die »Be­frei­ungs­be­we­gun­gen« Viet­cong und PLO/Fatah und das, was Ri­chard Lö­wen­thal sei­ner­zeit als »romantische[n] Rück­fall« be­zeich­ne­te: ei­ne po­li­ti­sche, rück­wärts ge­wand­te, die »al­ten Af­fek­te ei­ner an­ti­li­be­ra­len und an­ti­west­li­chen Ro­man­tik« be­die­nen­de Ge­gen­mo­der­ne.

Öko­lo­gie statt So­zia­lis­mus

Spä­te­stens En­de der 70er Jah­re kommt es zu ei­nem Pa­ra­dig­men­wech­sel von der jah­re­lang betriebene[n] Kri­tik der po­li­ti­schen Öko­no­mie hin zu ei­ner ra­di­ka­len und zur ins­ge­hei­men Apo­ka­lyp­tik nei­gen­den Öko­lo­gie- und Tech­nik­kri­tik – die Grü­nen wur­den »ge­bo­ren«. War West­ber­lin das Zen­trum der APO und Acht­und­sech­zi­ger ge­we­sen, ka­men et­li­che Prot­ago­ni­sten der »Grünen«-Bewegung aus der »Sponti«-Szene in und um Frank­furt, oh­ne die es kei­ne Grü­nen, die sich zu­nächst pri­mär als »Anti-Atomkraft«-Bewegung for­mier­ten, ge­ge­ben hät­te.

Zu­nächst als pri­mär au­sser­par­la­men­ta­ri­sche Op­po­si­ti­on mit ma­xi­ma­li­sti­schen Po­si­tio­nen (den so­ge­nann­ten »Fun­dis«), aber spä­ter dann über­nah­men die Gra­dua­li­sten – »Rea­los« – das Ru­der und voll­zo­gen (end­gül­tig) den Marsch durch die In­sti­tu­tio­nen.

Kraus­haars grif­fi­ge For­mu­lie­run­gen sind bei die­sem eher als Ba­sis­werk kon­zi­pier­ten Buch na­tur­ge­mäss nicht im­mer be­frie­di­gend. Bei ge­naue­rem Hin­se­hen wer­den na­tür­lich sehr wohl Par­al­le­len zwi­schen den Acht­und­sech­zi­gern und den Grü­nen deut­lich – und nicht nur da­hin­ge­hend, weil sich ei­ni­ge ehe­ma­li­ge K‑­Grup­pen-Mit­glie­der dort ein­ge­rich­tet hat­ten. So war die Ka­pi­ta­lis­mus­kri­tik bei­spiels­wei­se bei den »Fun­dis« ein Kern­ele­ment (ne­ben der stark an­ti­ame­ri­ka­ni­schen Aus­rich­tung). Und dass Tech­nik­kri­tik ein grund­le­gen­des neu­es Phä­no­men in mo­der­nen Ge­sell­schaf­ten war, kann auch nicht be­haup­tet wer­den. Sie war nur in der Wirt­schafts­wun­der­zeit ver­schüt­tet ge­we­sen. Erst spä­ter – als die »Rea­los« bei den Grü­nen do­mi­nier­ten – wur­de der Ka­pi­ta­lis­mus nicht mehr grund­le­gend in Zwei­fel ge­zo­gen.

In zwei we­sent­li­chen Punk­ten än­der­ten die Grü­nen al­ler­dings das Be­wusst­sein: Zum ei­nen wur­de der So­zia­lis­mus als ge­sell­schaft­li­che Leit­vor­stel­lung fast voll­stän­dig auf­ge­ge­ben und durch ei­ne neue, öko­lo­gi­sche Sicht er­setzt. Zum an­de­ren wur­de der An­ti­par­la­men­ta­ris­mus der (Post-)Achtundsechziger auf­ge­ge­ben. Die­ser Punkt war ein ra­di­ka­ler Bruch der ehe­ma­li­gen »Idea­le«, die sich sei­ner­zeit nicht nur in den drei gro­ssen »An­tis« (An­ti­ka­pi­ta­lis­mus, An­ti­fa­schis­mus und An­ti­im­pe­ria­lis­mus) äu­sser­ten, son­dern auch ei­nem vi­ru­len­ten An­ti­par­la­men­ta­ris­mus das Wort re­de­te, der schnell bei ei­ni­gen Prot­ago­ni­sten in Au­to­ri­ta­ris­mus um­schlug. War­um Kraus­haar dann von der Rein­ter­gra­ti­on der Post-Acht­und­sech­zi­ger-Strö­mun­gen in das par­la­men­ta­ri­sche Sy­stem durch die Par­tei­grün­dung der Grü­nen spricht, ist min­de­stens ver­wir­rend. Für man­che war es – nach eher exo­tisch an­mu­ten­den Aus­flü­gen in K‑­Grup­pen-Sek­ten – der er­ste Ver­such ei­ner ziel­ge­rich­te­ten In­sti­tu­tio­na­li­sie­rung.

Po­li­ti­sche Er­fol­ge?

Kraus­haar streift Ge­walt­be­reit­schaft und Ter­ro­ris­mus nur am Ran­de, macht ein biss­chen ne­bu­lös zu Dutsch­ke am Ho­ri­zont den be­waff­ne­ten Auf­stand aus, be­schreibt die la­ten­te Ab­sa­ge an das Ver­mit­teln­de, ei­ne tief­sit­zen­de Kom­pro­miss­feind­lich­keit ei­ni­ger Prot­ago­ni­sten und ana­ly­siert ex­em­pla­risch an Ul­ri­ke Mein­hof, ei­ner an­er­kann­ten und en­ga­gier­ten links­in­tel­lek­tu­el­len Jour­na­li­stin, den Über­gang zur Ge­walt. »Vom Pro­test zum Wi­der­stand« – so be­ti­tel­te Mein­hof in der Zeit­schrift »kon­kret« im Mai 1968 ih­re Keh­re. Es war – ein Irr­weg.

Ob­wohl Kraus­haar zeigt, dass die Ge­walt­be­reit­schaft am An­fang durch­aus vor­han­den war (bei­spiels­wei­se die Sym­pa­thie ge­gen für den An­schlag auf das Sprin­ger-Hoch­haus), möch­te er ver­hin­dern, dass Acht­und­sech­zig und RAF (und RZ) syn­onym be­trach­tet wer­den bzw. ei­ne Ent­wick­lung von der APO zur RAF als Fa­tum kon­stru­iert wird. Sein Fa­zit fällt da­her, min­de­stens auf po­li­ti­scher Ebe­ne, we­ni­ger ne­ga­tiv als ur­sprüng­lich an­ge­nom­men aus. Drei we­sent­li­che Er­fol­ge wer­den her­aus­ge­ar­bei­tet:

  • Zum ei­nen wa­ren die Acht­und­sech­zi­ger er­folg­reich in der Be­wusst­seins­ma­chung und öf­fent­li­chen Mo­bi­li­sie­rung der Pro­ble­ma­tik der von der Gro­ssen Ko­ali­ti­on be­ab­sich­tig­ten Not­stands­ge­set­ze. Kraus­haar at­te­stiert –im Ge­gen­satz zu Aly‑, dass man durch den au­sser­par­la­men­ta­ri­schen Druck das Schlimm­ste ver­hin­dert ha­be und die Re­gie­rung zu Kom­pro­mis­sen ge­trie­ben ha­be. Kraus­haar schreibt al­ler­dings sel­ber, dass nach der par­la­men­ta­ri­schen Ver­ab­schie­dung der Not­stands­ge­set­ze die Grup­pen, die sich hier­mit in­ten­siv aus­ein­an­der­setz­ten, schnell zer­split­ter­ten. Das wä­re dann schon am 30. Mai 1968 ge­we­sen.
  • Des­wei­te­ren sieht er ei­nen Er­folg der Stu­den­ten­re­bel­li­on in der Be­kämp­fung der 1968 vi­ru­lent auf­tre­ten­den NPD, die sei­ner­zeit nicht nur in vie­len Land­ta­gen ein­ge­zo­gen war, son­dern auch droh­te, bei der Bun­des­tags­wahl 1969 über 5% zu kom­men. De­tail­liert be­han­delt er den Vor­gang beim NPD-Wahl­kampf 1969 in Kas­sel, bei dem ein Leib­wäch­ter, der in Dien­sten der NPD stand, zwei De­mon­stran­ten an­ge­schos­sen hat­te. Dies hat­te zur Fol­ge, dass die NPD me­di­al in ein schlech­tes Licht kam und ha­be – so Kraus­haars The­se – zum Schei­tern bei der Bun­des­tags­wahl 1969 bei­getra­gen (es gab im­mer­hin 4,3% der Stim­men). War­um al­ler­dings po­ten­ti­el­le An­hän­ger der NPD aus­ge­rech­net durch den Stu­den­ten­pro­test von ei­ner Stimm­ab­ga­be zu­rück­ge­schreckt sein sol­len, leuch­tet nicht ganz ein.
  • Un­be­strit­ten bleibt: Hät­te es die NPD 1969 in den Bun­des­tag ge­schafft, wä­re die so­zi­al-li­be­ra­le Ko­ali­ti­on nicht mög­lich ge­we­sen. Aber Kraus­haar sieht auch ein Ver­dienst der Acht­und­sech­zi­ger dar­in, dass sie das po­li­ti­sche Kli­ma für die SPD/FDP-Re­form­re­gie­rung mit­ge­schaf­fen ha­be. Die­ser Schluss er­scheint reich­lich kühn. Denn zum ei­nen führt Kraus­haar an, dass der gross­ko­ali­tio­nä­re Au­ssen­mi­ni­ster Wil­ly Brandt, der dann 1969 Bun­des­kanz­ler wur­de, kein ein­zi­ges Wort zum Viet­nam­krieg der Ame­ri­ka­ner ge­sagt hat­te und zum an­de­ren steht da­ge­gen, dass die Acht­und­sech­zi­ger in ih­rer gro­ssen Mehr­heit An­ti­par­la­men­ta­ri­er wa­ren. Das Par­la­ment galt vie­len als »Quatsch­bu­de« und Trans­mis­si­ons­rie­men der Ent­schei­dun­gen po­li­ti­scher Olig­ar­chien. In die­sem ab­leh­nen­den Kli­ma ge­deiht kein par­la­men­ta­ri­scher Auf­bruch.

Hin­zu kommt: Ei­ne SPD/FDP-Re­gie­rung war vor der Wahl gar nicht zu pro­gno­sti­zie­ren. Die rei­ne Ad­di­ti­on der Sit­ze hät­te ei­ne SPD/FDP-Ko­ali­ti­on schon seit 1961 er­mög­licht. Jahr­zehn­te­lang galt die FDP aber als fe­ster Ko­ali­ti­ons­part­ner der CDU. Der Bruch der Re­gie­rungs­ko­ali­ti­on mit der CDU 1966 und die Hin­wen­dung der CDU zur SPD setz­te ei­nen Re­form­pro­zess in der FDP in Gang, der Män­ner wie Wal­ter Scheel und Wer­ner Mai­ho­fer in die Füh­rungs­gre­mi­en der Par­tei kom­men liess. Die­ser Schwenk Scheels war in der FDP, die lan­ge ei­ne eher rechts­na­tio­na­le Par­tei war, nicht un­um­strit­ten und ko­ste­te ihr bei nach­fol­gen­den Land­tags­wah­len zu­nächst er­heb­li­che Stim­men.

Die Acht­und­sech­zi­ger igno­rier­ten Brandt

Die Mög­lich­kei­ten po­li­ti­scher Re­for­men durch die so­zi­al-li­be­ra­le Ko­ali­ti­on wur­den von den Acht­und­sech­zi­gern nicht er­kannt, ge­schwei­ge denn wahr­ge­nom­men. Als Wil­ly Brandt »mehr De­mo­kra­tie wa­gen« woll­te und mit der Ost­po­li­tik Welt­frie­dens­po­li­tik ver­such­te, küm­mer­te man sich lie­ber um die ei­ge­nen Or­gas­mus-Pro­ble­me, in­ter­pre­tier­te die »Mao-Bi­bel«, be­trieb die »De­stru­ie­rung der Pri­vat­sphä­re«, fei­er­te den neu­en »So­zia­lis­mus« des Mas­sen­mör­ders Pol Pot oder heg­te klamm­heim­li­che Freu­de mit Mör­dern. Und statt die Schmutz­kam­pa­gnen der »Bild«-Zeitung und an­de­rer Sprin­ger-Me­di­en ge­gen Brandt und sei­ne Po­li­tik kri­tisch zu kom­men­tie­ren, pfleg­te man lie­ber die wund­ge­wor­de­ne Re­vo­luz­zer­see­le (wäh­rend sich an­de­re auf den Weg mach­ten).

Be­reits vor­her ver­weist Kraus­haar auf den la­ten­ten An­ti­se­mi­tis­mus gro­sser Tei­le der Acht­und­sech­zi­ger (er spricht vom Selbst­be­trug der Lin­ken, was die Im­mu­ni­tät in Be­zug auf An­ti­se­mi­tis­mus an­geht), der in der He­roi­sie­rung der pa­lä­sti­nen­si­schen Be­frei­ungs­be­we­gun­gen mün­de­te und zeit­wei­lig zu ge­walt­tä­ti­gen Ak­tio­nen ge­gen jü­di­sche Ein­rich­tun­gen führ­te. (Kraus­haar hat den ge­schei­ter­ten Bom­ben­an­schlag im jü­di­schen Ge­mein­de­haus zu Ber­lin-Char­lot­ten­burg vom 9. No­vem­ber 1969 [sic!] de­tail­liert in ei­nem ge­son­der­ten Buch un­ter­sucht und re­cher­chiert. Rä­dels­füh­re­risch tä­tig war hier mit Pe­ter Ur­ban al­ler­dings ein V‑Mann des West­ber­li­ner Am­tes für Ver­fas­sungs­schutz.)

Sei­ne Deu­tung, dass die Kin­der aus dem Land der Tä­ter nach dem is­rae­li­schen Sieg im Sechs-Ta­ge-Krieg im Ju­ni 1967 nun­mehr be­freit [schie­nen] von der ih­nen of­fen­bar lä­stig ge­wor­de­nen Ver­pflich­tung, we­gen der von ih­ren El­tern be­gan­ge­nen, mit­ge­tra­ge­nen oder zu­min­dest ge­dul­de­ten Ver­bre­chen ei­ne de­mü­ti­gen­de Hal­tung ein­zu­neh­men, kommt der Deu­tung Alys zur The­ma­tik sehr na­he. Bei­de se­hen im An­ti­zio­nis­mus den An­ti­se­mi­tis­mus lau­ern »wie das Ge­wit­ter in der Wol­ke« (Jean Amé­ry); ei­ne The­se, die ir­gend­wann ein­mal ge­nau­er dis­ku­tiert wer­den müss­te.

Mil­de Bi­lanz

In Kaus­haars Be­wer­tung im so­zio­kul­tu­rel­len Be­reich der Acht­und­sech­zi­ger flie­ssen de­ren il­li­be­ra­len Zü­ge durch­aus ein. Der Au­tor kon­zi­diert, das ei­ne Be­wer­tung pro­ble­ma­ti­scher aus­fällt, als er dies frü­her be­reits ein­mal ge­macht ha­be. Die The­se von der »Auf­ar­bei­tung« und Be­wusst­ma­chung der na­tio­nal­so­zia­li­sti­schen Ver­bre­chen durch die Be­we­gung will er nicht ganz auf­ge­ben – sie fällt al­ler­dings ein we­nig pflicht­schul­dig aus und ge­nau­er be­trach­tet war sie [die Aus­ein­an­der­set­zung mit der NS-Ver­gan­gen­heit] ei­ne Er­run­gen­schaft der Prä-Acht­und­sech­zi­ger, wo­bei Kraus­haar hier ein we­nig kryp­tisch vor al­lem je­ne SDS-Mit­glie­der meint, die vor dem ei­gent­li­chen Aus­bruch der Re­vol­te be­reit wa­ren, sich der un­auf­ge­ar­bei­te­ten Ver­gan­gen­heit zu stel­len.... Na­men feh­len – nur ein Flug­blatt von 1966 wird zi­tiert. Die in­sti­tu­tio­nel­le Auf­ar­bei­tung, die schon ein­ge­setzt hat­te, be­rück­sich­tigt er eben­falls nicht.

Zwar be­zeich­net Kraus­haar die Acht­und­sech­zi­ger­be­we­gung – Josch­ka Fi­scher zi­tie­rend – ei­ne »Frei­heits­re­vol­te«. Und in dem sie den Li­be­ra­lis­mus als heuch­le­risch de­nun­zier­te und li­ber­tär-an­ar­chi­sti­sche For­men aus­präg­te, scheint dies nicht ganz falsch. Je­doch war die Ver­wand­lung der an­ti­au­to­ri­tä­ren Strö­mun­gen der Acht­und­sech­zi­ger­be­we­gung in ein Bün­del ver­schie­de­ner Eman­zi­pa­ti­ons­be­we­gun­gen von ei­ner grund­sätz­li­chen Am­bi­va­lenz ge­zeich­net, die ih­re sub­jekt­ver­än­dern­den Er­run­gen­schaf­ten mit­un­ter wie­der ver­spiel­te.

Und wei­ter dann: Die Be­frei­ung von Herr­schaft ent­grenz­te sich zu­neh­mend und büss­te ihr Wo­zu ein. Da es den eman­zi­pa­to­ri­schen Ziel­set­zun­gen an ei­nem ge­sell­schafts­po­li­ti­schen Adres­sa­ten man­gel­te, ver­wan­del­ten sie sich mehr und mehr in rei­ne Wunsch­vor­stel­lun­gen und glit­ten so in in­tra­psy­chi­sche Be­dürf­nis­va­len­zen ab, die sek­ten­ar­ti­gen Psychogruppen…grossen Zu­lauf be­scher­ten. Der Glau­be, »das bür­ger­li­che Sub­jekt re­vo­lu­tio­nie­ren zu kön­nen«, oh­ne po­li­tisch Ein­fluss neh­men und zu­gleich die Ge­sell­schaft ver­än­dern zu müs­sen, führ­te zu ei­ner De­ge­ne­ra­ti­on des eman­zi­pa­to­ri­schen Auf­bruchs.

Als fast ein­zi­ge Aus­nah­me macht Kraus­haar die Frau­en­eman­zi­pa­ti­ons­be­we­gung aus, die dem un­ein­ge­stan­de­nen Pa­tri­ar­cha­lis­mus der männ­li­chen Acht­und­sech­zi­ger, wel­che die se­xu­el­le Be­frei­ung nur als Aus­wei­tung ih­rer pro­mis­kui­ti­ven Kampf­zo­ne de­fi­nie­ren woll­ten, schnell über­wan­den und sich er­folg­reich ge­gen al­le Strö­mun­gen in der Ge­sell­schaft in­sti­tu­tio­nell ver­an­ker­te.

Der viel­dis­ku­tier­ten Fa­ma des Ver­lu­stes der Se­kun­där­tu­gen­den durch die Acht­und­sech­zi­ger wird ei­ne Ver­än­de­rung bzw. Er­set­zung der so­zio­kul­tu­rel­len Wer­te von Pflicht, Treue, Eh­re, Ge­hor­sam, Va­ter­lands­lie­be hin zu Gleich­heit, Kol­lek­ti­vi­tät, Mit­be­stim­mung oder so­zia­le Ge­rech­tig­keit ge­gen­über ge­stellt.

»Acht­und­sech­zig – ei­ne Bi­lanz« kann als so­li­de Grund­la­ge für ei­ne ein­ge­hen­de und de­tail­lier­te Be­schäf­ti­gung mit der Ma­te­rie emp­foh­len wer­den, ist aber auch we­gen sei­ner klei­nen Ex­kur­se sehr le­sens­wert. Wun­der­bar bei­spiels­wei­se die klei­ne Kul­tur­ge­schich­te des evan­ge­li­schen Pfarr­hau­ses, je­ner »Ur­zel­le des Gei­stes­le­bens«, die Kraus­haar von der Ro­man­tik bis zur Neu­zeit mit ei­ner ge­hö­ri­gen Por­ti­on Iro­nie skiz­ziert. Und in der Mit­te gibt es dann noch vier­zig Ab­bil­dun­gen, die bei ei­ni­gen Zeit­ge­nos­sen viel­leicht dann doch weh­mü­ti­ge Er­in­ne­run­gen auf­kom­men las­sen.


Al­le kur­siv ge­druck­ten Pas­sa­gen sind Zi­ta­te aus dem be­spro­che­nen Buch.

9 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Zwei Fra­gen
    Was be­inhal­ten denn die vier­zig Ab­bil­dun­gen in der Mit­te des Bu­ches?

    Aus wel­chem Grund kom­men ge­ra­de jetzt so ge­häuft Re­fle­xio­nen über die 68er Zeit? Weil die da­mals Be­tei­lig­ten jetzt in ih­re Rent­ner­zeit kom­men oder weil ir­gend et­was in der heu­ti­gen Ge­sell­schaft es er­zwingt?

  2. Ant­wor­ten
    Was be­inhal­ten denn die vier­zig Ab­bil­dun­gen in der Mit­te des Bu­ches?
    Bil­der von Prot­ago­ni­sten (aus den USA, dann aus Deutsch­land), aus Fil­men (»Ea­sy Rider«),natürlich das Oh­nes­org-Bild, wie er von ei­ner Stu­den­tin um­sorgt wird (dann al­ler­dings spä­ter stirbt), Dutsch­ke, ein ver­zweifln­der Ha­ber­mas, ein paar Pla­ka­te der da­ma­li­gen Zeit, De­mo­bil­der und – das letz­te Bild – ein »Spiegel«-Titelbild von Baa­der.

    Aus wel­chem Grund kom­men ge­ra­de jetzt so ge­häuft Re­fle­xio­nen über die 68er Zeit?
    Hier gibt es m. E. zwei Grün­de. Er­stens ist das 40 Jah­re her (ob­wohl die 68er ei­gent­lich 67er hei­ssen müss­ten – sie­he Oh­nes­org). Zum an­de­ren – das spielt die fast noch wich­ti­ge­re Rol­le – weil all­ge­mein ver­mu­tet wird, die 68er tre­ten »po­li­tisch« ab. Im all­ge­mei­nen gilt das En­de von rot-grün als die­se Mar­kie­rung (ob­wohl bspw. Schrö­der nie ein 68er war).

    Da­mit hängt zu­sam­men, dass ei­ni­ge jetzt »ab­rech­nen« (ein biss­chen ist bei Aly der Fall, wäh­rend Kraus­haar sich seit Jah­ren da­mit be­schäf­tigt). Ich hat­te ei­gent­lich noch vor, Kai Diek­mann zu le­sen, aber das tue ich mir dann doch nicht an. Erst ein­mal bin ich für mich durch.

  3. Wie­der ein­mal be­feu­ert Ih­re Re­zen­si­on mei­ne Lust auf ein Buch und da un­se­re Kin­der näch­ste Wo­che hier an­kom­men, wer­den sie’s wohl mit­brin­gen. Ge­fühls­mä­ßig glau­be ich, Ih­rer Be­spre­chung fol­gend, dass Kraus­haars Be­schrei­bung der 68er mei­nem per­sön­li­chen Er­le­ben je­ner Zeit mehr ent­spricht, als die z.B. Dar­stel­lung Götz Alys, des­sen Buch Sie ja eben­falls vor­ge­stellt ha­ben. Es ist si­cher falsch, aber ich le­se halt lie­ber, wo­mit ich mich per­sön­lich iden­ti­fi­zie­ren kann. Ich bin ge­spannt.

  4. Aly hat ei­ne ganz an­de­re In­ten­ti­on als Kraus­haar, der auf dem Ge­biet der neue­ren deut­schen Zeit­ge­schich­te ei­ne Ka­pa­zi­tät ist. Alys Buch ist mehr oder we­ni­ger ei­ne Ab­rech­nung (auch mit sich selbst).

    Schön, dass Ih­nen mei­ne Be­spre­chung Le­se­lust be­rei­tet. Ihr Ur­teil nach der Lek­tü­re wür­de mich sehr in­ter­es­sie­ren.

  5. Fa­zit? Im­mer noch zu vie­le un­ter­schied­lich schil­lern­de Fa­cet­ten...
    Ha­be mir ge­ra­de – zu­fäl­lig auf Phoe­nix ge­fun­den – die “Aschaf­fen­bru­ger Ge­sprä­che” mit dem ZDF-Gui­do (Knopp) an­ge­tan.

    Nach mei­nem Ge­fühl ist es so, dass sich in den Ein­schät­zun­gen der üb­li­chen Ver­däch­ti­gen da ei­gent­lich nichts ver­än­dert hat, aber auch noch nicht so viel mehr deut­li­cher ge­wor­den ist, als mit den Jah­ren eh.

    Ich er­tapp­te mich da­bei, so­gar Schön­bohm zu­stim­men zu kön­nen in sei­ner Ir­ri­ta­ti­on, dass ’68 doch auch der Pra­ger So­zia­lis­mus nie­der­ge­walzt wur­de, und dass das nie­mand von den den an­de­ren (Dit­furth, Aly, Ba­ring, Strö­be­le) in sei­ner Ein­gangs-Selbst­ein­schät­zung auch nur ge­streift hat­te. (Ich war da­mals zu jung, Schü­ler, aber er­in­ne­re mich, dass mich DAS mehr em­pört hat­te, als et­wa die Knüp­pe­lei­en der Ber­li­ner Po­li­zei usw.)

    Ich kann nicht auf al­les ein­ge­hen, was mir beim Zu­hö­ren so in den Kopf kam, viel­leicht ist mir auch – über­ra­schend vie­les, aber das wie­der nur nach dem Ge­fühl – zu viel noch prä­sent.

    Ich fin­de Aly hat doch ei­ni­ges für sich, auch wenn sei­ne Ge­ne­ral­the­se über­spit­zend da­her kommt... wäh­rend die “ge­fe­stig­te­ren” Po­si­tio­nen teil­wei­se et­was kli­schee­haft und un­über­zeu­gen­der da­her­kom­men: Die Ge­schich­ten über die Ge­schich­te hat sich da teils zu sehr ver­fe­stigt.

    Mein Fa­zit wä­re (oh­ne Kraus­haar, au­ßer in ei­ni­gen sei­ner Auf­sät­ze nä­her zu ken­nen), dass es ein Fa­zit noch nicht gibt. Das al­les ist viel zu nah und hat den Dis­kurs bis heu­te zu le­ben­dig durch­drun­gen, als dass man es ab­schlie­ßend wür­di­gen könn­te. (Gut, will ja auch kei­ner... aber die Stim­men kom­men doch sehr ge­wich­tig da­her.)

  6. Die­se Dis­kus­si­ons­run­de
    hat­te ich auch we­ni­ge Mi­nu­ten an, aber als Frau Dit­furth (die ich schon im pu­bli­zi­sti­schen Nir­wa­na wähn­te – bis sie dann ih­re Ge­schichts­klit­te­run­gen zu Ul­ri­ke Mein­hof auf­nahm) dann los­leg­te, war mei­ne Schmerz­gren­ze er­reicht. Üb­ri­gens zu früh. Im Ver­gleich zur Dis­kus­si­on auf 3sat ge­stern um 21 Uhr (u. a. Aly, The­we­leit, Fran­zis­ka Aug­stein [die 1968 vier Jah­re alt war und aus­drück­lich sag­te, »kei­ne Er­in­ne­rung« an ’68 zu ha­ben – was sie nicht dar­an hin­der­te, Aly zu ver­rei­ssen]) war das wohl noch Gold. The­we­leit, der im be­sten Re­vo­luz­zer-Jar­gon Aly ver­such­te, nie­der­zu­re­den (die Mo­de­ra­to­rin war the­ma­tisch UND jour­na­li­stisch völ­lig über­for­dert), kann man sich heu­te noch als SDS-Funk­tio­när vor­stel­len. Wi­der­lich.

    Ver­mut­lich ha­ben Sie recht: Ei­ne ab­schlie­ssen­de Be­wer­tung oder Ana­ly­se (und sei sie nur »halb-ab­schlie­ssend«) ist kaum mög­lich und wohl auch nicht ge­wollt. Dies vor al­lem, weil die Prot­ago­ni­sten von da­mals noch zu sehr Mei­nungs­füh­rer sind – und be­fan­gen in ih­rer Sicht, die das Ur­teil heu­te noch trübt.

  7. Er­gän­zung
    Hier ei­ne bes­se­re, jour­na­li­sti­sche Zu­sam­men­fas­sung die­ses Ge­sprächs, dar­in doch ein paar »Po­si­tio­nen« deut­li­cher wer­den (auch wenn ich sie nicht wirk­lich er­heb­lich fin­de).

    Wich­ti­ger sind dann viel­leicht die at­mo­sphä­ri­schen An­mer­kun­gen? Auch die ha­ben mich ei­gent­lich nicht sehr be­ein­druckt... liegt viel­leicht doch an mir.

  8. Ich hat­te mich schon ge­wun­dert, weil Aly ge­stern so ru­hig wirk­te – ich hat­te ihn eher als ein biss­chen cho­le­risch in Er­in­ne­rung. Das Brül­len in der an­de­ren Dis­kus­si­ons­sen­dung hat­te ich nicht mit­be­kom­men...

  9. ein ueber­bleib­sel von 68
    A brief no­te on one of the left-overs of 68, the Ver­lag der Au­toren, whom I on­ce re­pre­sen­ted in this coun­try, the USA, for a few ye­ars. I hap­pen­ed to be around Suhr­kamp at the time that Carl Heinz Braun who led the Thea­ter Ver­lag, and so­me other edi­tors, ma­de them­sel­ves in­de­pen­dent wi­th a so­cia­li­sti­cal­ly and de­mo­cra­ti­cal­ly con­sti­tu­ted out­fit that is still around. I tried so­me­thing along the sa­me li­nes wi­th Uri­zen Books, but of the prin­ci­ples of that out­fit I was the on­ly one who re­al­ly wan­ted that; and the gre­at ma­jo­ri­ty of the aut­hors al­so did­n’t re­al­ly ca­re; they just wan­ted to get pu­blished. Un­seld was ra­ther cle­ver: he could have ma­de the break-out and foun­ding much mo­re dif­fi­cult – be­cau­se the aut­hors, af­ter all, had con­tracts wi­th Suhr­kamp, si­gned by him per­so­nal­ly. In­stead he of­fe­red VDA 100,000 DM to help them off the ground. I for­got whe­ther that was ac­cept­ed. so if the­re is a mo­ral he­re, it is that on­ce the fi­nan­cial he­art ticks, then a cer­tain amount of de­mo­cra­tic so­cia­li­stic non-aut­ho­ri­ta­ria­nism is quite pos­si­ble. Hand­ke, too, joi­n­ed VDA in­iti­al­ly but then left and joi­n­ed in the hip to Un­seld who would help make him the # 1 that he wan­ted to be. this did not go over very big wi­th Karl Heinz Braun, Handke’s own ex­pl­ana­ti­on to me that »die sind Fa­scis­ten« sound­ed to me li­ke an ad­mis­si­on of guilt for be­ing a faithl­ess ba­stard; on the other hand, we can­not re­al­ly know anything de­fi­ni­ti­ve un­til we know the the fi­nan­cial ar­ran­ge­ments bet­ween Suhr­kamp and Hand­ke and how the­se may have forced him , i.e. ad­van­ces on films, etc. Handke’s por­tra­y­al of Un­seld in LINKHAENDIGE FRAU & NIEMANDSBUCH is quite de­va­sta­ting!
    http://www.verlagderautoren.de/verlag/index.html