Nach rund 16 Jahren ist der neue Antipode des Westens endgültig gefunden: es ist der Islam. Respektive das, was wir dafür halten.
Mehr als 40 Jahre lebten die Europäer in einem bipolaren Denken, NATO oder Warschauer Pakt – verdichtet im dämlichen deutschen Wahlkampfslogan von 1976: Freiheit oder Sozialismus.
Annäherung
Insbesondere in den ersten Wahlkämpfen der jungen Bundesrepublik verstand es Konrad Adenauer perfekt, die durch jahrelange, rassistische Nazipropaganda eingetrichterten antisowjetischen Ressentiments in der Bevölkerung neu zu wecken, indem er die SPD mit dem Kommunismus in ideologische Nähe brachte. Bekannt ist sein flammender Appell anlässlich der Wiederbewaffnungsdebatte 1953 als er suggerierte, nur eine neu erstarkte deutsche Armee könne vor der Bedrohung durch „Sowjetrussland“ schützen. Die wahren Gründe verschwieg der Alte.
Erst mit der sozial-liberalen Koalition in Deutschland und deren neuer Ostpolitik („Wandel durch Annäherung“) bekam der „Kommunist“ wieder Kontur. Ein schmalziges Lied drückte Anfang der 80er Jahre die Verwunderung vieler aus: „Der Mann aus Russland...konnte lachen, konnte weinen...“. Da lebten ja tatsächlich Menschen! Die letzte Erinnerung an sowjetischer Politik bei der Bevölkerung in Westeuropa verknüpfte man hauptsächlich an den mit den Schuhen auf dem Tisch trommelnden Chrustschow in den Vereinten Nationen. Und bei James Bond taugten die russischen Agentinnen allenfalls nur kurzfristigen Befriedigung des Helden.
Kein Zweifel: Die Annäherung war keine Einbahnstrasse. Zwar kam der Angriff in Planspielen bei der Bundeswehr weiterhin immer aus dem Osten (aber es war ja nur eine Übung, bitteschön) und der Weltfrieden wurde immer von dem anderen bedroht. Und man konnte zu Weihnachten die Päckchen schicken. So sah man sich doch gerne: In der Rolle des grosszügigen Spenders; die Türe blieb zu (Gott sei Dank).
Dennoch nahm auch allgemein die Tolerenz gegenüber kommunistischen Regimen zu. Der Warschauer Pakt wurde ein stückweit als Feindbild „entzaubert“. Der „eiserne Vorhang“ rostete und wurde poröser.
In diesen Zeiten das Wort Wiedervereinigung nur in den Mund zu nehmen, galt schon als „rechts“; als eine Bedrohung für den Weltfrieden. Man hatte sich mehr oder weniger mit den Verhältnissen arrangiert. Die Kriege um das jeweils dominierende System wurden weitgehend ausserhalb der Wahrnehmung geführt – in Afrika, Mittel- und Südamerika; selbst Kriege und Konflikte im Nahen und Mittleren Osten – immer wieder aufflammend oder drohend – liessen uns höchstens um das Öl und den Sonntagsausflug bangen.
Als Anfang der 80er Jahre der Westen eine Doppelstrategie verfolgte, die u. a. vorsah, dass Deutschland im Falle eines Krieges zum nuklearen Schlachtfeld geworden wäre, begriffen die meisten Politiker nicht, dass viele Bürger plötzlich die eigene Militärmacht als bedrohlicher empfanden, als die des potentiellen Gegners.
Der Pyrrhussieg
Umso überraschender kam der politische und ökonomische Zusammenbruch der sich sozialistisch nennenden Staaten 1989/90. Natürlich wurde er politisch durch Gorbatschows unstrukturierte Politik, die eine weitgehend friedliche Transformation möglich machte, befördert, obwohl das Resultat nicht das war, was er anstrebte; wenige Jahre später war Gorbatschow bereits selber Geschichte.
Gewissermassen haben Kohl und Teltschik Deutschland 1990 mit dem Scheckbuch wiedervereinigt. Die Zugeständnisse, die man machte, waren fast alle ökonomischer Art; die Akzeptanz der Oder-Neisse-Linie als endgültige Ostgrenze Deutschlands stellte nur für ultrarechte Vertriebenenverbände ein Problem dar. Im Gegenzug erhielt man eine Art Friedensvertrag und die volle Souveränität.
Die Versuchung, den Kapitalismus (oder, wie es euphemistisch genannt wird, die Marktwirtschaft) als „Sieger“ im jahrzehntelangen Kalten Krieg zu feiern, war gross. Die Väter waren auch auf einmal zahlreich. Rechte Historiker sahen in Adenauers Standhaftigkeit und Einordnung in einer Westbindung den entscheidenden Schritt, der sich nun, nach 40 Jahren, ausgezahlt habe. Andere glaubten, mit dem NATO-Doppelbeschluss Anfang der 80er Jahre das östliche Militärbündnis „totgerüstet“ zu haben. Und endlich wurde auch die Ostpolitik von Willy Brandt und Egon Bahr Anfang der 70er Jahre als Anfang vom Ende des real existierenden Sozialismus gesehen.
Übergangszeit
Die Epoche, die nun begann, wurde entweder als Beginn einer Art dauerhaften Friedens gesehen (Francis Fukuyama – »Das Ende der Geschichte«) oder von düsteren Erahnungen sich neu konstituierender globaler, ethnischer oder religiöser Konflikte begleitet (Samuel Huntington – »Der Kampf der Kulturen«).
Der eher konservative Huntington sah vor allem die islamische Welt und China als einen neuen Kontrapunkt zu unserer Wertegemeinschaft. Den 2. Golfkrieg1990 sah er als Kennzeichen eines Krieges in einem Epochenübergang.
Der irakische Diktator Saddam Hussein (jahrelang ein USA-Verbündeter im Krieg gegen den Iran, der 1988 nach endlos zähem Kampf und über 1 Mio. Toten von beiden Seiten erschöpft und ausgelaugt beendet wurde) überfiel das kleine Emirat Kuwait, um es in sein Staatsgebiet zu integrieren. Mit den zusätzlichen Öleinnahmen hätte sich der Irak wieder schnell erholt und wäre eine Regionalgrossmacht geworden. Die Gründe wurden mit alten Besitzansprüchen aus der Kolonialzeit maskiert.
In einem einzigartigen Propagandafeldzug (reich untermalt mit Lügen) verstand es der damalige US-Präsident Bush sr. eine fast globale Koalition zusammen zu stellen, die über die Vereinten Nationen Druck auf den Irak ausüben sollte und den Krieg als Ultima ratio vorsah. Selbst Staaten wie Syrien und Saudi-Arabien gehörten dieser Koalition an.
Als das Ultimatum an Saddam Hussein ablief, begann unter dem Kommando der USA der Krieg – sowohl Bombardements als auch Bodentruppen. Innerhalb weniger Wochen war das nepotistische Regime in Kuwait wieder eingerichtet; einen Feldzug gen Bagdad, d. h. den Sturz Saddam Husseins, unterliess man. Bush wollte sich an die Resolutionen der UNO halten, schon um seine Koalition nicht platzen zu sehen. Ausserdem befürchtete man, dass das fragile Staatsgebilde Irak durch ein plötzliches Machtvakuum auseinanderfallen und in einen langen Bürgerkrieg stürzen würde (wie Jahre zuvor der Libanon) – mit vielleicht fatalen Entwicklungen auf die Ölförderung.
Der Krieg hatte eine vom Westen gar nicht wahrgenommene Wirkung: Die Stationierung amerikanischer Truppen in Saudi Arabien – dem Land, in dem die wichtigsten Pilgerstätten des Islam sind, dem „heiligen Land“ – war für konservative Muslime (fälschlicherweise als „Fundamentalisten“ bezeichnet) ein Frevel – eine Beleidigung. Zumal die Truppen aus strategischen Gründen dort bleiben sollten, wenn auch reduziert.
In einer verstärkt globalisierten Welt, d. h. simultan und zeitnah wahrgenommener Interaktionen, prallen kulturelle Differenzen direkt aufeinander. Das ist per se nicht schlimm. In dem Moment jedoch, in dem eine Seite eine Hegemonie, also eine Übernahme der eigenen kulturellen und gesellschaftlichen Lebensmodelle durch den anderen beansprucht, und ihm diese Wertvorstellungen sogar aufzwingen möchte, wird der Konflikt selber identitätsstiftend und bekommt eine Dynamik, die sich oft genug vom eigentlichen Gegenstand entfernt (man könnte es mit der Michael Kohlhaas-Geschichte von Kleist vergleichen).
Nach 1990 wurden zunächst die osteuropäischen Staaten (besonders schmerzhaft in Jugoslawien, in dem insbesondere auch Deutschland dort sezessionistische Kräfte unterstützte) mit dem marktwirtschaftlichen System konfrontiert und dies praktisch widerstandslos dort implementiert. Die Ergebnisse vor Ort sind jedoch für viele Gesellschaftsschichten inzwischen ernüchternd.
China
In der Volksrepublik China wurde 1988 die politische Demokratiebewegung brutal zerschlagen. Wirtschaftlich praktizierte man in Sonderwirtschaftszonen bereits länger den puren Kapitalismus; dies wurde sukzessive ausgebaut. Heute kann China als kapitalistischer Staat gelten, der politisch nach wie vor das Ideal des Kommunismus verfechtet; in Wahrheit handelt es sich jedoch um eine Funktionärsdiktatur.
Freilich überlagern die ökonomischen Interessen auch hier die Politik. Eine in den 90er Jahren durch den Westen initiierte Wertediskussion wird nicht mehr weitergeführt; die Chinesen bestanden darauf, ihre Vorstellungen nicht zu Gunsten westlicher Werte (Demokratie, Menschenrechte) aufzugeben, in dem sie schlichtweg den universalen Anspruch der westlichen Werte in Abrede stellten. Aufgrund der sehr grossen ökonomischen Potenz Chinas wurde dies weitgehend akzeptiert; kein Staatsmann würde heute ernsthaft auf die Idee kommen, zur Durchsetzung demokratischer Wahlen in China einen Wirtschaftsboykott auszurufen. Längst ist China derartig stark in die Weltökonomie eingebunden, dass man eher die Stabilität des Regimes wünscht.
Der einzige Grund, warum China derzeit noch nicht als Weltmacht neben den USA erscheint, liegt in seiner fatalen Abhängigkeit von Energieressourcen, die importiert werden müssen. Die Volkswirtschaft Chinas ist bereits jetzt der zweitgrösste Energienachfrager der Welt (hinter den USA). Im Gegensatz zu den USA, die ihre Energieversorgung mittelfristig in einer Art Kolonialpolitik im Kaukasus und Nahen Osten absichern wollen, fehlt China weitestgehend der politische Druck, den sie auf ihre Rohstofflieferanten ausüben können.
Weltmacht USA
Diesen Zustand so lange wie möglich zu erhalten, ist das Ziel der Bush-Administration. Inzwischen weiss jedes Kind, dass die meisten Staaten, die grössere Erdöl- oder Erdgasvorkommen haben, Diktaturen oder politisch sehr fragile (und auch fragwürdige) Gebilde sind.
Es gibt nun immer zwei Möglichkeiten: Der jeweilige Machthaber ermöglicht dem Westen auf kapitalistische Art die Förderung der Rohstoffe – alle verdienen dabei viel Geld und die Familie des Diktators auch – dann wird dieser Staat wohlwollend betrachtet (Beispiele sind Saudi-Arabien, Kuwait, die Vereinigten Emirate, Usbekistan, Aserbeidschan; Äquatorial Guinea). In diesen Fällen spielen dann überraschenderweise die Menschenrechtsverhältnisse keine Rolle. Der Drang nach Demokratisierung endet für den Westen meistens dort, wo es im Zentrum des Spiels ein paar Fässchen Öl gibt.
Oder die Länder treten selbstbewusst auf, streben gar die Verstaatlichung der Ölausbeutung an – dann werden die jeweiligen Regierungen mit allen Mitteln bekämpft (Beispiel hier Venezuela; das sich nicht viel geändert hat in den letzten 50 Jahren zeigt das Beispiel Mossadeghs).
Die dritte Alternative besteht in der Kolonialisierung der entsprechenden Länder – das aktuelle Beispiel ist natürlich der Irak.
Die Herausforderung
Neben dem seit 2000 wieder eskalierenden Israel-Palästina-Konflikt sorgten die Terroranschläge des 11. September 2001 für den Ausbruch eines grundlegenden, unterschwellig lange schwelenden Konflikts: Unbedachte Äusserungen der Bush-Administration, die vom „Kreuzzug gegen den Terror“ sprachen und eindeutig religiös-weltanschauliche Konnotationen ausdrückten, schürten in der islamischen Welt antiamerikanische und anti-westliche Stimmungen. Zwar war die gewaltsame Entfernung der Taliban-Regierung in Afghanistan nebst anschliessender Kolonialisierung noch weitgehend mit stillschweigender Duldung der muslimischen Massen aufgenommen worden, aber die seit Mitte 2002 zielgerichtet anlaufende Propaganda wider den Irak des Saddam Hussein konnte durch den pan-arabischen Fernsehsender Al-Dschasira auch von radikal-islamischen Kreisen instrumentalisiert werden.
Längst waren Osama bin-Laden und andere Al-Qaida-„Funktionäre“ zu Volkshelden der Massen aufgestiegen. Bin Laden, der als Instrument des Kalten Krieges dem Westen lange genug diente, ging nun mit der gleichen Vehemenz, mit dem er den Kommunismus der Sowjets in Afghanistan bekämpft hatte, an die Bekämpfung des Hegemons USA und der „Marionetten“ in Europa.
Nahrung bekommt diese Haltung auch durch zwiespältige Vermittlungsbemühungen des Westens im israelisch-palästinensischen Konflikt. Die USA und andere westliche Staaten können nur sehr schwierig den neutralen Vermittler spielen, wenn sie gleichzeitig beispielsweise in den Vereinten Nationen mehrfach einseitig Partei für Israel einnehmen – so die Wahrnehmung in der nahöstlichen Welt, die nach dem bellizistischen Durchsetzen der UN-Resolutionen gegen den Irak ein ähnliches Engagement hinsichtlich der Umsetzung der Resolutionen gegen Israel anmahnte.
Über den fatalen Eindruck, was die Glaubwürdigkeit des Westens angeht, braucht man nach dem Irakkrieg 2002 und den damit verbundenen Ereignissen (Guantánamo; Folterungen irakischer Gefangener; nachträglich sich herausstellende eindeutige Lügen, die zur Legitimation des Krieges dienten) sicherlich nicht weiter eingehen.
Verstörungen
Der neue Feind ist also gefunden: Der islamische Fundamentalist („Komparativ“: islamistische Fundamentalist). So bezeichnen wir Menschen, die den Koran, das Wort Gottes, nicht nur für einen religiösen Text, sondern auch für einen allumfassenden Handlungskanon halten, ihn entsprechend interpretieren (wobei es – im Gegensatz beispielsweise zum christlichen Glauben – keine institutionalisierte Deutungshoheit gibt), und, das ist wichtig, Menschen, die diesen Glauben nicht besitzen, diffamieren und sogar unter Umständen bekämpfen.
Die Verstörung, die uns in den immer gleichen Bildern betender Muslime beschleicht, resultiert einerseits aus einer diffusen Angst vor dem Unbekannten, andererseits aus einer uns unbekannten Gläubigkeit, deren Quell für uns nicht nachvollziehbar ist.
Wir sind Verfechter eines säkularen Kanons, dessen Speerspitze wir Demokratie und Menschenrechte nennen und der uns selbstverständlich geworden ist – teilweise schon bis zum Überdruss. Das Dilemma liegt allerdings darin, dass wir unseren Kanon zwar exportieren wollen (weil wir uns ökonomisch neue Märkte erschliessen möchten), die Konsequenzen jedoch nicht bereit sind, zu tragen.
Wahlergebnisse, die nicht unserem Gusto entsprechen, werden sabotiert. Der erste Sündenfall in dieser Hinsicht war Algerien 1991, als die als radikal eingestufte „FIS“ die Wahlen gewann und die EU (unter der Führung der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich) einen Militärputsch initiierte bzw. gestattete, um ein islamisch orientiertes „Abdriften“ des Landes zu verhindern. Das Ergebnis war ein Bürgerkrieg, der vorsichtigen Schätzungen nach rund 100.000 Menschen das Leben gekostet hat. Später entrüsten sich die Brandstifter in gut inszenierten Medienkampagnen, als hätten sie von nichts gewusst. Noch gut entsinne ich mich der alltäglichen Berichterstattung, in der stets „Islamisten“ für die grössten Massaker verantwortlich gemacht wurden; später wurde publik, dass es oftmals Gemetzel der Gegenseite waren.
Das Wahlergebnis im Iran oder in den palästinensischen Gebieten gefällt uns auch nicht. In seltsamer Arroganz negieren wir auch Vermittlungsbemühungen beispielsweise Russlands oder der Türkei. Man stelle sich nur vor, George W. Bush hätte 2002 die Wiederwahl von Gerhard Schröder nicht akzeptiert und in aller Öffentlichkeit vorgeschlagen, Neuwahlen auszuschreiben.
Es wird immer von dem Unterlegenheitsgefühl der arabischen Welt (und Massen) geredet. Dies ist sicherlich richtig. Aber der Grund, warum wir statt uns wie Kolonialmächte aufzuspielen, keine Koexistenz suchen, sondern nur politische, gesellschaftliche (und auch teilweise) religiöse Deutungsmacht beanspruchen (warum sollte ein Staatswesen Religion und Politik eigentlich gemäss unserem Muster trennen?), liegt auf der Hand: Die islamischen Staaten, insbesondere diejenigen, in der der Koran eine hohe (auch juristische) Macht ausübt, konfrontiert uns mit einer transzendenten Demut, die uns spätestens seit der Aufklärung verloren gegangen ist.
Diese Inbrunst, die das Gegenteil dessen darstellt, wie wir Kultur und Leben nach 1648 begreifen, verstehen wir nicht. Sie findet ihren perversen Ausdruck im Selbstmordattentäter, der das, was uns als das höchste Gut gilt, opfert um einer Sache willen und dafür mit dem „himmlischen Lohn“, einem Heilsversprechen auf die Zukunft, zufrieden ist. Parallel hierzu stellen wir fest, dass unser gesamter Sanktionsapparat versagt; die Bilder lachender Terroristen, denen vor Gericht die Todesstrafe droht, dürften in guter Erinnerung sein.
Nicht, dass es ein Missverständnis gibt: Das ist kein Plädoyer für eine „neue Religiosität“. Unsere europäische Kultur kennt das schon. Aber das inzwischen weitgehende Verschwinden religiöser Bezüge in unserer Gesellschaft lässt auch so etwas wie Empathie anderen Handlungsmaximen gegenüber erst gar nicht aufkommen. Religiosität wird als befremdlich aufgefasst; Agnostiker zu sein, ist intellektuell chic.
Die Früchte des Kapitalismus schmecken nicht mehr allen
In den USA wird unterdessen ebenfalls eine neue Inbrunst herausgebildet; die Evangelikalen beginnen, eine Art Gegenkultur zu errichten. Ihr prominentester Vertreter ist der amerikanische Präsident. Sie sind schon recht weit gekommen; die Evolutionstheorie – Gipfelpunkt säkularer Wissenschaftlichkeit – greifen sie bereits an. Die Regression ist in den USA in vollem Gang. Nur eine Frage der Zeit, wann die Welle nach Europa schwappt, denn dauerhaft befriedigen die (inzwischen auch weiten Teilen der Gesellschaft verschlossenen) Früchte des Kapitalismus die Menschen nicht mehr.
Der Streit um die Rezeption der sogenannten Mohammed-Karikaturen dokumentiert die Sprach- und Kommunikationslosigkeit der sich unversöhnlich gegenüberstehenden Protagonisten. Hier wird Presse- und Meinungsfreiheit mit der Beleidigung religiöser Symbole verwechselt und masslos Öl ins Feuer geschüttet, aber dort wird urplötzlich auf die Universalität islamischer Symbole und deren Unantastbarkeit rekurriert – ein schwerer Irrtum. Beiden fehlt nicht nur Verständnis füreinander, sondern zusehends Bereitschaft an einem Dialog auf gleicher Augenhöhe.
Denn wenn Pakistan, ein fragiles, diktatorisch regiertes Land, durch die augenblickliche Nähe zu den USA fast problemlos als Atommacht anerkannt wird (niemand fragt mehr, wie man die Bombe bekommen hat), der unsägliche iranische Präsident jedoch mit allen „Optionen“ an einer atomaren Bewaffnung gehindert werden soll (seine Zustimmung in der Bevölkerung steht in direktem Verhältnis zum Sanktionierungsgerede westlicher Politiker), so ist dies nicht nur töricht, sondern auch unglaubwürdig. Die pakistanische Atombombe kann bei einem Regimewechsel katastrophale Folgen für die Region haben. In der islamischen Welt ist die atomare Bewaffnung in Hinblick auf die israelischen Atombomben nur eine Wiederherstellung des Gleichgewichts. Warum uns dies stört, ist dort unbegreiflich.
Europa sitzt derzeit zwischen den Stühlen. Die Hinwendung zu ultra-orthodoxen religiösen Werten aus den USA lehnt man genau so ab wie die Kanonisierung des Koran für die hier lebenden Muslime. Die säkular sich gebenden Gesellschaften Europas geraten in eine Sinnkrise. Ihr Rückzug in die ökonomische Potenz (wie in der Vergangenheit) ist ihnen verstellt; Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit breiter Schichten nimmt zu.
Die Angelegenheit ist ernster als während des Kalten Krieges. Bei aller weltanschaulichen Verblendung schienen die kommunistischen Staaten spätestens seit Ende der 70er Jahre berechenbar. Die Stellvertreterkriege fanden nicht bei uns statt. Das ist der entscheidende Unterschied: Wenn der Dialog zur Koexistenz zwischen dem Islam und dem Westen scheitert, treten die hieraus resultierenden Konflikte bei uns auf. Dies gilt es zu vermeiden.
Meine Hochachtung, Herr Keuschig, für diese hervorragend geschriebene Analyse der politischen Großwetterlage. „Leider“ finde ich keinen Ansatz zur Kritik, da ich mit Ihrer Sicht der Dinge weitestgehend übereinstimme. Bleibt mir also nur, Ihnen viele Leser zu wünschen.
Nochmals: Hervorragend!
Kopf-an-Kopfrennen
Ich würde mich noch nicht festlegen, wer in den nächsten 50 Jahren den größten Einfluss auf die Weltpolitik haben wird, China oder die Islamisten. Sprich, wer für die größere Zahl an Toten verantwortlich zeichnen wird. Chinas Mauertaktik haben wir schließlich zu verdanken, dass es H5N1 jetzt geschafft hat, in Europa Fuß zu fassen. Den ersten Ausbruch 1997 in Hongkong hatte man ja noch in den Griff bekommen.
China ist aus westlicher Sicht leichter ausrechenbar, weil es ein Staat ist, mit einigen damit uns gut bekannten Problemen. Die chinesische Expansion wird irgendwann von selbst zum Stillstand kommen, wenn die jetzt von ihnen ignorierten Probleme groß genug geworden sind, z.B. die Umweltsünden oder der Drang der eigenen Bevölkerung nach Mitsprache. Dann bekommen sie spätestens um 2050 gewaltigen Ärger mit der Demografie, weil sie mit ihrer Ein-Kind-Politik eine noch schrecklichere Alterspyramide produzieren als wir.
Unser Problem mit dem Islamismus ist, dass er sich nicht geografisch eingrenzen lässt. Muslime gibt es überall. Und auch ihre Ideologie ist fließend von gemäßigten, fast säkularen Positionen bis zu einem mittelalterlichen Dogmatismus. Auch deshalb ist die »Medizin« des Herrn Bush so fatal. Er versucht eine geografische Lösung, indem er Krieg gegen Länder führt. Er provoziert damit aber nur die weitere Diversifizierung der entsprechenden Ideologie.
China
Ich glaube, dass China irgendwann einmal implodieren wird. Bereits jetzt wächst die Zahl der unzufriedenen »Wanderarbeiter«; die Klassenunterschiede nehmen dramatisch zu. Vom Wirtschaftsboom profitieren nicht alle. Religiöse Ethnien müssen schon lokal unterdrückt werden; der Islam tritt in einigen Provinzen selbstbewusst auf. Die Geschichte zeigt, dass solche Veränderungen in China immer recht blutig verlaufen sind.
Dann bricht u. U. das gesamte Weltwirtschaftssystem zusammen, da sehr viele multinationale Konzerne ihre Produktionen inzwischen grössenteils in China stehen haben oder dort Joint-Ventures betreiben (mindestens ist mir dies von der chemischen Industrie bekannt).
Die islamischen Länder sind viel zu heterogen, um als »geballte Macht« auftreten zu können. Europa wird grosse Probleme mit Migrantenströmen bekommen, wenn Länder wie Marokko oder Ägypten »entsäkularisiert« werden; auch der Libanon ist instabil. Das bevölkerungsmässig grösste islamische Land ist Indonesien.
Ergänzung – Francis Fukuyamas neue Thesen...
findet man hier.
Die Diagnose teile ich – die Ratschläge finde ich teilweise ein wenig hölzern.
Ich bin auch nicht sicher, ob die Integrationsleistungen in den USA so vorbildhaft sind, wie Fukuyama diese ausmacht. Das amerikanische Nationalgefühl als Vorbild darzustellen, ist in Europa und speziell in Deutschland schwerlich möglich und auch kaum anzustreben.