Es war ein lauer Sommerabend 1998. Die Plakate hatte ich schon vorher gesehen. Wir schlenderten am Rhein entlang und plötzlich kam uns die Idee, die Rheinterrassen zu besuchen. Joschka Fischer hielt dort eine Wahlkampfrede. Es begann mit dem Kabarettist Volker Pispers, der einige Witzchen über Kohl und dessen (maroder) Regierung machte. Wir sehnten die Zeit herbei, dass solche Witze nicht mehr gemacht werden konnten.
Dann kam er. Hager, mönchisch, fast ein bisschen kränklich sah er aus. Er soll sogar, flüsterte man sich zu, vorher noch am Rhein gejoggt haben. 9/11 war noch sehr weit weg und ausserhalb unserer Vorstellungen. Die Stimme halbwegs fest; der Wahlkampf, »Ihr versteht«. Wenige Wochen danach erkennen wir Fischer beim Antrittsbesuch in Washington im Fernsehen kaum wieder – in edlem Zwirn, die Körpersprache fast unterwürfig, gar ängstlich; wie ein Gymnasiast, der guten Eindruck bei dem reichen Onkel machen möchte. Hundert Jahre später oder: Wie schnell geht das?
Joschka Fischer, der konsequent von der FAZ immer Josef Fischer genannt wurde, besass damals, im Wahlkampf, der Zeit der politischen Hoffnungen und Sehnsüchte, eine fast messianische Strahlkraft. Dazu passte sein immer wiederkehrendes »Ich sage Euch...«.
Hierzu muss man sich in die Zeit zurückversetzen: Die SPD galt als marode. Lafontaine hatte gegen Scharping als Parteivorsitzender geputscht und endlich waren die Mitglieder bereit, Gerhard Schröder als Kanzlerkandidat auszuloben. Der wahre Oppositonsführer im Bundestag hiess Joschka Fischer; seine geschliffenen Reden wurden legendär. Die Legislaturperiode 94–98 von Helmut Kohl galt als lähmend; das letzte Aufbäumen (eine Steuerreform) wurde dann vor der Wahl listig(?) von Lafontaine im Bundesrat blockiert.
Fischer gab sich damals kämpferisch, entwarf eine Reformpolitik, obwohl schon damals das »rot-grüne Projekt« als solches zu benennen vermieden wurde. Ich bin nicht sicher, ob er es in dieser Form einmal beschworen hat; ich vermute nicht. Aber Fischers Rede liess keinen Zweifel an einem Willen, die Gesellschaft der Bundesrepublik umzubauen, gerechter zu machen; Aussenpolitik mit Menschenrechtsaspekten. Globalisierung galt damals nicht als Bedrohung, sondern – in Anbetracht des sich am Horizont abzeichnenden Börsenbooms – als Möglichkeit.
Fischer galt damals bei vielen als eine Art »grüner Willy Brandt«. »Mehr Demokratie wagen« postulierte Brandt 1969 in seiner Regierungserklärung. Innenpolitisch desillusionierte sich dieser Ansatz sehr schnell: Die RAF, die unsäglichen Denunziationen Brandts und seiner Politik durch weite Teile der CDU/CSU, die unverschämten Forderungen der ÖTV-Gewerkschaft.
Die Desillusionierung der dann neuen Regierung: Lafontaines Rücktritt. Und vorher – und nachher: Jugoslawien. Vorher: Bosnien-Einsatz (der Bundestag stimmt in der alten Besetzung noch dafür) – nachher: Deutschland tritt in einen Krieg ein, einen völkerrechtswidrigen Krieg. Die Grünen und Fischer verlieren nicht nur ihre Unschuld, sondern verkaufen sich. Der Farbbeutel, der Fischer auf dem ausserordentlichen Parteitag der Grünen traf, war auch ein bisschen mein Farbbeutel.
Das sei kein Mittel der politischen Auseinandersetzung, hörte man. Nein? Aber das, was Fischer zusammen mit dem lügnerischen Scharping machte – das war ein Mittel der politischen Auseinandersetzung? Oder musste man, wie Brandt damals innenpolitisch mit dem Radikalenerlass, jetzt aussenpolitisch Bündnistreue beweisen, in dem man blindlings den Amerikanern folgte?
Erneuerung vor Erweiterung – so Fischers Diktum zur EU. Erst müsse man den Koloss im Inneren erneuen, dann erst könne man neue Länder aufnehmen. Auch das hielt er nicht ein. Auch hier: Die normative Kraft des Faktischen – die Verträge, weit vor seiner Zeit abgeschlossen – holte ihn ein. Man hatte Fischer gewählt und Schröder bekommen. Ein grünes Einstecktüchlein am Anzug – mehr nicht.
Merkwürdig, dass Fischer jahrelang der beliebteste deutsche Politiker war. Vermutlich deshalb, weil er sich in die Niederungen der Steuer‑, Wirtschafts‑, Gesundheitspolitik nie begeben hat – ausser in Wahlkampfreden, aber da durfte man wieder ein bisschen grün sein. Seine aussenpolitische Wirkungslosigkeit, seine stumpfe Realpolitik – es war so wie immer, und das mochte man. »Kontinuität« hiess es. Nur nichts verändern. Das gilt als Tugend. Man hätte sich keinen besseren hierfür aussuchen können als Joschka Fischer. Später forderte Schröder einen ständigen Sitz Deutschlands im Weltsicherheitsrat. Wir haben nie richtig erfahren, was Fischer dazu dachte.
Überhaupt: Der entscheidende aussenpolitische Schritt wurde von Schröder gemacht – Nein zum Irakkrieg. Die Grünen saugten im Wahlkampf 2002 ein bisschen Nektar aus der Angst einiger Wähler, Schröder könne nach der Wahl umfallen. Und Ströbele, der ungeliebte Fischer-Antipode, errang ein Direktmandat. Das sicherte Rot-Grün die hauchdünne Mehrheit.
Physisch war aus dem mönchischen längst ein übergewichtiger Fischer geworden. Wie in Herlinde Koelbls Film »Spuren der Macht« schon einmal – 1999 – zu sehen war. Fischer sprach damals von privaten Problemen und das er abnehmen müsse. Jetzt war er längst ein Objekt der Yellow Press geworden. Wen er wann wo heiratete war interessant. Nicht mehr, was er zur Nahostsituation meinte.
Heute nun verabschiedet sich Joschka Fischer und legt sein Bundestagsmandat nieder. Ich vermisse ihn schon seit Jahren.