Xa­ver Bay­er: Poe­sie

Xaver Bayer: Poesie

Xa­ver Bay­er: Poe­sie

Das neue­ste Buch des öster­rei­chi­schen Schrift­stel­lers Xa­ver Bay­er trägt den simp­len Ti­tel Poe­sie. Auf noch nicht ein­mal 100 Sei­ten wer­den in Form ei­nes Lang­ge­dichts schier zahl­lo­se Sin­nes­ein­drücke auf­ge­fä­chert. Da­bei ist die Er­zähl­per­spek­ti­ve ist für die­se Form eher un­ge­wöhn­lich: Es gibt kei­nen di­rek­ten Ich‑, son­dern ei­nen »Man«-Erzähler, so als er­klä­re hier je­mand die Wahr­neh­mun­gen, Bil­der und Emp­fin­dun­gen ei­ner Fi­gur für die je­wei­li­gen Le­ser.

Al­les ist va­ge, nichts kon­kret. Der Ort ist ei­ne Stadt »de­ren Häu­ser­fas­sa­den tä­to­wiert sind«. Der Wind »streift« »ma­ro­die­rend durch den ver­las­se­nen Ba­sar«. Man sieht Ge­bäu­de, de­ren Bal­ko­ne »wie her­aus­ge­zo­ge­ne Schub­la­den« aus­schau­en. Men­schen sind ver­ein­zelt. Die Zeit könn­te in ei­ner na­hen Zu­kunft lie­gen. Die Na­tur steckt vol­ler Wild­wuchs. »Die Ufer­bö­schun­gen über­wu­chert von Am­bro­sia, Gold­ru­te und Spring­kraut. Der Wald zu­ge­wach­sen mit Knö­te­rich.«

Die In­ten­ti­on des Schau­en­den ist un­klar. Ne­ben den ein­pras­seln­den Ein­drücken stellt er sich bis­wei­len exi­sten­ti­el­le Fra­gen: »War das der Gip­fel des Le­bens, und läuft von nun an al­les wie­der zu­rück?« Sze­nen des Fla­nie­rens wech­seln mit Epi­so­den lan­ger, apa­thi­scher Auf­ent­hal­te in der Woh­nung ab, in de­nen »man« zu­neh­mend tag­träu­men­de, be­äng­sti­gen­de Bil­der ent­wickelt. »Auf der Flucht vor den Wör­tern eilt man durch die Woh­nung.« Ver­mut­lich han­delt es sich um ei­nen Be­woh­ner ei­nes Hau­ses, wel­ches ab­ge­ris­sen wer­den soll. Hier­für spre­chen die Bau­ar­bei­ten um ihn her­um. »Vie­ler­orts ist der Stuck an den Fas­sa­den auf­ge­bis­sen und of­fen­bart sein In­ne­res: Sty­ro­por.«

So man­cher Blick könn­te aus dem No­tiz­buch Pe­ter Hand­kes stam­men. »Die Schat­ten zwei­er ein­an­der um­krei­sen­der Flie­gen auf der ver­wit­ter­ten Scheu­nen­wand: die fäl­schungs­si­che­re Un­ter­schrift des Seins« et­wa. Ein an­der­mal ent­deckt er ei­ne »Flie­ge, die über den Tisch irrt, als such­te sie ver­zwei­felt et­was Ver­lo­ren­ge­gan­ge­nes« oder auch »Spin­nen, in ih­ren Net­zen zwi­schen den Zwei­gen«, die »in der Mor­gen­son­ne« leuch­ten. Bei ei­nem sei­ner Gän­ge ent­deckt er am »Wald­bo­den ei­ne ver­trock­ne­te Schlan­gen­haut, ein röt­li­cher Pilz, ei­ne Ton­scher­be«. (Er­in­ne­rung an Gre­gor Keu­sch­nigs An­sicht der drei Din­ge im Sand aus der Stun­de der wah­ren Emp­fin­dung).

Fort­lau­fend wer­den Bil­der fast aus­ge­spuckt; Bil­der, die nor­ma­ler­wei­se flüch­tig sind, aber nun, im Auf­schrei­ben, für die Ewig­keit fest­ge­hal­ten wer­den: »An der Bus­hal­te­stel­le steht ein Ver­rück­ter und schreit, // die an­de­ren War­ten­den, im Si­cher­heits­ab­stand, in ih­re Bild­schir­me ver­tieft. // Als der Bus kommt, steigt der Ver­rück­te nicht ein, hört aber auf zu schrei­en.« Müh­sam der Ver­such, die Gleich­zei­tig­keit un­ter­schied­li­cher Be­ge­ben­hei­ten zu er­fas­sen: »Ein ver­trock­ne­tes Lin­den­blü­ten­blatt mit drei Sa­men­kü­gel­chen fällt, sich dre­hend, vom Baum. // Ei­ne Frau geht in klei­nen Schrit­ten am Brun­nen vor­bei. // Die Krä­he bleibt sit­zen.«

Xaver Bayer: Wenn die Kinder Steine ins Wasser werfen

Xa­ver Bay­er: Wenn die
Kin­der Stei­ne ins Was­ser wer­fen

Bei der Lek­tü­re von Poe­sie er­in­nert man rasch ein an­de­res Xa­ver-Bay­er-Buch. Es ist von 2011 und heißt Wenn die Kin­der Stei­ne ins Was­ser wer­fen. Hier er­lebt man ei­nen Ich-Er­zäh­ler (Fo­to­graf und Schrift­stel­ler) wäh­rend sei­nes mehr­stün­di­gen Auf­ent­halts im Flug­ha­fen Brüs­sel. Er war­tet als Tran­sit­pas­sa­gier auf ei­nen Wei­ter­flug, fla­niert durch Du­ty-free-Lä­den und be­sucht die di­ver­sen re­li­giö­sen Ka­pel­len und Be­träu­me. Auch hier ist die Form be­mer­kens­wert: Die 118 Sei­ten des Bu­ches be­stehen aus ei­nem ein­zi­gen Satz.

Beim Über­brücken der Zeit bis zum Ab­flug wer­den die Ge­dan­ken und Re­fle­xio­nen über das Ge­se­he­ne und den Ver­su­chen, Din­ge und Er­eig­nis­se fo­to­gra­fisch fest­zu­hal­ten, im­mer mehr zu ei­nem »As­so­zia­ti­ons­bom­bar­de­ment«, wel­ches am En­de sei­ne Kon­trol­le über den Vor­gang des Wei­ter­flugs aus­setzt.

Man könn­te mit Bay­ers Ein-Satz-Buch Wenn die Kin­der Stei­ne ins Was­ser wer­fen das rhyth­mi­sche Lang­ge­dicht Poe­sie be­schrei­ben – und um­ge­kehrt. Trotz for­ma­ler Un­ter­schie­de er­gän­zen sie sich, ge­hö­ren zu­sam­men, schei­nen bis­wei­len mit­ein­an­der zu in­ter­agie­ren, Da ist von der Be­reit­wil­lig­keit die Re­de, sich von »be­geg­nen­den Zei­chen be­ein­flus­sen zu las­sen«. Zu­gleich muss stets ein Aus­kom­men mit der »Mas­se ein Ein­drücken« ge­sucht wer­den, um ei­ner nicht in ei­ne Über­for­de­rung, in den Wahn­sinn zu stür­zen. Bei­de Prot­ago­ni­sten ha­ben die »Be­ga­bung«, »vor al­lem Häß­lich­kei­ten und Wid­rig­kei­ten im All­tag zu re­gi­strie­ren«. Sie flie­gen ih­nen förm­lich zu. Stän­dig die Ge­fahr, dass das »Schau­en kein Schau­en« mehr ist, son­dern all­zu schnell die »Na­gel­pro­be der Wirk­lich­keit« droht, wel­che »die Phan­ta­sie zur Ba­na­li­tät, zur Des­il­lu­si­on ver­dich­tet«. Da­her wird die Spi­ra­le der As­so­zia­ti­ons­ket­te im­mer schnel­ler ge­dreht. Auch das Fo­to­gra­fie­ren bringt nicht den ge­wünsch­ten Ef­fekt der Dau­er. Ein­mal heißt es ver­schwö­re­risch: »In dem Mo­ment, da man auf den Aus­lö­ser drückt, wird al­les ver­schwin­den, ein­ver­stan­den?« Der Ich-Er­zäh­ler am Brüs­se­ler Flug­ha­fen spricht von ei­ner »Un­ge­dulds­zen­tri­fu­ge«, be­ginnt zu flu­chen, ent­wickelt ei­ne un­be­frie­di­gen­de »Sehn­sucht nach der Sehn­sucht«. Pas­send da­zu in Poe­sie: »die Sehn­sucht, die man ver­spürt, ist die nach Sehn­sucht.«

Xa­ver Bay­er ist un­ter den zeit­ge­nös­si­schen Schrift­stel­lern sei­ner Ge­ne­ra­ti­on ein So­li­tär, je­mand, der trotz des öster­rei­chi­schen Buch­prei­ses 2020 für Ge­schich­ten mit Ma­ri­an­ne eher »ne­ben­drau­ßen« steht. Wer bei ihm ei­nen Plot sucht, wird schei­tern. Hier muss der Le­ser den Be­wusst­seins­strom zu­las­sen, Sich-Ein­las­sen auch auf die je­wei­li­ge Form.

Wäh­rend der Lek­tü­re die­ser be­le­bend-gran­dio­sen Poe­sie-Er­zäh­lung wird je­der ei­ne an­de­re Land­schaft, ei­ne an­de­re Woh­nung, ein an­de­res Haus vor sei­nem in­ne­ren Au­ge ha­ben. »Al­so macht man sich wie­der auf den Weg, // schul­tert das Ge­päck, den Ruck­sack voll Salz«, lau­tet der letz­te Satz. Beim Zu­klap­pen des Bu­ches be­ginnt die ei­ge­ne Ma­schi­ne zu lau­fen. Und man sucht schon mal sei­nen Ruck­sack.